Rastenburg (Ostpreußen)

Kreis Rastenburg – WikipediaRastenburg — Portal Ahnenspuren - Suche in OstpreußenFile:POL Kętrzyn map.svg - Wikimedia CommonsDas ostpreußische Rastenburg ist heute das in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren liegende Ketrzyn mit derzeit ca. 27.000 Einwohnern (Ausschnitt aus hist. Landkarte von 1910 mit Kreis Rastenburg, aus: wikipedia.org, gemeinfrei -  Kartenskizzen 'Rastenburg und Umgebung', Loseries 2008 und 'Polen' mit Ketrzyn rot markiert, Y. 2006, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).

 

Jüdische Familien siedelten sich in Rastenburg erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts an und gründeten bereits 1816 hier eine Gemeinde; als erste jüdische Einwohner sind im Stadtbuch von 1813 Kiewe Israel, Nathan Jontoff Löwenstein, Meyer Nathan Krohn und Zacharias Salamon Klein registriert. Um 1880 betrug die Zahl der Gemeindeangehörigen etwa 140 Personen.

Erste gottesdienstliche Zusammenkünfte fanden seit den 1820er Jahren in privaten Räumlichkeiten der jüdischen Familie Nathan Meyer Krohn statt. Mitten im Ersten Weltkrieg wurde in der Wilhelmstraße/Ecke Moltkestraße ein repräsentativer Synagogenneubau eingeweiht; dieser löste ein sechs Jahrzehnte zuvor errichtetes Gebäude auf dem Rollberg ab. Wohlhabende jüdische Familien hatten den für die Gemeinde überdimensionierten Neubau ermöglicht.

             hist. Bildpostkarte (um 1910)

 Synagoge in Rastenburg (hist. Aufn., um 1930)

Anm.: Das alte Synagogengebäude in der Rollbergstraße wurde veräußert und diente fortan den Baptisten als Versammlungsraum.

Aus der Zeit des beginnenden 19.Jahrhunderts stammt der jüdische Friedhof, der sich im Anschluss an die protestantische Begräbnisstätte befand.

Juden in Rastenburg:

    --- um 1820 .................... ca.  75 Juden,*     * im Kreisgebiet

    --- 1848 ...........................  85   “  ,

--- 1871 ........................... 118   "  ,

--- 1880 ....................... ca. 140   “  ,

--- 1895 ........................... 124   “  ,

--- 1905 ...........................  97   “  ,

         ........................... 134   “  ,*

--- 1925 ........................... 109   “  ,

    --- 1933 ........................... 117   “  ,*

    --- 1938 ...........................  62   “  ,

    --- 1939 (Mai) .....................  29   “  ,

--- 1940 ...........................  keine.

Angaben aus: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 1059

Königsberger Straße in Rastenburg, Aufn. um 1915? (aus: zvab.com)

 

Die jüdischen Familien bestimmten mit ihren Unternehmen/Geschäften ganz entscheidend das wirtschaftliche Leben in der Stadt.

Im Mai 1919 kam es in Rastenburg im Gefolge einer Kundgebung der Sozialdemokraten zu antisemitischen gewalttätigen Ausschreitungen; Geschäfte wohlhabender jüdischer Kaufleute wurden geplündert und verwüstet. In den Jahren danach waren es Angehörige des rechten Spektrum, die für antijüdische Aktivitäten in der Stadt verantwortlich zeichneten. Anfang der 1930er Jahre bestand die Rastenburger israelitische Gemeinde aus ca. 120 Angehörigen. Sie musste sich damals gegen den Vorwurf eines angeblichen Ritualmordes zur Wehr setzen. In den ersten fünf Jahren der NS-Zeit verlor die Gemeinde etwa die Hälfte ihrer Angehörigen.

Schon Monate vor der „Kristallnacht“ war das Synagogengebäude angeblich verkauft worden; trotzdem wurde es nach den gewaltsamen Exzessen des November 1938 niedergebrannt. Die Gemeinde löste sich alsbald ganz auf; der letzte jüdische Einwohner soll Ende 1939 (?) die Stadt verlassen haben. Über das weitere Schicksal der wenigen in Rastenburg verbliebenen jüdischen Bewohner ist kaum etwas bekannt. Insgesamt sollen etwa 50 aus Rastenburg stammende Juden in den NS-Vernichtungslagern ums Leben gekommen sein

Vom jüdischen Friedhof, der möglichweise während des Pogrom von 1938 zerstört worden war, gibt es keinerlei Spuren mehr. Auf dem Gelände befinden sich heute ein Depots öffentlicher Nahverkehrsmittel. Seit 2013 wird mit einer Hinweistafel auf die einstige Nutzung des Begräbnisareals verwiesen; der Text (in deutscher Übersetzung) lautet:

Hinweistafel zum Gedenken an den jüdischen Friedhof
der im 19.Jahrhundert in der Nähe des heutigen städtischen Friedhofs am Südhang gegründet wurde. Seit 1813 lebten Juden in Kętrzyn und trugen zur Entwicklung der Stadt bei. Nach den Ereignissen der „Kristallnacht“ vom 9. bis 10. November 1938 verließen die meisten von ihnen Kętrzyn. Nur wenige überlebten den Holocaust.  Ehre sei ihr gesegnetes Andenken
Einwohner von Kętrzyn
Stiftung zur Bewahrung des jüdischen Erbes 2013/5773

     Ein Fragment eines einzigen Grabsteins wird im lokalen Museum aufbewahrt (Abb. Wojciech Kętrzyn Museum ).

           Das alte Synagogengebäude am früheren Rollberg (Aufn. Hebius, 2010, aus: wikipedia.org, GFDL) hat die Zeiten fast unverändert überstanden. Im November 2012 wurde in Ketrzyn eine Gedenktafel enthüllt, die in polnischer und deutscher Sprache die folgenden Sätze trägt:

EWIGER, ich liebe deine Wohnungsstätte, den Ort, wo deine Ehre thront. Psalm 26,8

Hier stand die von den deutschen Nationalsozialisten 1938 niedergebrannte Synagoge,

der Versammlungsort der Jüdischen Gemeinde und Zentrum ihres religiösen Lebens.

                                                            Relief der Synagoge (Bildausschnitt aus der Gedenktafel) 

Aus Rastenburg stammte der Historiker Julius Aronius (geb. 1861), der nach seinem Studium in Berlin und Königsberg von der Historischen Kommission der Geschichte der Juden in Deutschland mit der Abfassung der „Geschichte der Juden im Mittelalter“ betraut worden war. Sein früher Tod (1893) verhinderte die Fertigstellung seines Werkes.

 

 

 

Im ca. 30 Kilometer östlich Rastenburgs liegenden Lötzen (poln. Gizycko, derzeit knapp 30.000 Einw.) siedelten sich 1813 wenige jüdische Familien aus Flatow an; in den folgenden Jahrzehnten entstand eine Gemeinde, die Anfang der 1870er Jahre ca. 230 Angehörige besaß, sich aber durch Abwanderung schnell wieder verkleinerte. Um 1880 (andere Angabe: in den 1860er Jahren) ließ die Gemeinde in der Boyenstraße eine Synagoge errichten; ein Friedhof war bereits bei Siedlungsbeginn angelegt worden, der nach 1860 durch ein neues Gelände ersetzt wurde.

  Synagoge in Lötzen (hist. Aufn. um 1915)

Juden in Lötzen:

    --- 1813 ......................... eine jüdische Familie,

--- 1847 .........................  32 Juden (in 10 Familien),

--- 1857 .........................  77   “  ,

--- um 1870 .................. ca. 170   “  ,*   *andere Angabe: 230 Pers.

--- 1890 ......................... 128   “  ,

--- 1895 ......................... 137   "  ,

--- 1925 ......................... 101   “  ,

--- 1933 .........................  66   “  ,

--- 1939 .........................  20   “  .

Angaben aus: Gizycko, in: sztetl.org.pl

Anfang der 1930er Jahre war die aus ca. 70 Mitgliedern bestehende Gemeinde antisemitischen Attacken ausgesetzt; vorläufiger Höhepunkt der Ausschreitungen war auch hier die „Kristallnacht“, in der die Synagoge niedergebrannt wurde. Ob die Juden, die im Frühjahr 1939 noch in Lötzen wohnten, noch rechtzeitig emigrieren und ihr Leben retten konnten, ist fraglich. Nach Schätzungen sollen ca. 50 gebürtige bzw. längere Zeit in Lötzen lebende jüdische Personen ermordet worden sein.

Aus Giżycko (Lötzen) stammte Paul Davidsohn (geb. 1871), Sohn eines jüdischen Kaufmanns; er gilt als „Vater“ der deutschen Filmindustrie. 1904 gründete er in Frankfurt/M. die „Kinematographische Gesellschaft“, die 1918 an der Gründung der Filmgesellschaft „Ufa“ beteiligt war. Davidsohn begründete 1906 in Mannheim das erste Kino-Theater in Deutschland, 1907 folgte in Berlin das erste Kino. Paul Davidsohn war Mitschöpfer verschiedener Filmprojekte; u.a. schuf er die Ateliers in Tempelhof und Neubabelsberg. Unter seiner Leitung entstanden über 200 Filme. 1927 schied er durch Selbstmord aus dem Leben.

vgl. Lötzen (Ostpreußen)

 

 

 

Im südlich von Rastenburg gelegenen Nikolaiken (poln. Mikołajki, derzeit ca. 3.800 Einw.) hatte sich eine kleine jüdische Gemeinde in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts gebildet; ihr gehörten zu keiner Zeit mehr als 80 Personen an. Die Gemeinde besaß gegen Mitte des 19.Jahrhunderts einen eigenen Friedhof weit außerhalb der Stadtgrenzen und eine Synagoge direkt am Seeufer.

 Synagoge in Nikolaiken (Skizze J. Lapo)

Über das Schicksal der etwa 45 Juden, die zu Beginn der NS-Zeit in Nikolaiken lebten, ist kaum etwas bekannt. Als sicher gilt, dass 1939 bereits keine Juden mehr im Ort lebten. Die Synagoge überstand die NS-Zeit äußerlich unversehrt; das Gebäude wurde in den 1990er Jahren abgerissen, um einem Hotelneubau Platz zu machen.  Der jahrzehntelang vernachlässigte Friedhof - die ältesten vorhandenen Steine datieren aus der Zeit um 1850 - wurde 2006 wieder in einen ansehenswerten Zustand gebracht und die Grabsteine dokumentiert (vgl. Krzysztof Bielawski , in: jewsineastprussia.de/de/cemetery-mikolajki-nikolaiken/).

Friedhof Nikolaiken (Aufn. P.Marynowski, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) 

 

 

 

In Sensburg (poln. Mragowo, derzeit ca. 22.000 Einw.) - ca. 20 Kilometer südlich von Rastenburg gelegen - gab es eine israelitische Gemeinde, die um 1870 mit etwa 170 Angehörigen ihren Höchststand erreichte. Die Wurzeln der Sensburger Gemeinde reichen bis ins beginnende 19.Jahrhundert zurück; die offizielle Gemeindegründung erfolgte im Jahre 1847; neben den Juden aus der Stadt Sensburg gehörten auch die jüdischen Familien des gleichnamigen Kreises dazu. Ein Friedhof wurde um 1820 angelegt; in den Jahren zuvor waren verstorbene in Rhein (Ryn) oder in Mühlental (Mlynowo) beerdigt worden. - Ein 1863 erstellter Synagogenbau brannte 1893 völlig nieder und wurde bereits 1895/1896 durch ein neues Gebäude ersetzt.

                                     Ehem. Synagogengebäude (Aufn. um 2005, aus: sztetl.org.pl)

Anfang der 1930er Jahre gehörten der israelitischen Gemeinde etwa 125 Angehörige an; sechs Jahre später waren es nur noch etwa 65 Personen. Kurz vor Kriegsbeginn lebten in der Stadt und im Kreis keine Juden mehr; die meisten waren in die Anonymität größerer Städte – vor allem nach Berlin – geflüchtet, da die Lebensbedingungen hier zunehmend bedrohlicher wurden. 1939 verkündeten die NS-Behörden, dass Stadt und Kreis Sensburg „judenfrei“ seien. Mindestens 50 gebürtige Sensburger Juden wurden Opfer der „Endlösung“.

Der bereits während der NS-Zeit bereits teilzerstörte Friedhof wurde kurz nach dem Krieg vollständig eingeebnet und das Gelände neu überbaut.

vgl. Sensburg (Ostpreußen)

 

 

 

In Angerburg (poln Węgorzewo, derzeit ca. 12.000 Einw.) - ca. 30 Kilometer nordöstlich von Rastenburg gelegen - bildete sich im Laufe des 19.Jahrhunderts eine kleine jüdische Gemeinde, die sich um 1870 aus ca. 60 - 70 Angehörigen zusammensetzte. Händler aus Polen, die mit Holz und Fischen handelten, waren die ersten Juden, die sich in Angerburg kurzzeitig aufhielten.

Die sich in Angerburg ansiedelnden Juden – die ersten Familien sind nach 1810/1815 belegt - stammten zumeist aus dem Grenzgebiet von Großpolen und Westpommern und handelten vor allem mit Leinen und anderen Tuchen, Schuhen und Pferden; unter ihnen gab es auch Branntweinbrenner.

Ein eigenes Synagogengebäude haben die Juden Angerburgs nie besessen; sie versammelten sich in Räumlichkeiten eines Privathauses.  Während des Ersten Weltkrieges blieb der angemietete Betraum geschlossen, weil der Prediger nicht mehr bezahlt werden konnte. Ansonsten wurde die Synagoge in Rastenburg aufgesucht.

Über das Schicksal der wenigen während der NS-Zeit in Angerburg lebenden jüdischen Einwohner ist kaum etwas bekannt; 1939 sollen in der Kleinstadt noch 16 Personen gelebt haben.

Vom einstigen jüdischen Friedhof sind heute kaum noch sichtbare Überreste vorhanden.

Aus Angerburg stammte der als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geborene Siegfried Heinrich Aronhold (geb. 1819), der sich als Mathematiker und Physiker einen Namen machte. Aronhold, der zum evangelischen Glauben konvertiert war, lehrte in Königsberg und Berlin. Noch heute finden seine mathematischen Erkenntnisse Anwendung. Er verstarb 1884 in Berlin.

vgl.  Angerburg (Ostpreußen)

 

 

 

In Rhein (poln. Ryn, derzeit ca. 3.000 Einw.) – etwa 25 Kilometer südöstlich von Rastenburg – ist ein jüdischer Friedhof (Nikolaikenstraße) nachweisbar, der vermutlich in der zweiten Hälfte des 19,.Jahrhunderts angelegt worden war. Das stark verwahrloste und verwüstete Gelände mit den wenigen Grabsteinen sollte in den 1990er Jahren eigentlich völlig eingeebnet werden, nachdem das Gelände in Besitz eines privaten Erwerbers übergegangen war. Öffentlicher Druck führte dazu, dass die vollständige Beseitigung des Friedhofs verhindert wurde; die inzwischen auf einer Mülldeponie wieder aufgefundenen Grabsteine wurden gesichert.

 

 

 

 

Weitere Informationen:

M.Brocke/M.Heitmann/H.Lordick (Hrg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Georg Olms Verlag, Hildesheim/u.a. 2000

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust, New York University Press, Washington Square, New York 2001, Vol. 1, S. 45 (Angerburg) und Vol. 2, S. 745 LÖtzen), S. 893 (Nikolaiken), S. 1059/1960 (Rastenburg) und S. 1162 (Sensburg)

Krótka Korowaj, historia gminy żydowskiej w dawnym powiecie Rastenburg/Kętrzyn, in: „Warmińsko-Mazurski Biuletyn Konserwatorski”, 3/2001, S. 230/231

Tadeusz Korowaj, Rastenburg/Kętrzyn. Przewodnik historyczny po mieście, Kętrzyn 2005

Angaben über die hier aufgeführten einzelnen Orte aus: sztetl.org.pl

Tadeusz Korowaj (Bearb.), Die Geschichte der Juden in Rastenburg, Hrg. Jews in East Prussia – History and Culture Society,online abrufbar unter. jewsineastprussia.de/de/the-history-of-the-jews-in-rastenburg/

Seweryn Szczepański (Bearb.), Friedhof Kętrzyn – Rastenburg, Hrg. Jews in East Prussia – History and Culture Society, online abrufbar unter: jewsineastprussia.de/de/cemetery-ketrzyn-rastenburg/

Krzysztof Bielawski (Bearb.), Friedhof Mikołajki – Nikolaiken, Hrg. Jews in East Prussia – History and Culture Society, online abrufbar unter: jewsineastprussia.de/de/cemetery-mikolajki-nikolaiken/

Krzysztof Bielawski (Bearb.), Friedhof Ryn – Rhein, Hrg. Jews in East Prussia – History and Culture Society, online abrufbar unter: jewsineastprussia.de/de/cemetery-ryn-rhein/