Lichtenau (Baden-Württemberg)
Lichtenau mit derzeit ca. 5.000 Einwohnern ist eine Kleinstadt in der Oberrheinischen Tiefebene im Südwesten des Kreises Rastatt – westlich von Baden-Baden bzw. ca. 25 Kilometer südwestlich der Kreisstadt gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Rastatt', Hagar 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Im 19.Jahrhundert entwickelte sich Lichtenau zu einem Zentrum jüdischen Lebens im unteren Hanauer Land.
Erste Hinweise auf Existenz von Juden in Lichtenau stammen aus der Mitte des 17.Jahrhunderts. Im Laufe des folgenden Jahrhunderts ließen sich einige jüdische Familien aus der Markgrafschaft Baden-Baden im nordbadischen Lichtenau nieder.
Ein seit dem 18.Jahrhundert in einem Privathaus bestehender Betraum wurde um 1810 durch eine neue Synagoge (hinter dem „Gasthaus Linde“) ersetzt; es war ein schlichtes Gebäude mit ca. 50 Männer- und 35 Frauenplätzen. Im Jahre 1856 wurde eine neue Synagogenordnung verabschiedet.
Das Synagogengebäude soll in den 1860er Jahren dann grundlegend renoviert worden sein. 1903 wurde in unmittelbarer Nähe ein Synagogenneubau errichtet; ihm angeschlossen war eine Mikwe.
Religiös-rituelle Aufgaben der Gemeinde verrichtete ein angestellter Lehrer. Während Unterricht in den Elementarfächern die jüdischen Kinder gemeinsam mit den christlichen in der lokalen Volksschule erhielten, fand Religionsunterricht im Privathaus des jüdischen Lehrers statt.
Ausschreibung Lehrerstelle in: "Großherzogl. Badisches Anzeige-Blatt f. d. See-Kreis" vom 22.8.1855
Der Lehrer Lazarus Lehmann (geb. 1841 in Wenkheim) war über mehrere Jahrzehnte hinweg die prägende Gestalt im Leben der jüdischen Gemeinde von Lichtenau. Er kam 1862 als Religionslehrer nach Lichtenau, wurde dann nach Auflösung der Konfessionsschulen in den badischen Schuldienst übernommen und seit 1878 an der gemischten christlich-jüdischen Volksschule in Lichtenau tätig. An dieser Volksschule unterrichtete er mehr als 40 Jahre. Bis zu seinem Tod (1926) war er weiterhin Vorbeter und Schochet tätig.
Seit der Auflösung der Konfessionsschulen in Baden 1876 bestand eine christlich-jüdische Gemeinschaftsschule, in der in den folgenden Jahrzehnten auch ein jüdischer Hauptlehrer unterrichtete (siehe oben).
In der Schmiedstraße, der späteren Synagogenstraße, befand sich die 1902/1903 erbaute jüdische Schule.
Über ein eigenes Bestattungsgelände verfügte die Lichtenauer Gemeinde allerdings nicht; zunächst beerdigte man die Verstorbenen auf dem jüdischen Verbandsfriedhof in Kuppenheim, ab ca. 1830 auf dem jüdischen Friedhof in Freistett. Erst seit dem Ende des 19.Jahrhunderts fanden einige Beerdigungen auf dem städtischen Friedhof am Ort statt.
Grabstein von Simon Rosenthal* auf dem jüdischen Friedhof in Freistett
Simon Rosenthal war von 1811 bis 1862 als Lehrer, Vorbeter und Schochet in Lichtenau tätig. Er starb am 14. März 1863 und wurde in Freistett beigesetzt. Sein Grabstein ist erhalten; er trägt die Inschrift: "Hier ruht Herr Simon Rosenthal aus Lichtenau, der mit seiner Melodie dirigierte 50 Jahre lang, heiligte seine Arbeit, und im 77. Jahr seines Daseins nahm ihn Gott am 23. Adar 5623" (= 14. März 1863).
Anzeige (Gesuch) aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 7. Mai 1908
Seit Ende der 1820er Jahre gehörte die Lichtenauer Gemeinde zum Rabbinatsbezirk Bühl.
Juden in Lichtenau:
--- 1701 ......................... eine jüdische Familie,
--- 1736 ......................... 3 jüdische Familien,
--- 1778 ......................... 9 “ “ ,
--- 1790 ......................... 12 “ “ ,
--- 1825 ......................... 113 Juden (ca. 10% d. Bevölk.),
--- 1867 ......................... 214 “ ,
--- 1870/75 .................. ca. 245 “ (ca. 18% d. Bevölk.),
--- 1880 ......................... 211 " ,
--- 1887 ......................... 214 “ ,
--- 1900 ......................... 164 “ ,
--- 1905 ......................... 136 “ (ca. 12% d. Bevölk.),
--- 1910 ......................... 128 " ,
--- 1925 ......................... 109 “ ,
--- 1933 ......................... 84 “ ,
--- 1938 ......................... 48 “ ,
--- 1940 (Sept.) ............. ca. 25 “ ,
(Nov.) .................. keine.
Angaben aus: F. Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, ..., S. 179
und Lichtenau, in: alemannia-judaica.de
Zu ersten antijüdischen Ausschreitungen kam es in Lichtenau bereits im Vorfeld der badischen Revolutionswirren im Frühherbst 1848; so wurden Fensterscheiben von Juden bewohnter Häuser eingeschlagen und deren Eigentümer bedroht, diese tätlich angegriffen und misshandelt.
Die Lichtenauer Judenschaft prägte mit ihren Geschäften den Ortskern und trug darüber hinaus mit dem Handel von Vieh und landwirtschaftlichen Produkten zum wirtschaftlichen Wohlstand der Kommune bei. Bis in die 1930er Jahre bestanden eine Reihe von Handels- u. Gewerbebetrieben, die von jüdischen Familien geführt wurden, so die Manufakturwarengeschäfte von Arthur Adler, Berta Cahn, Lippmann Roos und Abraham Kaufmann (alle Hauptstraße), die Viehhandlungen Löb Cahn, Elias Roos, Michel Roos, Samuel Roos und Abraham Kaufmann (alle Hauptstraße) und weitere Viehhandlungen in der Mühlenstraße (Julius Kaufmann), in der Pfarrstraße (Leopold u. Alfred Roos und Leo Weil); zudem gab es das Schuhgeschäft Heinrich Durlacher (Hauptstr.), das Seifengeschäft Joseph Hammel (Kronenstr.), den Mehl- u, Getreidehandel Abraham Kaufmann (Mühlstr.) und Hedwig Kaufmann (Hauptstr.).
Zwei Geschäftsanzeigen
zwei Lehrstellenangebote (um 1900)
Auch am kommunal-politischen Leben Lichtenaus waren jüdische Bürger aktiv beteiligt.
Zu Beginn der NS-Herrschaft gab es in Lichtenau noch acht jüdische Viehhändler, ferner mehrere Geschäfte und zwei Handwerksbetriebe. Wenige Wochen nach der NS-Machtübernahme 1933 endete in Lichtenau das bis dahin friedliche Zusammenleben: Tätlichkeiten und Durchsuchungen jüdischer Wohnungen durch SA-Angehörige bildeten den Auftakt. Es folgte die Boykottierung der jüdischen Geschäfte, die für die hiesige jüdische Bevölkerung erhebliche wirtschaftliche Nachteile mit sich brachte. Etwa die Hälfte der Gemeindemitglieder verließ bis Kriegsbeginn den Ort und ging in die Emigration.
Der Großteil der Lichtenauer Bevölkerung verhielt sich recht reserviert gegenüber der antisemitischen NS-Propaganda; dies zeigte sich auch während der Novembertage 1938, als keine einheimischen, sondern auswärtige SA-Angehörige die Ausschreitungen in Lichtenau anzettelten. Auf eine beabsichtigte Brandlegung der Lichtenauer Synagoge wurde verzichtet, weil Nachbargebäude in Mitleidenschaft gezogen worden wären; so wurde ‚nur’ die Inneneinrichtung entweiht und zerstört. In den Morgenstunden des 10.November 1938 drangen SS-Angehörige aus Kehl in die Wohnungen jüdischer Bürger ein; Männer wurden verprügelt und mussten geschlossen zum Ortsausgang marschieren; per LKW erfolgte ihr Abtransport nach Kehl und dann von dort per Bahn ins KZ Dachau. Nach mehreren Wochen kehrten die meisten von dort zurück. Der Kaufhausbesitzer Ernst Roos wurde während der Haft auf dem SS-Schießplatz Prittelbach erschossen.
Im Rahmen der sog. „Bürckel-Aktion“ wurden im Oktober 1940 24 jüdische Männer und Frauen aus Lichtenau ins südfranzösische Gurs verschleppt; damit hörte die jüdische Gemeinde auf zu bestehen. Das Synagogengebäude wurde im Jahre 1940 abgetragen und das Gelände eingeebnet.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 33 aus Lichtenau stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene Bewohner mosaischen Glaubens Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/lichtenau_synagoge.htm).
In den 1950er Jahren erwarb die politische Gemeinde das Areal, auf dem bis 1940 die Synagoge gestanden hatte; dabei ging die Kommune die Verpflichtung ein, auf dem freien Gelände in Zukunft keine Bebauung vorzunehmen. Das ehemalige jüdische Schulhaus blieb erhalten.
1986 wurde in unmittelbarer Nähe der einstigen Synagoge ein Gedenkstein aufgestellt, der an die während der NS-Zeiut umgekommenen jüdischen Bürger Lichtenaus erinnert (Aufn. D., 2021, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0).
Im Rahmen des ökumenischen Jugendprojektes zum Gedenken an die Oktober-Deportationen badischer Juden nach Gurs/Frankreich (1940) wurde ein weiteres Mahnmal geschaffen. Der Sandsteinblock, aus dem der Lichtenauer Memorialstein herausgearbeitet wurde, war ein Geschenk der französischen Partnergemeinde Lichtenberg/Elsass. Schüler/innen der Lichtenauer Gustav-Heinemann-Schule zeichneten einen jüdischen Lebensbaum, der dann auf den Sandstein übertragen wurde (Abb. aus: mahnmal-neckarzimmern.de).
Im nahen Stollhofen - heute Ortsteil der Kommune Rheinmünster - gab es bis in die 1870er Jahre eine kleine jüdische Gemeinde, deren Entstehung bis ins beginnende 16.Jahrhundert zurückreicht; erstmalige Erwähnung von Juden im Dorf erfolten bereits um 1460. Die winzige Gemeinde zählte um 1840 ca. 40 Angehörige. Der dem Rabbinatsbezirk Bühl zugehörigen Gemeinde waren auch die wenigen jüdischen Familien aus Schwarzach angeschlossen.
Kleinanzeige von 1835 (aus: "Karlsruher Zeitung" vom 12.10.1835)
Seit 1830 gab es in Stollhofen eine Synagoge in der Herrengasse; das Gebäude wurde nach dem Wegzug der Gemeindemitglieder verkauft; die Ritualien gingen in den Besitz der Kultusgemeinde Bühl über. Die kleine Gemeinde wurde Anfang der 1870er Jahre aufgelöst. Seit 1900 lebte kein einziger Jude mehr im Ort. Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem jüdischen Friedhof in Kuppenheim beigesetzt.
Weitere Informationen:
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968, S. 179/180
Knut Schilling (Red.), Mahnmal enthüllt - Gedenken an jüdische Mitbürger", in: "Acher- und Bühler Bote" vom 14.4.1986
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 442/443
Ludwig Lauppe, Burg, Stadt und Gericht Lichtenau, 2.Aufl., Bühl 1998, S. 187 f.
Stadt Lichtenau (Hrg.), 1300 - 2000 - Stadt Lichtenau, Lichtenau 2000, S. 29 – 42
A. Rumpf/P. Götz, Jüdische Spuren in Achern, Lichtenau, Schwarzach und Stollhofen, in: Jüdisches Leben. Auf den Spuren der israelitischen Gemeinde in Bühl, "Bühler Heimatgeschichte" No. 15/2001, S. 22 - 28
Ernst Gutmann, Die jüdische Gemeinde Stollhofen-Schwarzach, in: „Die Ortenau“, No. 81/2001, S. 473 - 486
Ludwig Uibel, Die israelitische Gemeinde in Lichtenau im 19. Jahrhundert, in: „Die Ortenau“, No. 82/2002, S. 487
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 295 - 298
Lichtenau, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Stollhofen mit Schwarzach (Gemeinde Rheinmünster), in: alemannia-judaica.de