Gemünden/Wohra (Hessen)

Der Landkreis Frankenberg 1905 Datei:Gemünden (Wohra) in KB.svg Gemünden (Wohra) ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 4.000 Einwohnern im südlichen Teil des hessischen Landkreises Waldeck-Frankenberg – ca. 30 Kilometer nordöstlich von Marburg (Ausschnitt aus hist. Landkarte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und Kartenskizze 'Landkreis Waldeck-Frankenberg', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

Gemünde (Merian).jpg

Gemünden – Stich von M.Merian, um 1665 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)

 

Erste Hinweise auf Juden in Gemünden lassen sich in Gerichtsprotokollen von 1537 und 1571 finden; ob zu diesem Zeitpunkt bereits eine jüdische Besiedelung in Gemünden bestand, kann aber nur gemutmaßt werden. Im 17. und 18.Jahrhundert hielten sich nur wenige Familien dauerhaft in Gemünden auf.

Ihre Synagoge in der Untergasse errichtete die israelitische Gemeinschaft im Jahre 1823. Eine jüdische Elementarschule existierte seit den 1840er Jahren; sie wurde auch von den Kindern aus Dodenhausen, Grüsen und Schiffelbach besucht. Seit ca. 1890 besaß die Gemeinde ein eigenes Schulgebäude am Aumühlsweg; die jüdische Schule bestand bis Mitte 1933. Noch ein Jahr zuvor hatte die jüdische Gemeinde für ihren verstorbenen Lehrer einen Nachfolger gesucht.

                    Anzeige aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 28.1.1932

Ihre verstorbenen Angehörigen beerdigte die Gemeinde auf einem Areal, das in der Feldmark zwischen Gemünden und Rosenthal lag; die ältesten lesbaren Grabsteine stammen aus den 1820er Jahren. Zuvor war von den einheimischen Juden ein Begräbnisplatz auf dem Gut der Adelsfamilie von Knobloch genutzt worden.

Zur jüdischen Gemeinde zählten bis 1885 auch die in Grüsen lebenden jüdischen Familien; danach bildeten diese eine eigenständige Gemeinde. Auch die vereinzelt in Dodenhausen und Schiffelbach ansässigen Juden gehörten zur Gemündener Kultusgemeinde, die dem Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Marburg unterstellt war.

Juden in Gemünden/Wohra:

         --- um 1725 ......................   4 jüdische Familien,

    --- 1812 .........................   8     “       “    ,

    --- 1835 .........................  36 Juden,

    --- 1861 .........................  72   “  (in 10 Familien),

    --- 1871 .........................  70   “  (ca. 5% d. Bevölk.),

    --- 1885 .........................  87   “  (ca. 7% d. Bevölk.),

    --- 1893 ..................... ca. 120   “  ,*     * gesamte Kultusgemeinde

    --- 1905 .........................  71   “  ,

    --- 1933 .........................  44   “  ,

    --- 1939 .........................  11   “  .

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 247

 

Die jüdischen Familien bestritten ihren Lebensunterhalt vor allem vom Handel mit Vieh und Ellenwaren; in früheren Zeiten gehörte auch der Handel mit Pottasche und Teer zu ihrem Metier. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eröffneten mehrere Juden offene Läden und Handlungen im Ort. Innerhalb der kleinstädtischen Gesellschaft hatten sich die Juden im Laufe des 19.Jahrhunderts einen gleichberechtigten Platz erworben. Über viele Generationen hinweg lässt sich die Geschichte der Familie Andorn zurückverfolgen, die in Gemünden in einem der ältesten Fachwerkhäuser Hessens, im Steinweg 25, zuhause war. Dieses Stammhaus der Familie Andorn bildete den kulturellen Mittelpunkt der kleinen jüdischen Gemeinschaft.

Nach der NS-Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation der noch hier lebenden Familien derart, dass sie in den folgenden Jahren abwanderten. Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge zerstört und danach vollständig abgerissen. Bei Kriegsbeginn lebten nur noch vier Familien am Ort. Die letzten jüdischen Einwohner wurden 1942/1943 aus Gemünden deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden 36 gebürtige bzw. längere Zeit in Gemünden ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gemuenden_wohra_synagoge.htm).

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20252/Gemuenden%20Wohra%20Friedhof%20503.jpg https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20252/Gemuenden%20Wohra%20Friedhof%20483.jpg

Teilansichten des jüdischen Friedhofs in Gmünden (Aufn. J. Hahn, 2011)

 Am Eingang zum jüdischen Friedhof informiert eine Tafel mit dem folgenden Text:

Nach den Gerichts- bzw. Salbüchern Gemündens mußten Juden bereits im 16. Jahrhundert für ihr Wohnrecht 'Schutzgelder' bezahlen. Sie betrugen ein Vielfaches der Steuerlast, die nichtjüdische Bürger zu zahlen hatten. Juden hatten mit dem Status von 'Beisassen' nur ein eingeschränktes, sog. 'kleines' Bürgerrecht.  Um 1823 wurde eine Synagoge gebaut, die 1938 zerstört wurde. 25 Jahre später wird auch eine jüdische Schule erwähnt. 1889 umfaßte die Gemündener jüdische Gemeinde 17 Familien mit insgesamt 70 Personen; 1933 waren es noch 44 jüdische Einwohner. Vertreibungen und Deportationen im Dritten Reich sind nicht mehr nachvollziehbar. Belegt ist, daß Israel Hirsch mit seiner Tochter Berta und Enkelin Ilse 1939 nach Frankfurt zogen - später wurden sie alle drei ermordet. Zahlreiche Grabsteine, die weit in die Zeit vor 1800 zurückweisen, bezeugen eine rege jüdische Gemeinde. Die letzte Bestattung fand 1936 statt. 

 

 

 

Im heutigen Ortsteil Grüsen, nördlich von Gemünden gelegen, sind jüdische Bewohner seit dem 18.Jahrhundert bezeugt. Sie gehörten zunächst zur Gemündener Gemeinde. Anfang der 1880er Jahre spalteten sie sich von Gemünd ab und bildeten seither eine eigenständige Kultusgemeinde.

In Grüsen bestand in den 1930er Jahren der „Kibbuz Hagschamah“, der - unter Betreuung des Palästinaamtes - junge Juden eine landwirtschaftliche Grundausbildung angedeihen ließ. 

[vgl. Grüsen (Hessen)]

 

 

 

Im wenige Kilometer westlichen gelegenen Rosenthal fanden Juden erstmals um 1605 Erwähnung; im 18.Jahrhundert lebten einige Familien im Dorf. Ihren Höchststand erreichte die orthodox-orientierte Gemeinde um 1850/1860, als hier bis zu 20 Familien ansässig waren; neben Händlern und Kaufleuten gab es auch einige, die ein Handwerk betrieben. Nach 1860/1870 eröffneten mehrere Läden und Handlungen am Ort. Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählte eine Synagoge, eine Religionsschule und eine Mikwe. Der Betraum war 1856/1857 in einem umgebauten Gebäude eingerichtet worden, nachdem zuvor ein angemieteter Raum in einem Privathaus zu Gottesdiensten genutzt worden war.

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20240/Rosenthal%20Israelit%2011071901.jpg aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 11.Juli 1901

Ihre Toten begrub die Gemeinde auf dem jüdischen Friedhof in Gemünden.

Die Gemeinde gehörte zum Rabbinatsbezirk Oberhessen mit Sitz in Marburg.

Juden in Rosenthal:

    --- 1812 ........................   7 jüdische Familien,

    --- 1835 ........................  45 Juden,

    --- 1861 ........................  63   “  (ca. 5% d. Bevölk.),

    --- 1871 ........................  43   “  ,

    --- 1885 ........................  59   “  ,

    --- 1895 ........................  55   “  ,

    --- 1905 ........................  38   “  ,

    --- 1924 ........................  34   “  ,

    --- 1933 ........................  27   “  ,

    --- 1942 ........................  keine.

Angaben aus: Rosenthal, in: alemannia-judaica.de

Von den Anfang der 1930er Jahre in Rosenthal lebenden 30 jüdischen Personen verließ ein Teil in den folgenden Jahren seinen Heimatort – zumeist in Richtung Frankfurt/M. Im Frühjahr 1938 löste sich die Gemeinde völlig auf. Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Inneneinrichtung der Synagoge zerstört. Die letzten jüdischen Einwohner wurden 1941/1942 von hier aus deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem sind 24 gebürtige jüdische Bewohner aus Rosenthal Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/rosenthal_synagoge.htm).

Eine unscheinbare Tafel am Gebäude des früheren Synagogengebäudes gibt Auskunft: „Die ehemalige Synagoge von 1850-1933 im Besitz der israelitischen Gemeinde“.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 247/248 (Gemünden) und Bd. 2, S. 232/233 (Rosenthal)

Eva Nimmert, Zum Gedenken an Meier Andorn 1872 - 1943, in: www.hagalil.com/deutschland/west/hattingen.htm

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen II Regierungsbezirke Gießen und Kassel, 1995, S. 216 (Gemünden) und S. 220 (Rosenthal)

Herausragende Persönlichkeiten der Familie Andorn, in: "Frankenberger Heimatkalender", 17.Jg., Korbach/ Bad Wildungen 1999, S. 123 - 131

Juden und jüdische Gemeinde, in: Auszüge der Ortschronik, S. 236 – 241

Gemünden an der Wohra mit Schiffelbach u. Dodenhausen, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Rosenthal, in: alemannia-judaica.de (mit einigen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Horst Hecker, Der jüdische Friedhof von Gemünden, in: "Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde", Band 116/2011, S. 65 - 70

Horst Hecker, Aus der Geschichte des jüdischen Schulwesens in Rosenthal, in: "Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde", Band 116/2011, S. 197 - 206

Der jüdische Friedhof in Gemünden/Wohra, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Aufnahmen)

Arbeitskreis Jüdisches Leben in Waldeck-Frankenberg (Hrg.), Erinnerung an jüdisches Leben in Waldeck-Frankenberg, online abrufbar unter: synagoge-voehl.de/images/pdf/brosch_lk/Judische_Orte_im_Landkreis_Doppelseiten.pdf (Gemünden-Wohra, S. 42 f.)