Heiligenstadt/Eichsfeld (Thüringen)

Datei:Thuringia EIC.svg Eichsfeld Karte     (Bad) Heiligenstadt ist heute Kreisstadt des Landkreises Eichsfeld in Thüringen mit derzeit ca. 17.000 Einwohnern; die Stadt liegt südöstlich von Göttingen (Kartenskizzen 'Thüringen' mit Landkreis Eichsfeld rot markiert  und  'Landkreis Eichsfeld', aus: ortsdienst.de/thueringen/eichsfeld).

 

Bereits zu Beginn des 13.Jahrhunderts sollen Juden in Heiligenstadt gelebt haben; doch wie fast überall in Thüringen wurden sie vermutlich im Zusammenhang der Pestpogrome von 1348/1349 aus dem Orte vertrieben. Am Jüdenhof und in der Schlaggasse befanden sich damals der jüdische Friedhof bzw. die Wohnhäuser der Juden Heiligenstadts. Unter ihrem Schutzherrn, dem Mainzer Erzbischof, durften sich jüdische Familien um 1470 wieder ansiedeln; etwa ein Jahrhundert später erfolgte eine Vertreibung aller Juden aus dem Eichsfeld, so auch aus Heiligenstadt.

"Abriß der HauptStatt des Eychsfeldes Heiligenstatt", Merian-Stich um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Zu welchem Zeitpunkt sich erneut Juden in Heiligenstadt niedergelassen haben, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Als sicher gilt, dass der Erzbischof von Mainz 1796 eine Genehmigung für die Ansiedlung von fünf jüdischen Familien im Eichsfeld erteilt hatte; der Magistrat Heiligenstadts erhob dagegen Protest. Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts lebten knapp 80 Bürger jüdischen Glaubens im Ort.

Heiligenstadt um 1840 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Nachdem zunächst Gottesdienste in angemieteten Räumen abgehalten wurden, erwarb die etwa 80 Angehörige zählende Gemeinde im Jahre 1870 ein Haus in der Stubenstraße und baute es zu einer Synagoge um, die im September 1873 eingeweiht wurde; für einen Synagogenneubau hatten der Judenschaft die finanziellen Mittel gefehlt.

                                                 Gebäude der ehem. Synagoge (Aufn. um 1995, aus: meinestadt.de)

Auch über eine kleine Schule verfügte die jüdische Gemeinde; der hiesige Lehrer war zugleich als Vorbeter und Schächter tätig.

Eine jüdische Begräbnisstätte - an der Ibergstraße/Ecke Schillerstraße - wurde um 1820 angelegt.

Juden in Heiligenstadt:

        --- 1803 .............................    6 Juden,

--- um 1820 ....................... ca.  50   “  ,

--- um 1850 ....................... ca.  75   “  ,

    --- 1871 ..............................  91   “  ,          

    --- 1882 .............................. 107   “  ,

    --- 1910 ..............................  54   “  ,

    --- um 1925 ....................... ca.  40   “  ,

    --- 1930 ..............................  34   “  ,

    --- 1938 ..............................  32   “  ,

    --- 1940 ..............................  14   “  ,

    --- 1942 (Dez.) .......................  keine.

Angaben aus: Carsten Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen und Nordthüringen, S. 115

 

Gegen Ende des 19.Jahrhunderts wanderten zahlreiche Juden Heiligenstadts in die Stadt- und Industrieregionen ab, und die Gemeinde wurde deutlich kleiner.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20358/Heiligenstadt%20AZJ%2029101861.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20358/Heiligenstadt%20AZJ%2003121861.jpg

  Geschäftsanzeigen von 1861/1874/1885

Bekannte jüdische Gewerbebetriebe bzw. Unternehmen in Heiligenstadt waren um 1910 die Zigarrenfabrik Cahn & Co, das Bankhaus Loewenthal und das Konfektionshaus Oppenheimer.

Ak Heilbad Heiligenstadt Eichsfeld Thüringen, Untere WilhelmstraßeUntere Wilhelmstraße Postkarte, um 1920 (Aufn. aus: akpool.de) 

Zu Beginn der NS-Zeit lebten noch etwa 35 jüdische Einwohner im Ort.

Während des Novemberpogroms blieb das Synagogengebäude äußerlich unversehrt, da dessen Brandlegung die angrenzenden Gebäude stark gefährdet hätte; die Inneneinrichtung wurde aber demoliert. Acht jüdische Männer wurden verhaftet und mehrere Monate im KZ Buchenwald festgehalten. Zu Beginn des Jahres 1939 meldete der Bürgermeister an den zuständigen Landrat: „ ... Es bestehen hier also keine jüdischen Gewerbebetriebe mehr. “ 1940 wurde das Synagogengebäude zwangsverkauft und fortan zu Wohnzwecken benutzt.

Ende 1941 wurden alle noch in Heiligenstadt verbliebenen Juden zwangsweise im ehemaligen Zechenhaus des Kalischachtes „Felsenfest“ in Hüpstedt untergebracht; von hier begannen im Juni bzw. September 1942 die Deportationen nach Lublin bzw. Theresienstadt.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 35 aus Heiligenstadt stammende bzw. hier längere Zeit hier ansässig gewesene Juden Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/heiligenstadt_thuer_synagoge.htm).

Nur eine deportierte Jüdin kehrte nach Heiligenstadt zurück, wo sie 1947 verstarb.

 

Nach Kriegsende lebten im Landkreis Heiligenstadt keine Juden mehr.

In der Stubenstraße erinnert eine Gedenktafel am Gebäude der ehemaligen Synagoge an deren einstige Nutzung:

Ehemalige Synagoge

Am 10.9.1873 geweiht       Am 9.11.1938 geschändet

Ehrendes Gedenken

den vom Faschismus vertriebenen und ermordeten jüdischen Bürgern.

Wegen des Baues einer Einkaufspassage wurde das ehemalige Synagogengebäude 2011 mit Zustimmung der Denkmalsbehörde und der Stadtverwaltung des Heilbades Heiligenstadt abgerissen.

Der mitten im Stadtgebiet liegende jüdische Friedhof weist heute noch ca. 75 Grabstätten auf; das älteste Grab datiert von 1829.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20295/Heiligenstadt%20Friedhof%20152.jpgJüdischer Friedhof in Heiligenstadt (Aufn. J. Hahn, 2011)

 

An die jüdische Geschichte der Stadt erinnert eine Straße namens „Am Jüdenhof“.

2007 wurden die ersten sog. „Stolpersteine“ in den Straßen Heiligenstadts verlegt; inzwischen sind es ca. 50 Steine (Stand 2023), die nicht nur jüdischen NS-Opfern gewidmet sind. Als symbolischer „Startstein“ wurde am Standort des ehemaligen Synagogengebäudes ein „Stolperstein“ verlegt; dieser wurde aber nach dem Abriss des Gebäudes 2011 entwendet.

undefinedundefinedundefinedundefinedundefinedverlegt für Angehörige der Fam. Wertheim, Windische Gasse (Abb. G., 2023, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

undefinedundefined in der Schillerstraße

Nach einem Beschluss des Stadtrates (2013) tragen im Neubaugebiet „Auf dem Hohen Raine“ sieben Straßen die Namen früherer Stadtbewohner jüdischen Glaubens; Benennungen sind z.B. die „Alexander-Loewenthal-Straße“ und die „Pauline-Loewenstein-Straße“.

 

Im Jahre 1837 wurde Louis Levy, der sich alsbald Ludwig Loewe nannte, in Heiligenstadt geboren. Zusammen mit seinem Bruder Isidor gründete er an verschiedenen Standorten in Berlin Fabriken, so in den 1860er Jahren eine Nähmaschinen- und Waffenfabrik; das Unternehmen entwickelte sich vor dem Ersten Weltkrieg zum größten Werkzeugmaschinenkonzern Europas. Politisch betätigte sich Ludwig Loewe für linksliberale Parteien auf verschiedenen Ebenen; seit 1878 war er Reichstagsabgeordneter. Auch in der Berliner jüdischen Gemeinde war er aktiv tätig; so gehörte er z.B. dem „Komitee zur kulturellen Förderung der Ostjuden“ an. 1886 starb Ludwig Loewe; er wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhäuser Allee beerdigt.

 

Hinweis: In Niederorschel – ca. 25 Kilometer östlich von Heiligenstadt – wurden 2018 mehrere „Stolpersteine“ verlegt, die an Angehörige der Sinti- Familie Unger erinnern. Während die Ehefrau und die fünf Kinder bei der „Zigeuner-Aktion“ in Auschwitz-Birkenau (Anfang August 1944) ermordet wurden, kam der zur Zwangsarbeit eingesetzte Anton Unger im März 1945 in Mittelbau-Dora (Nordhausen) gewaltsam ums Leben

 

Anmerkung: Im oberfränkischen Heiligenstadt existierte auch eine jüdische Gemeinde (siehe: Heiligenstadt (Bayern).

 

 

 

Weitere Informationen:

Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 540/541

Edgar Rademacher/Helmut Godehardt, Das weitere Schicksal der letzten jüdischen Bürger Heiligenstadt, in: "Eichsfelder Heimathefte", Heft 1/1982

Rolf Barthel, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinden auf dem Eichsfeld und in Mühlhausen (II), in: "Eichsfelder Heimathefte", Heft 3/1988, S. 195 - 203

Wolfgang Friese, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Heiligenstadt, in: “Eichsfelder Heimathefte”, Heft 1/1989, Worbis 1989

Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 274/275

M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 415 - 417

Carsten Liesenberg, “ Wir täuschen uns nicht über die Schwere der Zeit ...” Die Verfolgung und Vernichtung der Juden, in: D.Heiden/G.Mai (Hrg.), Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 453 f.

Carsten Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen und Nordthüringen, in: Mühlhauser Museen (Hrg.), "Mühlhauser Beiträge", Sonderheft 11/1998, S. 114 f.

Edgar Rademacher, Zwischenstation Hüpstedt. Die letzten Heiligenstädter Juden, in: "Eichsfelder Heimathefte", Heft 11/2000

Kathrin Kulle/Johanna Miekes, Zur Geschichte der Heiligenstädter Synagoge, in: "Eichsfelder Jahrbuch", Band 10/2002, S. 243 – 255

Josef Reinhold, Die Deportation der letzten Juden aus Heiligenstadt nach Belzyce und Theresienstadt, in: "Eichsfeld – Monatszeitschrift des Eichsfeldes", 11/2001, S. 422 ff.

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Band 8 Thüringen, Frankfurt/M. 2003, S. 35 - 37  

Christian Gellrich, Jüdisches Leben im Eichsfeld. Forschungsbericht zur Wiederansiedlung im 19. Jahrhundert, in: "Jahrbuch für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensgeschichte", 1/2005, S. 99 - 106

Vergessene Mitbürger – Jüdisches Leben in Heiligenstadt, in: „Tag des Herrn“ – Bistum Erfurt, 56. Jg., 9/2006

Israel Schwierz, Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation, hrg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Sömmerda 2007, S. 147 – 151

Heilbad Heiligenstadt (Eichsfeld), in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Nathalie Hünger (Red.), Heiligenstädter Synagoge ist Geschichte, in: „Thüringer Allgemeine“ vom 8.9.2011

Jürgen Backhaus (Red.), Heinz Funke (SPD): Abriss der Synagoge ist Schande für Heiligenstadt, in: „Thüringische Landeszeitung“ vom 29.9.2011

Jürgen Backhaus (Red.), Gedenkstätte ist unerlässlich. CDU-Vize Stützer zum Synagogenabriss, in: „Thüringische Landeszeitung“ vom 8.10.2011

Fabian Klaus (Red.), Stolpersteine in Heiligenstadt erinnern an Schicksale jüdischer Mitbürger, in: „Eichsfelder Tageblatt“ vom 19.3.2015

Esther Goldberg (Red.), Straßenschilder statt Stolpersteine, in: "Jüdische Allgemeine" vom 16.7.2015

Rüdiger Franke (Red.), Gunter Demnig verlegt Stolpersteine in Heiligenstadt, aus: „Göttinger Tageblatt“ vom 9.11.2015

Auflistung der verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Heilbad_Heiligenstadt

Christian Gellrich, Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Heiligenstadt im 19. und 20. Jahrhundert, Promotionsschrift Universität Erfurt, o.J.