Nassau/Lahn (Rheinland-Pfalz)
Nassau/Lahn ist eine derzeit ca. 4.600 Einwohner zählende Kleinstadt im Rhein-Lahn-Kreis und gehört zur Verbandsgemeinde Bad Ems-Nassau – ca. 25 Kilometer östlich von Koblenz gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org. gemeinfrei und Kartenskizze 'Rhein-Lahn-Kreis', aus: kvplusr.de).
Nassau - Merian-Stich von 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Nachweislich lebten seit dem Dreißigjährigen Krieg einzelne jüdische Familien in Nassau, die bis 1848 unter dem Schutz der Herzöge von Nassau standen und diesen zu regelmäßigen Schutzgeldzahlungen verpflichtet waren. Auch in den umliegenden Dörfern Dausenau, Geisig und Singhofen scheinen sich seit 1650 mehrere jüdische Familien dauerhaft angesiedelt zu haben. Eine selbstständige jüdische Gemeinde existierte erst seit Mitte des 19.Jahrhunderts.
Zu gottesdienstlichen Zusammenkünften trafen sich die wenigen Juden in einem Betraum an der Ecke Spätstraße/Judengässchen; als dieser nicht mehr ausreichte, erwarb die Kultusgemeinde ein jahrhundertealtes früheres Spital in der Oberstraße, das nach Umbauten seit 1857/1858 als neuer Synagogenraum genutzt wurde; in der Folgezeit wurde es noch mehrfach um- und ausgebaut. Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten auch eine Religionsschule und ein rituelles Frauenbad.
Zur Schulsituation gibt ein Schreiben des Nassauer Amtmanns Georg Daniel Raht vom 31.8.1811 Auskunft:
„ ... Zum Unterricht der Kinder halten vermögende Juden einen besonderen Hauslehrer, oder mehrere nehmen ein gemeinschaftlichen an. Zum Unterricht in rechnen und Schreiben bedienen sich mehrere Juden des Geistlichen oder des Schulmeisters. Indessen sind bis jetzt sehr wenige Schutzjuden im hiesigen Amte, die deutsch lesen und ... nur einmal ihren Namen schreiben können, und im Ganzen ist der Unterricht der Judenkinder sehr schlecht. Überhaupt sind die Juden in dem hiesigen Amte nicht so qualifiziert, daß sie den übrigen Staatsbürgern gleichgestellt werden könnten. Nicht einer hat eine Profession erlernt und fast alle wollen sich allein von dem Viehhandel ... ernähren.”
Ein jüdischer Begräbnisplatz soll in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts in Richtung Obernhof angelegt worden sein; hier wurden auch Dausenauer Juden bestattet. Eine Chewra Kadischa erfüllte nicht nur rituelle Pflichten bei der Beerdigung, sondern nahm sich auch kranker und notleidender Gemeindeangehöriger an.
Ende des 19.Jahrhunderts hatten sich die Juden aus dem Dorfe Dausenau der Gemeinde Nassau angeschlossen.
Zunächst unterstand die Nassauer Kultusgemeinde dem Bezirksrabbinat Langenschwalbach, danach dem von Bad Ems-Weilburg.
Juden in Nassau:
--- um 1680 ........................ 3 jüdische Familien,
--- um 1700 ........................ 5 “ “ ,
--- um 1750 ........................ 3 “ “ ,
--- 1800 ........................... 4 “ “ ,
--- 1842 ........................... 27 Juden,
--- 1871 ........................... 37 “ ,
--- 1895 ........................... 50 “ ,
--- 1905 ........................... 82 “ ,
--- 1925 ........................... 71 “ ,* * andere Angabe: 82 Pers.
--- 1933 ........................... 58 “ ,
--- 1935 ........................... 55 “ ,
--- 1937/38 .................... ca. 40 “ ,
--- 1938 (Dez.) .................... 15 “ ,
--- 1939 (Febr.) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 100
Ansichtskarte um 1900 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Koscher-Restauration, Anzeige von 1872
Neben einigen Viehhändlern bestimmten bis in die 1930er Jahre hinein auch jüdische Einzelhändler das Geschäftsleben in Nassau.
Werbeanzeigen jüdischer Geschäftsleute in Nassau um 1920/1930:
Einige Monate nach der NS-Machtübernahme 1933 waren in Nassau Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte und Wohnungen zu verzeichnen. Wochen vor dem Novemberpogrom 1938 kam es in Nassau zu einem „Volksauflauf gegen die dortigen Juden”, in dessen Verlauf auch Sachen beschädigt wurden. In einem Bericht des SD Unterabschnitt Wiesbaden vom 30.9.1938 hieß es:
„ ... Am 27.9.38 gegen 21 Uhr fand in Nassau/Lahn ein Volksauflauf gegen die dort ansässigen Juden statt. Die Juden waren unter Führung des Juden Walter Rosenthal, Nassau im Hause der Juden Hofmann, Nassau versammelt. Das Haus wurde von der Bevölkerung umlagert, wobei die Fensterläden und Fensterscheiben eingeschlagen wurden. Der Jude Walter Rosenthal wurde von der Polizei zum Schutze seiner eigenen Person in Schutzhaft genommen. ...”
In den Novembertagen von 1938 wurden in Nassau die Inneneinrichtung der Synagoge, die der jüdischen Schule und Mobiliar in Privatwohnungen sämtlicher jüdischer Familien zerstört. Außer NSDAP-Mitgliedern des Ortes hatten sich an den Gewalttätigkeiten auch Angehörige des dortigen Arbeitsdienstlagers sowie eine Anzahl Schüler unter Leitung ihres Lehrers beteiligt. Nach dem Pogrom verließen innerhalb kürzester Zeit die jüdischen Bewohner ihren Wohnort und zogen zumeist in Städte innerhalb Deutschlands, vor allem nach Frankfurt/Main.
In einer Kurzmeldung des „Nassauer Anzeiger” vom 9. Januar 1939 hieß es:
Letztes Judenhaus und die letzten jüdischen Grundstücke in arischen Besitz übergegangen. Die Synagoge und das vor dieser liegende Wohnhaus sind durch Vertrag in das Eigentum der Stadt Nassau übergegangen. Mit dem Abbruch der Synagoge wird in Kürze begonnen. - Den Bemühungen des Bürgermeisters ist es gelungen, die beiden letzten Grundstücke, die sich in jüdischen Händen befanden, in arischen Besitz überzuleiten. ...
Knapp einen Monat später vermeldete die gleiche Zeitung:
Nassau ist judenfrei!
Im Laufe der vergangenen Woche hat der letzte Juden unsere Stadt verlassen. Damit ist ein Problem gelöst worden, daß der Partei schon seit der Machtübernahme als vordringlich erschien. Der Jude hat in unserer Stadt seit Jahrhunderten ein Obdach gesucht und im Laufe der letzten 70 Jahre auch gefunden. ... Desto froher wollen wir sein, daß wir die Angehörigen einer parasitären Rasse für immer los sind. Und dabei soll es bleiben !
Die genaue Zahl der jüdischen Opfer von Nassau lässt sich nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem nicht eindeutig beziffern, da die Dokumentation nur Verweise auf "Hessen-Nassau" angibt.
Fünf Jahre nach Kriegsende mussten sich mehrere, am Pogrom in Nassau Beteiligte vor der Großen Strafkammer des Landgericht Koblenz verantworten; von den sieben Angeklagten wurden fünf freigesprochen bzw. das Verfahren eingestellt, nur zwei zu Haftstrafen verurteilt. Ein angeklagter Lehrer, der seine ehemaligen Schüler an den Zerstörungen während des Pogroms hatte teilnehmen lassen, wurde 1951 freigesprochen.
Der jüdische Friedhof ist heute das einzige Zeugnis jüdischer Stadtgeschichte; auf dem älteren Teil sind kaum noch Grabsteine erhalten geblieben.
Neuerer Teil des Friedhofs und "Grabsteine ohne Grab" (beide Aufn. Warburg, 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Die Reste des Synagogengebäudes fielen 1945 Bombenangriffen zum Opfer. Die handschriftlich abgefasste Schriftrolle mit den fünf Büchern Mose befindet sich heute im australischen Melbourne. Der Hüter der Schriftrolle ist ein Nachfahre einer einst in Nassau wohnhaften jüdischen Familie.
Auf Initiative der beiden Kirchengemeinden wurde 1983 eine Gedenktafel an einem der noch vorhandenen mittelalterlichen Stadttürme mit folgender Inschrift angebracht:
Wir gedenken der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft,
insbesondere des Leidens und Sterbens unserer jüdischen Mitbürger.
Die Bürger der Stadt Nassau
Der Bürgermeister
Seit 2010 erinnern in Nassau insgesamt 19 sog. „Stolpersteine“ an ehemalige jüdische Bewohner, die während der NS-Zeit verfolgt und deportiert wurden.
in der Kirchstraße (Aufn. c. 2024, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
und in der Amts-, Bahnhof- und Kettenbrückstraße
Anm.: 2011 wurde im Ortsteil Scheuern eine "Stolperschwelle" an der Zufahrt zur Stiftung Scheuern verlegt. Die Inschrift erinnert an die mehr als 1.000 Menschen mit Beeinträchtigung oder psychischer Erkrankung, die von hier in andere "Heilanstalten" verlegt wurden, dort starben oder ermordet wurden; die meisten von ihnen wurden in Hadamar getötet.
Seit fast zehn Jahren andauernde Bestrebungen, ein Denkmal zur Erinnerung an die ehemalige Nassauer Synagoge zu schaffen, konnten schließlich Ende 2019 realisiert werden. Eine Stele erinnert nun an die ehemalige Synagoge und an die verfolgten jüdischen Bewohner. Am Fuße der Stele sind folgende Worte zu lesen: „ZUKUNFT – Wenige Schritte von hier entfernt stand, abseits der Straße, die Synagoge, die die Jüdische Kultusgemeinde Nassau am 20.September 1857 einweihen konnte. Sie wurde am 10.November 1938 verwüstet, ausgeplündert und am 2.Februar 1945 von Bomben weitgehend zerstört“
Im nahen Dausenau wird ein Jude erstmals 1655 in einer Gemeinderechnung genannt. In den folgenden Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten sind weitere, aber stets nur wenige jüdische Familien ansässig gewesen, ohne dass sich am Ort eine autonome Gemeinde bildete; denn die nur stets ca. vier bis fünf hier lebenden Familien konnten keine eigenen Minjan stellen. Eigene religiöse Einrichtungen (wie Betraum oder Friedhof) waren hier deshalb auch nicht vorhanden; so suchten die Dausenauer Familien die Synagoge in Nassau auf und nutzten auch den dortigen Friedhof. Gemeinsam mit den Nassauer Juden bildeten sie die „Israelitische Cultusgemeinde Nassau-Dausenau“.
Bis in die NS-Zeit lebten in der Folgezeit ständig nur einzelne jüdische Familien in Dausenau. Die letzte im Dorf lebende Familie war die der Eheleute Julius und Dina Stein mit ihrem Sohn.
In Seelbach – einer heute zur Verbandsgemeinde Bad Ems-Nassau zugehörigen Ortsgemeide im Rhein-Lahn-Kreis – erinnert derzeit noch ein seit gegen Ende des 19.Jahrhunderts belegter Friedhof mit vier Grabsteinen an Verstorbene jüdische Bewohner aus Seelbach. Im 18.Jahrhundert lebten wenige jüdische Familien im Ort; sie gehörten der jüdischen Gemeinde in Kördorf (Rabbinatsbezirk Ems an. Zu Beginn der NS-Zeit lebten im Dorf zwei jüdische Familien.
vgl. Kördorf (Rheinland-Pfalz
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 100/101
Waltraud Becker-Hammerstein/Werner Becker, Julius Israel Nassau. Juden in Nassau an der Lahn im 19. und 20.Jahrhundert, in: Stadt Nassau. Ursprung und Gestaltung, Nassau 1997, S. 62 ff.
Franz Gölzenleuchter, Die verbrannten alle Gotteshäuser im Lande. Jüdische Spuren im Rhein-Lahn-Kreis. Jahrzehnte danach, o.O. 1997
Waltraud Becker-Hammerstein/Werner Becker, Israelitische Cultusgemeinde Nassau-Dausenau, in: "Heimatjahrbuch Rhein-Lahn-Kreis", Bad Ems 1999, S. 29 - 41
Stefan Aßmann, Siegfried Lindheimer - Ein Nassauer jüdisches Schicksal, in: "Heimatjahrbuch Rhein-Lahn-Kreis", Bad Ems 1999, S. 41 – 45
Kurt Bruchhäuser, Jüdische Familien in Dausenau an der Lahn, in: "Sachor - Beiträge zur jüdischen Geschichte und Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz", 9. Jg., Ausgabe 1/2000, Heft 18, S. 28 - 41 (Anm. detaillierte Darstellung der jüdischen Ortshistorie)
Waltraud Becker-Hammerstein/Werner Becker, Julius Israel Nassau - Juden in einer ländlichen Kleinstadt im 19. und 20.Jahrhundert, Verlag K.H.Bock, Bad Honnef 2002 (Anm.: Schwerpunkt der Publikation liegt in der Darstellung der Geschichte von ca. 30 jüdischen Familien in Nassau)
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 279/280
Nassau mit Dausenau, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
N.N. (Red.), Ein Stein für jedes Menschenleben, in: „Rhein-Lahn-Zeitung“ vom 14.12.2010 (betr. Verlegung von „Stolpersteinen“)
Auflistung der in Nassau verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Nassau_(Lahn)
Bernd-Christoph Matern (Red.), Stolpersteine erinnern in Nassau an Biografie jüdischer Mitbürger, in: rhein-lahn-evangelisch.de/neuigkeiten/meldungen/stolpersteine_erinnern_in_nassau_an_biografie_judischer_mitburger.html
Der jüdische Friedhof von Nassau an der Lahn, online abrufbar unter:juedischelebenswelten.wordpress.com vom 28.4.2011
Carlo Rosenkranz (Red.), Spender gesucht: Nassauer Denkmal soll an Synagoge erinnern, in: „Rhein-Lahn-Zeitung“ vom 4.7.2019
Ulrike Bletzer (Red.), Einweihung am Freitag: Stele erinnert an Synagoge und verfolgte Juden in Nassau, in: „Rhein-Lahn-Zeitung“ vom 19.11.2019
Nassau erinnert mit einem Denkmal an die jüdische Vergangenheit, online abrufbar unter: vgbadems.de/2020/01/30/nassau-erinnert-mit-einem-denkmal-an-die-juedische-vergangenheit/
Die Synagogen im Nassauer Land – Jüdische Kultstätten in den Kreisen Limburg-Weilburg, Rhein-Lahn und Westerwald. Eine Aufsatzsammlung, Hrg. Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Limburg e.V., 2023