Urspringen (Unterfranken/Bayern)

Die beiden Partnerregionen  Datei:Urspringen in MSP.svg Urspringen ist eine kleine Kommune mit derzeit ca. 1.300 Einwohnern im unterfränkischen Landkreis Main-Spessart und Mitglied der Verwaltungsgemeinschaft Marktheidenfeld – ca. 30 Kilometer nordwestlich von Würzburg gelegen (Kartenskizzen von Unterfranken, aus: bezirk-unterfranken.de  und  vom 'Landkreis Main-Spessart', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

In Urspringen existierte im 19.Jahrhundert die größte jüdische Gemeinde im ehemaligen Kreis Marktheidenfeld.

Schon ab Mitte des 16.Jahrhunderts Krieg sollen sich vereinzelt jüdische Familien in und um Urspringen aufgehalten haben; als Schutzjuden unterstanden sie hier verschiedenen adligen Herrschaftsgeschlechtern wie den Familien v. Castell, Voite v. Rieneck, Kottwitz v. Aulenbach, v. Dalberg und v. Ingelheim, denen sie schutzgeldpflichtig waren; so hatten z.B. die Grafen von Castell den jüdischen Haushaltungen jeweils die Zahlung eines jährlichen Schutzgeldes von zwölf Gulden auferlegt; zudem war noch ein weiterer Betrag dafür fällig, dass die jüdischen Familien von Frondiensten (Hand- u. Spanndienste für die Herrschaft) freigestellt waren.

Ende des 17.Jahrhunderts bildete sich eine jüdische Gemeinde heraus, die bis zu ihrer Vernichtung 1942 ununterbrochen Bestand hatte. Mit der Bevölkerungszunahme verschlechterten sich die Lebensbedingungen vor Ort; dies galt besonders für die vom Handel lebenden jüdischen Bewohner.

Bei der Erstellung der Matrikel (1817) waren 27 jüdische Familien genannt, die bislang unter dem Schutz der Familie von Castell standen; weitere neun Familienvorstände wurden der Adelsfamilie von Ingelheim zugeschrieben. Vieh- und Kleinwarenhandel, „Mäklerei und Schmuserei“ waren damals die Haupterwerbsquellen der hiesigen Juden.

An Stelle einer unscheinbaren, vermutlich um 1700 erbauten Fachwerk-Synagoge weihte die jüdische Gemeinde 1803 in der „Judengasse“ ihren im frühklassizistischen Stil errichteten Synagogenneubau ein. Für Frauen gab es eine durch einen getrennten Eingang zu erreichende Empore; sie konnten durch ein umlaufendes Scherengitter den Gottesdienst verfolgen. Die in den 1820er Jahren neu errichtete Mikwe befand sich zunächst in der Nähe des Dorfteiches (an der Quellenstraße); später wurde sie verlegt. Mit dem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung wurde um 1830 eine eigene Elementarschule am Ort eingerichtet, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Synagoge befand; diese Schule hatte bis in die Jahre des Ersten Weltkrieges Bestand; danach gab es nur noch eine Religionsschule.

  Der jüdische Lehrer Simon Kissinger, der 1928 sein 50jähriges Dienstjubiläum beging, inmitten seiner Schüler/innen (Aufn. privat, Fam. Kissinger)

Elementarunterricht erhielten die jüdischen Kinder fortan an der allgemeinen Ortschule, zu der auch der jüdische Lehrer Kissinger gewechselt und hier bis 1929 tätig war.

 

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20148/Urspringen%20Israelit%2023081923.jpg Kurzartikel aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 23. Aug. 1923

Nach der Pensionierung von Simon Kissinger wurde die Religionslehrerstelle von der Kultusgemeinde Urspringen neu ausgeschrieben.

       Anzeige aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 13.Juni 1929

Ihre Verstorbenen begrub die Urspringer Judenschaft auf dem nahen Verbandsfriedhof in Laudenbach. 

Die Urspringer Kultusgemeinde gehörte zum Distriktrabbinat Würzburg und war streng orthodox ausgerichtet.

Juden in Urspringen:

    --- um 1655 .......................  12 ‘Schutzjuden’-Familien,

    --- 1724 ..........................  11      "            "   ,

    --- 1740 ..........................  14      “            “   ,

    --- 1791 ..........................  18      "            "   ,

    --- 1807 .......................... 148 Juden (in 33 Haushalten),

    --- 1813/16 ....................... 166   “   (ca. 17% der Dorfbev.),

    --- 1833 .......................... 224   “  ,

--- um 1840/50 ................ ca. 200   “   (ca. 21% d. Dorfbev.),

--- 1867 .......................... 213   “  ,

--- 1880 .......................... 194   “  ,

    --- 1902 .......................... 154   “  ,

    --- 1913 .......................... 111   “  ,

    --- 1920 .......................... 100   “  ,

    --- 1925 ..........................  86   “   (ca. 9% d. Dorfbev.),

    --- 1933 ..........................  78   “  ,

    --- 1938 (Okt.) ...................  65   “  ,

    --- 1942 (Jan) ................ ca.  45   “  ,

             (Dez.) ................... keine.

Angaben aus: Leonard Scherg, Jüdisches Leben im Main-Spessart-Kreis. Orte, Schauplätze, Spuren, S. 46

und                 Herbert Bald (Hrg.), Das Projekt Synagoge Urspringen, S. 15

 

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts stagnierte die Zahl der jüdischen Einwohner durch Aus- und Abwanderung (vor allem in die USA); schwere Ausschreitungen gegen jüdische Familien und ihre Anwesen (1866) hatten diesen Prozess noch beschleunigt. Auch Jahrzehnte später setzte sich der Schrumpfungsprozess deutlich fort.

Eine eher ungewöhnliche Anzeige des Würzburger Distriktrabbiners:

                        aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 10. März 1884

Zu Beginn der 1930er Jahre lebten nur noch knapp 80 Bewohner mosaischen Glaubens im Ort. Mitte der 1930er Jahre plante man von jüdischer Seite hier die Einrichtung eines Umschulungslagers für auswanderungsbereite junge Leute, die für ihr künftiges Leben in Palästina eine landwirtschaftliche Ausbildung erhalten sollten. Doch zeigten sich im Dorf erhebliche Widerstände gegen eine solche „jüdische Hochburg“. Fünf Wochen vor dem Novemberpogrom von 1938 fand in Urspringen eine „Protestveranstaltung gegen die Juden” statt, zu der sich - auf Anweisung der Ortsbürgermeisters - auch die jüdischen Bewohner des Ortes einfinden mussten; im Verlauf der Veranstaltung wurde diesen offen gedroht (Fenster von jüdischen Privathäusern wurden eingeworfen), und man forderte sie zum Wegzug auf.

Während der Novembertage 1938 wurde die Inneneinrichtung der Urspringer Synagoge ausgeraubt und demoliert, das Gebäude blieb erhalten. Verantwortlich für die Zerstörungen waren SA-Angehörige aus Birkenfeld, Billingshausen und Urspringen, denen sich auch NS-Sympathisanten aus dem nahen Umland angeschlossen hatten.

Anm.: Während des Krieges diente das einstige Synagogengebäude als Gefangenenunterkunft; nach Kriegsende wurde es bis in die 1980er Jahre als Lagerhalle für die Landwirtschaft genutzt.

Auch zehn von jüdischen Familien bewohnte Häuser wurden von ortsansässigen SA-Leuten - unter Führung des Dorflehrers - verwüstet; dabei vergriffen sie sich am Eigentum der Bewohner. Mit Ausnahme älterer Menschen wurden alle Männer festgenommen; während man einen Teil nach wenigen Tagen wieder freiließ, wurden der andere ins KZ Dachau eingeliefert. Im April 1942 wurden 42 jüdische Bewohner Urspringens deportiert; über Würzburg erfolgte ihr Abtransport nach Izbica bei Lublin. Über das „Durchgangslager“ Krasniczyn führte ihr Weg in die Vernichtungslager Sobibor oder Belzec.

Die letzten vier jüdischen Bewohner Urspringens wurden noch im Laufe des gleichen Jahres verschleppt.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind ca. 90 aus Urspringen stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/urspringen_synagoge.htm).

 

Im Jahre 1948 waren vor dem Landgericht Würzburg eine Reihe von Männern wegen ihrer aktiven Beteiligung während des Novemberpogroms in Urspringen und Karbach angeklagt. Zwei von ihnen erhielten Gefängnisstrafen, sechs wurden freigesprochen und bei weiteren 13 Beschuldigten wurde das Verfahren eingestellt.

 

Das im Besitz der Kommune Urspringen befindliche ehemalige Synagogengebäude wurde mit Förderung des Freistaates Bayern und anderer Einrichtungen aufwändig saniert und dient seit 1991 als Gedenk-, Mahn- und Dokumentationsstätte. Es soll die Erinnerung an alle jüdischen Gemeinden im Landkreis Main-Spessart wachhalten und über die Schicksale der jüdischen Bewohner der Region informieren. Die Eingangstür des Synagogengebäudes wurde als Denkmal für die jüdischen NS-Opfer aus Urspringen gestaltet; sie zeigt den Leidensweg der Deportierten.

    

          Ehem. Synagogengebäude (Aufn. Förderkreis) und restaurierter Innenraum mit Aron ha-Kodesch (aus: H.Liedel/H.Dollkopf - Förderkreis)

                                        Chuppa-Stein am Synagogengebäude in Urspringen (Aufn. Förderkreis)  

Bei der Sanierung des Gebäudes entdeckte man auf dem Dachboden eine Genisa; die dort gefundenen alten Schriften sind einer Ausstellung eingegliedert, die vom 1990 gegründeten „Förderkreis Synagoge Urspringen“ betreut wird. Der gesamte Bestand des Genisafundes (Druck- und Manuskriptfragmente, Textilien u.a.) wurde dem Fränkischen Kulturmuseum Veitshöchheim zur Katalogisierung und Auswertung übergeben.

Laut einstimmigen Gemeinderatsbeschluss (2018) beteiligt sich auch Urspringen am Erinnerungsprojekt „DenkOrt Deportationen 1941-1944" in Würzburg mit der Installation eines schweren eichenen Koffers (zum Projekt siehe: Würzburg/Bayern).

  "Gepäckstück" aus Urspringen (Aufn. Volker Hemrich, aus: denkort-deportationen.de)

 

 

 

Weitere Informationen:

Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 419/420

Herbert Schultheis, Juden in Mainfranken 1933 - 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Deportationen Würzburger Juden, in: "Bad Neustädter Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde Frankens", Band 1, Verlag Max Rötter, Bad Neustadt a.d. Saale 1980, S. 394 f.

Im Land des Vergessens – Erinnerungen an jüdisches Leben in Unterfranken“, Dokumentarfilm im Auftrag des bayrischen Rundfunks, 1985

Gerhard Wilhelm Daniel Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 333/334

Gisela Krug, Die Juden in Mainfranken zu Beginn des 19.Jahrhunderts: Statistische Untersuchungen zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation, in: "Mittelfränkische Studien", Band 39/1987, Würzburg 1987, S. 19 ff.

Harm-Hinrich Brandt (Hrg.), Zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation, in: "Studien zur Geschichte der mainfränkischen Juden im 19.Jahrhundert", Band 39, Würzburg 1987

Emil Hädler/Jürgen Schönstadt, Fund der Urspringer Genisa und seine Bedeutung für die Instandsetzung der ehemaligen Synagoge, Darmstadt 1988

Heinz Scheid/Stefan Reis/u.a., “ ... auf höhere Weisung abgewandert” - Leben und Leid der Juden im Landkreis Main-Spessart, Karlstadt 1990

Martin Harth, Gedenkbuch - Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Gebiet des Landkreises Main-Spessart 1933 - 1945, hrg. vom Förderkreis Synagoge Urspringen, 1991

Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 129/130

Leonhard Scherg (Bearb.), Urspringen. Eine jüdische Gemeinde, eine Synagoge und eine Genisa. in: Falk Wiesemann (Hrg.), Genizah - Hidden Legacies of the German Village Jews  -  Genisa - Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden, Wien 1992, S. 51 - 57

Herbert Bald (Hrg.), Das Projekt Synagoge Urspringen, hrg. im Auftrag des Landkreises Main-Spessart, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1993

Leonhard Scherg/Martin Harth, Juden im Landkreis Marktheidenfeld - Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden im ehemaligen Landkreis Marktheidenfeld, Hrg. Historischer Verein Marktheidenfeld und Umgebung e.V., Marktheidenfeld 1993

Leonard Scherg, Jüdisches Leben im Main-Spessart-Kreis. Orte, Schauplätze, Spuren, Hrg. Förderkreis Synagoge Urspringen e.V., Haigerloch 2000, S. 44 - 47

Herbert Liedel/Helmut Dollhopf, Jerusalem lag in Franken. Synagogen und jüdische Friedhöfe, Echter-Verlag GmbH, Würzburg 2006, S. 140 – 147

Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 163 – 165

Hans-Peter Süss, Jüdische Archäologie im nördlichen Bayern. Franken und Oberfranken, in: "Arbeiten zur Archäologie Süddeutschlands", Band 25, Verlag Dr. Faustus Büchenbach 2010, S. 139 - 141 

Michael Schneeberger, Das Jontefsefer – die Geschichte der Juden in Urspringen, in: „Jüdisches Leben in Bayern“, No. 27/2012, S. 37 ff.

Hans Schlumberger/Hans-Christof Haas (Bearb.), Urspringen, in: W.Kraus/H.-Chr.Dittscheid/G.Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1 (Unterfranken), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2015, S. 332 - 358 

Förderkreis Synagoge Urspringen e.V. (Hrg.), Die Synagoge in Urspringen, online abrufbar unter: synagoge-urspringen.de (mit umfangreichen Informationen)

Urspringen, in: alemannia-judaica.de (Anm. mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie und zu Personen)

Gemeinderatsbeschluss zur Beteiligung am Erinnerungsprojekt “DenkOrt Aumühle”, in: “Mitteilungsblatt Urspringen” No. 4/2018

Heidi Vogel (Red.), Urspringen. Gepäckstücke erinnern an Deportation von Juden, in: “Main-Post” vom 30.3.2018

Martin Harth (Red.), Urspringen. Warum Sägekünstler Andreas Öhring einen schweren Koffer schuf, in: “Main-Post” vom 28.3.2020

Gerhard Schmitt (Red.), Jüdisches Leben in Urspringen, in: “Main-Post” vom 13.9.2021

Martin Harth (Red.), Synagoge Urspringen: Zentrale Gedenkstätte für Opfer des Holocaust, in: “Main-Post” vom 20.1.2022

Martin Harth (Red.), Die Synagoge in Urspringen, in: “Main-Post" vom 3.3.2022