Sandersleben (Sachsen-Anhalt)

Datei:Arnstein in MSH.svg Sandersleben ist mit derzeit ca. 2.000 Einwohnern ein Ortsteil der 2010 neu gebildeten Stadt Arnstein im Landkreis Mansfeld-Südharz – wenige Kilometer südöstlich von Aschersleben bzw. ca. 35 Kilometer nordwestlich von Halle/Saale gelegen (hist. Karte von Anhalt von 1897, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und  Kartenskizze 'Landkreis Mansfeld-Südharz', TUBS 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

In den Jahrzehnten um die Wende zum 19.Jahrhundert besaß die hiesige israelitische Gemeinde im Laufe ihres Bestehens die meisten Angehörigen; der jüdische Bevölkerungsteil in Sandersleben machte damals mehr als 10% aus.

In der Kleinstadt Sandersleben im Mansfelder Land waren seit Ende des 17.Jahrhunderts Juden beheimatet; so wird im Protokollbuch des Rates ein Jude namens Isaac Hirsch aufgeführt. Damit war Sandersleben nach Dessau die erste Stadt im Fürstentum, die zu dieser Zeit „Schutzjuden“ in ihren Mauern duldete. Die jüdischen Familien durften Grundstücke und Häuser besitzen, waren aber - wie überall - vom Handwerk und der Landwirtschaft ausgeschlossen, so dass sie ihren Lebensunterhalt im Handel - vor allem mit Wolle und Getreide -, einige auch im Geldverleih bestritten.

Eine Synagoge muss um 1745 entstanden sein. Als das Gebäude von den Behörden als baufällig erklärt worden war, hielt die Gemeinde ihre gottesdienstlichen Zusammenkünfte in Privaträumen ab. Im Dezember 1830 konnte die Judenschaft Sanderslebens an der Ecke Kanalstraße/Kiethof ihr neues Synagogengebäude einweihen. Es bot - mit einer Empore versehen - mehr als 150 Personen Platz. Der Landesherr, Herzog Leopold Friedrich von Anhalt-Dessau (1794-1871), hatte mit einem Geldgeschenk von 800 Talern zur Finanzierung des Baues wesentlich beigetragen. Zur Einweihungsfeier erklangen deutsche und jüdische Lieder - ein Zeichen dafür, dass sich die Gemeinde zum reformierten Ritus bekannte. Gegenüber der Synagoge errichtete man die neue jüdische Schule, die bis 1918 bestanden hat; bereits gegen Mitte des 18.Jahrhunderts ist in Sandersleben eine israelitische Schule nachweisbar.

Wohl um 1730 wurde in Sandersleben der „alte“ jüdische Friedhof nahe der Bergstraße angelegt; 1852 stellte der Herzog Leopold Friedrich von Anhalt für die Anlage einer neuen Begräbnisstätte ein kleines Areal (an der Salzsteinbreite) zur Verfügung.

Bis 1849 gehörte die Judenschaft von Sandersleben zur jüdischen Gemeinde Dessau.

Juden in Sandersleben:

         --- 1753 ............................  33 jüdische Familien,

    --- 1760 ........................ ca. 200 Juden,

    --- 1770 ............................ 170    "  (ca. 10% d. Bevölk.),

    --- 1780 ............................ 180   "  ,

    --- 1807 ............................ 178   “  ,

    --- 1818 ............................ 142   “  ,

    --- 1833 ............................ 146   "  ,

    --- 1855 ............................  92   “  ,

    --- 1885 ............................  42   “  ,

    --- 1905 ............................  24   “  ,

    --- 1910 ............................  22   “  ,

    --- 1925 ............................   8   “  ,

    --- 1932/33 .........................   9   “  ,

    --- 1938 (Nov.) .....................   2   “  ,

    --- 1939 (März) .....................   keine.

Angaben aus: Geschichte jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt - Versuch einer Erinnerung, S. 226/227

und                 Dorothee Schmitt (Bearb.), Sandersleben, aus: Jüdisches Leben in Anhalt, S. 145

 

Am wirtschaftlichen Aufschwung in Sandersleben im 18. Jahrhundert - die Kleinstadt wurde damals „Klein-Leipzig“ genannt - hatten jüdische Familien einen wesentlichen Anteil. Um 1795 erreichte ihr Anteil an der kleinstädtischen Bevölkerung immerhin ca. 10%. Der dann ab ca. 1830 sich abzeichnende Rückgang der jüdischen Einwohner von Sandersleben mag mit der Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation verbunden gewesen sein; denn mit dem Einzug der industriellen Entwicklung waren ihnen die traditionellen Erwerbsmöglichkeiten entzogen worden; so verließen zahlreiche jüdische Familien ihre Wohnsitze in Sandersleben und verzogen in die nahen Wirtschaftszentren - so nach Halle, Leipzig oder Magdeburg.

                     Annonce des Warenhauses Goldstein (um 1895)

         Ansichtskarte / Postkarte Sandersleben in Anhalt, | akpool.de hist. Ansichtskarte, um 1900 (Abb. aus: akpool.de)

 

In den beiden Jahrzehnten vor der NS-Herrschaft lebten in Sandersleben nur noch einzelne jüdische Bürger. Die inzwischen verarmte Gemeinde war nun nicht mehr in der Lage, einen Kantor zu bezahlen und die gemeindlichen Einrichtungen in Stand zu halten; nur dank von Spendengeldern konnte das baufällige Synagogengebäude 1933 noch einmal renoviert werden. Nur an hohen Feiertagen waren in Sandersleben - mit Unterstützung von Nachbargemeinden - noch Gottesdienste in traditioneller Weise durchgeführt worden.

Die wenigen jüdischen Einwohner Sanderslebens waren bereits Wochen nach der NS-Machtübernahme von ersten Repressalien betroffen. Am 1.April 1933 hatten SA- und SS-Angehörige die Schaufenster von zwei jüdischen Geschäften des Ortes mit antijüdischen Parolen beschmiert und hinderten Kaufwillige am Betreten der Läden; dabei soll es zu Rangeleien gekommen sein. In den Folgejahren nahmen die „Belästigungen“ der jüdischen Einwohner weiter zu; so sollen aufgehetzte Schüler des öfteren Juden auf offener Straße mit Steinen beworfen und verunglimpft haben.

Während der Pogromnacht wurde die Synagoge in der Kanalstraße, deren Außenfront im Jahre 1935 noch renoviert worden war, in Brand gesteckt und fast völlig zerstört. Die Feuerwehr durfte nicht löschen, so dass das Gebäude völlig ausbrannte. Später wurde die Ruine dem Erdboden gleichgemacht; sogar die Fundamente ließ man dann ausgraben.  (Anm.: Anders als in den allermeisten Orten vollzog sich in Sandersleben das Zerstörungswerk nicht unter den Augen organisierter Massenaufläufe, sondern verlief „in aller Stille“ ab.)                      

Den Ablauf der „Aktionen“ in Sandersleben teilte der Bürgermeister seiner vorgesetzten Dienststelle wie folgt mit:

„ ... Gemäß der mündlichen Besprechung mit dem Herrn Landrat heute morgen beim Brand der jüdischen Synagoge erstatte ich folgenden Bericht. Die beiden jüdischen Einwohner, das Ehepaar Adler, waren ... in Schutzhaft genommen, ... war ihnen anheim gestellt worden, Sandersleben zu verlassen. Sie haben angegeben, daß sie zu ihren Verwandten nach Blumentahl wollten. Sie sind 18.20 Uhr von hier abgefahren unter Lösung einer Fahrkarte nach Bremen. Die Inneneinrichtung der jüdischen Synagoge ist in den Morgenstunden des 10.November 1938 von unbekannten Tätern zerstört worden. ... ein Brand ... hat ... die Synagoge soweit zerstört, daß nur noch die Umfassungsmauern stehen. Die Feuerwehr ist sofort alarmiert und hatte vollauf zu tun, die Nachbargebäude zu schützen und auch nach Möglichkeit, den Brand selbst zu bekämpfen. ... Die in dem jüdischen Gewerbebetrieb Adler befindlichen Warenvorräte habe ich sichergestellt und im Rathause ordnungsgemäß verpackt untergebracht. ... Die Wohnung und das Geschäft des Adlers sind versiegelt. “

      

Synagogengebäude nach dem Pogrom (hist. Aufn., Stadtmuseum/-archiv Sandersleben)

Nachdem die letzte jüdische Familie endgültig die Stadt verlassen hatte (1939), galt auch Sandersleben als „judenrein”. Eine Kurznotiz in der „Mitteldeutschen Zeitung” vom 27.2.1939 informierte: "Das letzte Jüdische Geschäft, das bis vor noch kurzer Zeit hier bestand, ist nun verschwunden. Morgen ... verlegt Frau E.M. ihr bisher in ihrem Grundstück auf dem Weinberg betriebenes Textilgeschäft in das ehemals jüdische Geschäft Sedanplatz 6. Damit ist Sandersleben frei von Juden."

Die Synagogentrümmer sollten nach Inbrandetzung alsbald abgetragen und das Grundstück neu überbaut werden. So hieß es in einem hämischen Artikel der "Mitteldeutschen Zeitung" vom 5.7.1939: " ... Gestern noch reckte sich der erst vor einigen Jahren frisch geputzte Giebel mit seiner vielsagenden Inschrift gen Himmel. Heute ist er verschwunden. Nur kurze Zeit wird es dauern, dann sind auch die letzten steinigen Überreste verschwunden. Ein schöner freier Platz wird entstehen und die anliegenden neuen Siedlungshäuser werden nicht böse sein, jetzt auch etwas von der Sonne zu haben."

Anmerkung: Wegen Mangel an Arbeitskräften wurde der endgültige Abbruch der Synagogenruine aber erst später realisiert.

 

Einziges authentisches Zeugnis der jüdischen Geschichte Sanderslebens ist heute das mit einer Mauer umgebene ca. 400 m² große Areal des (neuen) jüdischen Friedhofs an der Bergstraße mit seinen ca. 50 Grabstätten.

Datei:SanderslebenJüdischerFriedhofGräberNordmauer.jpg

jüdischer Friedhof (Aufn. P. Puschendorf, aus: stadtmuseum-sandersleben.de und  G.F., 2020, aus: wikipedia.org CC BY-SA 4.0)

Vom alten Friedhof, der bis in die erste Hälfte des 19.Jahrhunderts belegt worden war, gibt es heute keine sichtbaren Relikte mehr.

Eine Gedenkstätte für die ehemalige Synagoge Sanderslebens im Kiethof ist im Nov. 2023 - im Rahmen einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938 - eingeweiht worden; die Initiative für dieses Gedenkprojekt ist von Schüler/innen des Wilhelm und Alexander Humboldt Gymnasiums Hettstedt ausgegangen. Neben einem Gedenkstein - mittig eines in die Pflasterung erstellten Davidsterns - sind zudem drei Tafeln mit Informationen zur Synagoge und über das jüdische Leben in Sandersleben auf dem neuen Gedenkort platziert.

 

Der bekannte Talmudlehrer Joachim Heinemann (1747-1828) - genannt Rabbi Meinster - unterhielt in Sandersleben eine jüdische Privatschule mit Pension. Dessen Sohn Jeremias Heinemann (1778-1855) war später Mitglied des „Königlich Westphälischen Konsistoriums der Israeliten“ zu Kassel. Ein weiterer Sohn, der Rabbiner Carl Heinemann, rückte die jüdischen Reformbewegung in Schweden ins Licht der Öffentlichkeit.

Der in Dessau geborene Joseph Wolf (1762-1826) war Gründer der Talmudschule in Sandersleben. Er war Mitherausgeber der ersten jüdischen Zeitschrift in deutscher Sprache. Wolf soll es auch gewesen sein, der die erste Predigt in deutscher Sprache gehalten hat.

Gotthold Salomon (Abb. aus: wikipedia.org)   Die beiden, an der Dessauer jüdischen Schule unterrichtenden Lehrer, Moses Philippson (1775-1814) und Gotthold Salomon (1784-1862), stammten aus Sandersleben; letztgenannter soll zu den „eindrucksvollsten jüdischen Kanzelrednern des 19.Jahrhunderts“ gezählt haben. Spuren von Moses Philippson, der ab dem Alter von zwölf Jahren die rabbinische Hochschule in Halberstadt besuchte, führen auch nach Braunschweig, Frankfurt/M. und Bayreuth, ehe er nach Dessau kam. Philippson war auch Herausgeber einer hebräischen Zeitschrift, die in seiner Druckerei in Dessau hergestellt wurde. Dessen Sohn Ludwig (1811-1889) war ein bekannter Rabbiner (u.a. in Magdeburg) und jahrzehntelang Herausgeber der "Allgemeinen Zeitung des Judentums".

 

 

Die Kleinstadt Hettstedt beabsichtigt, in naher Zukunft sich auch am „Stolperstein“-Projekt zu beteiligen (Stand 2023).

 

 

 

Weitere Informationen:

Max Goldstein, Sandersleben, in: "Jüdisches Gemeindeblatt für Anhalt und Umgebung", 25. Ausg., Dessau 1930

Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 205

M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 591

Peter Puschendorf, Zur Geschichte der Juden in Sandersleben, in: "Mitteilungen des Vereins für Anhaltinische Landeskunde", 3/1994, S. 125 - 150

Geschichte jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt - Versuch einer Erinnerung, Hrg. Landesverband jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, Oemler-Verlag, Wernigerode, S. 225 - 229

Peter Puschendorf (Bearb.), Sandersleben, in: Jutta Dick/Marina Sassenberg (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Sachsen-Anhalt, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 1998, S. 174 - 181

Peter Puschendorf, Juden in Sandersleben: Das Ende der Gemeinde und die Zerstörung ihrer Synagoge durch die Nationalsozialisten, in: "Mitteilungen des Vereins für Anhaltinische Landeskunde", 9/2000, S. 97 - 104

Stadtmuseum Sandersleben (Red.), Orte des Gedenkens, online abrufbar unter: stadtmuseum-sandersleben.de/denkmale.htm (2001)

Peter Puschendorf, Sanderslebener Juden als Mitgestalter gesellschaftlichen Lebens, in: Anhalt, deine Juden ...- Dessauer Herbstseminar 2000 zur Geschichte der Juden in Deutschland, Hrg. Moses-Mendelssohn-Gesellschaft Dessau e.V., Heft 13/ 2002, S. 21 - 38

Peter Puschendorf, Pogromnacht. Die Synagoge sank in Schutt und Asche, in: „Mitteldeutsche Zeitung“ vom 12.11.2003

Julia Seidler, Der Hamburger Prediger Gotthold Salomon (1784–1862) und sein Wirken für das Reformjudentum - Magisterarbeit, Berlin 2004

Bernd G. Ulbrich (Bearb.), Nationalsozialismus u. Antisemitismus in Anhalt. Skizzen zu den Jahren 1932 bis 1942, edition RK, Dessau 2005

Bernd G. Ulbrich (Bearb.), Die Zerstörung der Synagogen in Anhalt, November 1938, online abrufbar unter: mendelssohn-dessau.de/wp-content/uploads/ulbrich_zerstoerung_synagogen_1938.pdf

Peter Puschendorf, Die Kaufmannsfamilie Goldstein in Sandersleben, in: "Mitteilungen des Vereins für Anhaltinische Landeskunde", Band 17/2008, S. 240 - 245

Der jüdische Friedhof in Sandersleben, in: synagoge-eisleben.de (Bilddokumentation, März 2012)

Wiebke Büchner/Heidi Reimann/Luisa Stöckel (Bearb.), Jüdisches Leben in Sandersleben/Anhalt - Schülerarbeit im Rahmen des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten (2017)

Museum Synagoge Gröbzig, Jüdisches Leben in Sandersleben (Anhalt) - Ausstellung, hrg. vom Museumsverein Gröbziger Synagoge e.V., 2020

Dorothee Schmitt (Bearb.), Sandersleben, in: D. Bungeroth/J.Killyen/W.-E.Widdel (Red.), Jüdisches Leben in Anhalt - „Suche den Frieden und jage ihm nach“ (Psalm 34, 15), Hrg. Kirchengeschichtliche Kammer der Ev. Landeskirche Anhalts, Dessau-Roßlau 2020, S. 134 - 145 (in 3.Aufl. von 2023, S. 138 -149)

Babett Gumbrecht (Red.), Gedenken. Welche Ideen es in Sandersleben für die ehemalige Synagoge gibt, in: „Mitteldeutsche Zeitung“ vom 3.5.2022

Tina Edler (Red.), Pläne für Gedenkstätte der ehemalige Synagoge in Sandersleben schreiten voran, in: „Mitteldeutsche Zeitung“ vom 11.7.2023

Katja Schmidtke (Red.), Gedenken. Vergangenheit verpflichtet, in: meine-kirchenzeitung.de vom 10.9.2023

Tina Edler (Red.), Gedenkstätte für die ehemalige Synagoge im Kiethof in Sandersleben so gut wie fertig, in: „Mitteldeutsche Zeitung“ vom 26.10.2023

Tina Edler (Red.), Gedenkstätte am Standort der ehemaligen Synagoge in Sandersleben eingeweiht, in: „Mitteldeutsche Zeitung“ vom 10.11.2023