Gemmingen (Baden-Württemberg)
Gemmingen mit dem Ortsteil Stebbach ist eine Kommune mit derzeit ca. 5.400 Einwohnern im Landkreis Heilbronn - ca. 15 Kilometer westlich der Kreisstadt gelegen (Kartenskizzen 'Landkreis Heilbronn' ohne Eintrag von Gemmingen, aus: ortsdienst.de/baden-wuerttemberg/landkreis-heilbronn und Lage von Gemmingen innerhalb des Landkreises, aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Historische Ansicht von Gemmingen – vermutlich 16./17. Jahrhundert (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die Zahl der Angehörigen der jüdischen Gemeinde Gemmingens ihren höchsten Stand; etwa jeder vierte Einwohner gehörte damals dem mosaischen Glauben an.
Die Entstehung einer jüdischen Gemeinde in Gemmingen reicht wahrscheinlich bis in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege zurück; vermutlich waren die Juden Gemmingens anfänglich Untertanen der Freiherrn von Gemmingen und die der Grafen von Neipperg. Urkundlich belegt ist jüdische Ansässigkeit seit der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts. Die Juden bezahlten ein jährliches Schutzgeld, ein einmaliges Aufnahmegeld und ein jährliches Entgelt für Weide und Wasser sowie Befreiung vom Botengehen; Haupterwerbszweig war der Viehhandel. Das rasche Anwachsen der Judenschaft in Gemmingen führte in den 1730/1740er Jahren zu manchen Auseinandersetzungen, die z.T. auch in Gewaltakten gegen sie eskalierten. Auch der Pfarrer trug mit seinen Klagen über die „überhand nehmende Judenschule“ und Bemerkungen wie „Gotteslästerer und Christenschänder“ nicht zur Beruhigung der Lage bei. Seitens der Gemminger Grundherrschaft wurde 1771 ein „Oberrabbiner“ eingesetzt, der das religiöse und zivile Leben der Gemeinde zu regeln hatte. Eine um 1820 erbaute Synagoge in der Schwaigerner Straße ersetzte einen seit 1727 genutzten Betsaal, da dieser den Anforderungen der größer gewordenen Kultusgemeinde nicht mehr genügte. Als in den 1880er Jahren das Synagogengebäude wegen Baufälligkeit nicht mehr benutzt werden konnte, beschloss die Gemeinde an gleicher Stelle einen Neubau zu erstellen; dieser wurde im Februar 1887 eingeweiht.
Die Zeitschrift „Der Israelit“ berichtete in ihrer Ausgabe vom 14.2.1887:
Gemmingen (Baden). Am Freitag, 4. Februar fand hier die Synagogeneinweihung in erhebender und feierlicher Weise statt. Dem Festzuge hatte sich der protestantische Geistliche und der Gemeinderath angeschlossen. Herr Rabbiner Schlesinger erwähnte in seiner gediegenen und mit vielem Beifall aufgenommenen Weiherede, daß die alte Synagoge erst vor 65 Jahren eingeweiht worden war, der Reparatur wegen aber fast ganz abgerissen werden mußte, um jetzt um so größer und schöner wieder erbaut zu werden. Der Bau der Synagoge ist in allen Theilen als gelungen zu bezeichnen.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. aus: Hundsnurscher/Taddey, um 1965)
Vor der Synagoge befand sich die 1867 erbaute jüdische Schule, die mit einer Lehrerwohnung und einer Mikwe ausgestattet war; bereits ein Jahrzehnt später wurde diese nicht mehr genutzt.
Zum 25jährigen Amtsjubiläum des Mohel (Beschneiders) Hermann Hanauer erschien die folgende Notiz in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 31.3.1893:
Über einen eigenen Friedhof verfügte die Judenschaft Gemmingens nicht; Verstorbene wurden auf den nahen Friedhöfen in Heinsheim, später vornehmlich in Eppingen beigesetzt.
Die Gemminger Juden waren nach 1827 dem Rabbinatsbezirk Sinsheim, ab 1877 dem Rabbinat Bretten zugeordnet.
Juden in Gemmingen:
--- 1664 ........................... 3 jüdische Familien,
--- um 1710 ........................ 2 " " ,
--- um 1740 ........................ 10 “ “ ,
--- um 1760 ........................ 17 “ “ ,
--- um 1810 ........................ 16 “ “ ,
--- 1825 ........................... 122 Juden,
--- 1841 ........................... 181 " ,
--- 1864 ........................... 291 “ (ca. 23% d. Bevölk.),
--- 1875 ........................... 190 “ ,
--- 1887 ........................... 203 “ (ca. 16% d. Bevölk.),
--- 1900 ........................... 157 “ ,
--- 1910 ........................... 105 " ,
--- 1925 ........................... 57 “ ,
--- 1933 ........................... 47 “ ,
--- 1939 ........................... 7 “ .
Angaben aus: F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden, S. 106
Ab Ende des 19.Jahrhunderts setzte eine starke Abwanderung jüdischer Einwohner Gemmingens in die urbanen Zentren ein, sodass sich ihre Zahl innerhalb von nur 20 Jahren auf ein Drittel reduzierte. Ihren Lebensunterhalt verdienten die jüdischen Bewohner Gemmingens zu Beginn des 20.Jahrhunderts im Viehhandel und Handel mit Agrarprodukten; einige besaßen kleine Einzelhandelsgeschäfte am Ort. 1897 begannen zwei Juden Gemmingens mit der Zigarrenproduktion.
Stellenangebot der Zigarrenfabrik A. Oppenheimer ("Frankfurter Israelitisches Familienblatt" vom 31.1.1919)
Neben der Zigarrenfabrik Oppenheimer gab es in Gemmingen bis 1905 noch die von Moses Richheimer. Ihm wurde wegen seines sozialen Engagements das Ehrenbürgerrecht der Kommune Gemmingen zu teil.
Bis 1938 hatten die hiesigen jüdischen Geschäftsleute kaum mit wirtschaftlichen Einbußen zu kämpfen; doch wenig später mussten auch sie aufgeben und wanderten ab. Bis 1938 existierten das Textilgeschäft Ludwig und Max Herz in der Schwaigerner Straße, die Viehhandlung David u. Josef Kahn, die Viehhandlung Leopold Kahn u. Moritz Manasse sowie das Lebensmittelgeschäft u. Mehl-/Getreidehandlung Samuel Ottenheimer in der Bahnhofstraße.
Während des Novemberpogroms wurde der Innenraum der Synagoge von auswärtigen SA-Angehörigen zerstört; eine Brandlegung unterblieb wegen eines nahestehenden Wohngebäudes. Das Synagogengrundstück ging wenig später in die Hände der Kommune über. Sieben Juden lebten bei Kriegsbeginn noch in Gemmingen. Sie gehörten zu den Tausenden, die Ende Oktober 1940 im Rahmen der sog. „Aktion Bürckel“ ins französische Lager Gurs abgeschoben wurden. Vermutlich sind alle deportierten Gemminger Juden ums Leben gekommen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind mindestens 50 gebürtige bzw. längere Zeit in Gemmingen wohnhaft gewesene Juden Opfer der Shoa geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gemmingen_synagoge.htm).
Der Gedenkstein, der an die Deportationen vom Oktober 1940 erinnern soll, wurde von Jugendlichen aus Gemmingen und Stebbach für das badische Mahnmalprojekt (Neckarzimmern) gestaltet. Die Eisenbahnschienen stehen dabei sinnbildlich für die Verschleppung nach Gurs, der auf ihnen ruhende zerbrochene Davidstern für die Zerstörung der jüdischen Gemeinde durch die Nationalsozialisten.
Gedenkstein (Aufn. A. Lagator, in: konradsblatt-online.de)
Im Ortsteil Stebbach bestand bis zum Ersten Weltkrieg ebenfalls eine jüdische Gemeinde, die um 1845 etwa 120 Angehörige besaß und einen Anteil von etwa 13% der Dorfbevölkerung ausmachte. Nach Auflösung der Gemeinde (um 1915) schlossen sich die wenigen Juden nun der Gemminger Kultusgemeinde an.
[vgl. Stebbach (Baden-Württemberg)]
Weitere Informationen:
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Stuttgart 1968, S. 106/107
Tony Fleck, Gemmingen 769 – 1969. 1200 Jahre Zeitgeschehen, hrg. von der Gemeinde Gemmingen, Gemmingen 1969
W.Angerbauer/H.G.Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn. Geschichte - Schicksale - Dokumente, in: "Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn", Hrg. Landkreis Heilbronn, 1986, S. 73 - 80
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 228/229
Gemmingen, in: alemannia-judaica.de (mit zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 143 - 146
Gemeinde Gemmingen (Hrg.), Die jüdische Gemeinde, in: Gemminger Ortsgeschichte, online abrufbar unter: gemmingen-ortsgeschichte.de/index_11.htm
Christiane Twiehaus, Synagogen im Großherzogtum Baden (1806-1918). Eine Untersuchung zu ihrer Rezeption in den öffentlichen Medien, in: "Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg", Heidelberg 2012, S. 35/36