Rückingen (Hessen)

Jüdische Gemeinde - Langenselbold (Hessen) Main-Kinzig-Kreis Karte Rückingen bildet seit 1970 zusammen mit Langendiebach die neue Samtgemeinde Erlensee im Main-Kinzig-Kreis - ca. 25 Kilometer östlich von der Metropole Frankfurt am Main bzw. wenige Kilometer nordöstlich von Hanau gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von R., aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Main-Kinzig-Kreis', aus: ortsdienst.de/hessen/main-kinzig-kreis).

 

Erste urkundliche Hinweise für die Existenz jüdischer Familien in Rückingen stammen aus dem Ende des 15.Jahrhunderts; seitdem haben hier stets einige wenige jüdische Familien gelebt, die als Schutzjuden den Fürsten zu Ysenburg-Birstein unterstanden. Ihre allgemeine Lebenssituation im 18.Jahrhundert war schlecht, da ihr wirtschaftliches Tätigungsfeld stark eingeschränkt wurde; zumeist lebten sie am Rande des Existenzminimums. Die Rückinger Judenschaft verfügte anfänglich über einen kleinen Betraum am Kirchplatz; dieser soll auch von den Juden aus den beiden Dörfern Langendiebach und Rodenbach aufgesucht worden sein. Auf Betreiben des damaligen Schutzherrn wurde 1746 (oder 1747) der Synagogenraum abgerissen. Die Juden aus Langendiebach errichteten nun ihrerseits einen eigenen Betraum.

Um 1765 soll in Rückingen eine neue Synagoge errichtet worden sein. Das zuletzt genutzte Synagogengebäude wurde um 1870 erbaut und befand sich am Mühlenweg; es bot etwa 50 Mitgliedern der religiös-orthodox ausgerichteten Gemeinde Platz; dem Gebäude war eine Mikwe angeschlossen.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20240/Rueckingen%20Synagoge%20150.jpg  

Synagogengebäude am rechten Bildrand       -       Reste der Mikwe (Aufn. 1948, Geschichtsverein Erlensee)

Eine seitens der Gemeinde dotierte Lehrerstelle schien es in Rückingen nur zeitweise gegeben zu haben.

             aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 6.Okt. 1902 

Bereits ein Jahr später schien die kleine Gemeinde von der Einstellung eines eigenen Religionslehrers Abstand genommen zu haben, denn fortan sollte nun der in Langendiebach angestellte Lehrer die Aufgaben in Rückingen mitübernehmen.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20296/Langendiebach%20Israelit%2009041903.jpgAnzeige aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 9.April 1903

Verstorbene wurden auf dem kleinen jüdischen Friedhof am Ort beerdigt; dieser ist vermutlich Ende des 16./Anfang des 17.Jahrhunderts angelegt worden; hier wurden auch verstorbene Glaubensgenossen aus Langendiebach bestattet. Früher hatte der jüdische Friedhof in Frankfurt/Main als zentrales Beerdigungsgelände für Juden in der Rhein-Main-Region gedient.

Zur Gemeinde Rückingen zählten auch die Familien von Nieder-Rodenbach, deren Zahl um 1930 etwa genauso groß war wie die in Rückingen.

Die Gemeinde zählte zum Bezirksrabbinat Hanau.

Juden in Rückingen:

         --- um 1750/70 ..................... 6 - 8 jüdische Familien,

    --- 1835 ...........................  44 Juden, (+ 17 von Nieder-Rodenbach)

    --- 1861 ...........................  41   “  , (+ 13 von Nieder-Rodenbach)

    --- 1905 ...........................  36   “  , (+ 23 von Nieder-Rodenbach)

    --- 1925 ...........................  43   “  , (+ 35 von Nieder-Rodenbach)

    --- 1933 ...........................  26   “  , (+ ? von Nieder-Rodenbach)

            --- 1942 (Herbst) ..................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 237

 

   http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20304/Nieder-Rodenbach%20Israelit%2009101902.jpggewerbliche Anzeigen 1901/1902 und 1908 aus Rückingen und Nieder-Rodenbach

Die in Rückingen lebenden jüdischen Familien verdienten 1920/1930 ihren Lebensunterhalt vor allem als Metzger und Bäcker.

Beim Novemberpogrom von 1938 - hier mit zeitlicher "Verzögerung" erst am 11.November - demolierten SA-Angehörige die Inneneinrichtung des Synagogengebäudes, schleppten das zerschlagene Inventar auf eine angrenzende Wiese und verbrannten es dort. Eine Brandlegung im Gebäude unterblieb, da ein Übergreifen des Feuers auf die Nachbarhäuser befürchtet wurde. Zudem fanden Übergriffe auf jüdische Personen und deren Eigentum statt. Das Synagogengebäude blieb noch einige Jahre stehen; 1942 wurde es dem Erdboden gleichgemacht. Von den 26 zu Beginn der NS-Zeit in Rückingen lebenden Juden konnten 15 ihr Leben durch eine rechtzeitige Auswanderung retten; die übrigen wurden 1941/1942 - via Hanau/Kassel - deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 22 aus Rückingen stammende jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft; aus dem zur Rückinger Kultusgemeinde gehörenden Nieder-Rodenbach verloren 25 Juden gewaltsam ihr Leben (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/rueckingen_synagoge.htm).

 

Einzig der jüdische Friedhof in Rückingen (Römerstraße/Ecke Jakobstraße) hat die Zerstörungen überdauert; er verfügt auf einer ca. 800 m² großen Fläche über 25 Grabstätten.

Jüdischer Friedhof in Rückingen (links: Aufn. J. Hahn  -  rechts: Aufn. L., 2014, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

Seit November 1986 erinnert in Rückingen eine an der Außenmauer der Wasserburg - gegenüber der ehemaligen Synagoge - angebrachte Gedenktafel an die frühere kleine jüdische Gemeinde und ihr Gotteshaus:

                  Aufn. J. Hahn, 2010 (aus: alemannia-judaica.de)

2018 wurden zudem zwei Gedenktafeln (an der Wasserburg und Ecke Friedrich-Ebert-Str./Ringstr.) angebracht, die an deportierte/ermordete ehemalige jüdische Bewohner erinnern. Die Verlegung von sog. „Stolpersteinen“ scheiterte 2018 am Mehrheitswillen der Kommunalvertreter.

Der erste, nach 1945 amtierende Bürgermeister Rückingens, Julius Lilienfeld, hatte zusammen mit zwei Brüdern den Holocaust überlebt und war im Frühsommer 1945 aus Theresienstadt zurückgekehrt. In den folgenden Jahrzehnten engagierte sich Julius Lilienfeld sowohl in der Kommunalpolitik als auch im jüdischen Gemeindeleben der Nachkriegszeit in Hanau, Gelnhausen und Schlüchtern. Julius Lilienfeld verstarb 1976, nachdem er fünf Jahre zuvor mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden war.

 

 

Im nahen Langendiebach bestand auch eine jüdische Kultusgemeinde. [vgl. Langendiebach (Hessen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 237 f.

Geschichtsverein Erlensee e.V., Jüdisches Leben und Kultur in Langendiebach und Rückingen, in: "Erlensee gestern und heute", 6.Jg., No.8/2002, S. 4 f.

Rückingen mit Nieder-Rodenbach, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Thea Altaras, Das jüdische Rituelle Tauchbad. Synagogen in Hessen, Was geschah seit 1945?, Neuaufl. 2007, S. 340/341

Geschichte der Gemeinde Erlensee. Die Synagogen, Geschichtsverein Erlensee e.V. (online abrufbar unter: geschichtsverein-erlensee.de)

Werner Borngräber/Edwin Hirchenhain/Werner Sönning (Bearb.), „Sie lebten mitten unter uns". Aus der Geschichte der Juden aus Langendiebach und Rückingen, hrg. vom Geschichtsverein Erlensee e.V. (Hrg.), Geschichtsblätter aus Erlensee, Heft 2/2008

Die Judenverfolgung in der NS-Diktatur, in: Geschichtsverein Erlensee e.V. (Hrg.), Geschichte in Erlensee erleben, Abschnitt: Neueste Geschichte (online abrufbar unter geschichte-erlensee.de)

Reinhard Breyer (Red.), Rodenbacher SPD verhindert Rodenbacher Stolpersteine, in: „Hanauer Anzeiger“ vom 24.2.2018

Markus Sommerfeld (Red.), Gedenktafeln erinnern an ermordete jüdische Mitbürger, in: "Erlensee - aktuell", Mai 2018

Holger Weber-Stoppacher (Red.), Erlensee. Wie Langendiebach und Rückingen die Pogromnacht erlebten, in: op-online.de vom 9.11.2018