Neidenstein (Baden-Württemberg)
Neidenstein ist eine kleine Kommune mit derzeit ca. 1.800 Einwohnern im Rhein-Neckar-Kreis – ca. 30 Kilometer südöstlich von Heidelberg gelegen; sie gehört heute dem Gemeindeverwaltungsverband Waibstadt an (Kartenskizzen 'Rhein-Neckar-Kreis', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 und I. Giel, 2005, aus: wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Im Dorfe Neidenstein entstand eine jüdische Gemeinde in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts, die sich dann in der Folgezeit zu einer der größeren Landgemeinden Badens entwickelte und in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ihren personellen Höchststand erreichte; zeitweilig war damals jeder dritte Ortsbewohner mosaischen Glaubens.
Das Dorf gehörte damals zur reichsritterlichen Herrschaft der Familie von Venningen; nach Ende des Dreißigjährigen Krieges versuchten die Grundherren durch Ansiedlung von Juden dem fast entvölkerten Dorf wieder neue Bewohner zuzuführen, die den Wiederaufbau mittragen sollten. Der erste urkundliche Nachweis eines Juden in Neidenstein stammt aus dem Jahre 1654. Im 18.Jahrhundert wohnten die jüdischen Dorfbewohner in der Schmalgasse und auf dem sog. „Judenbuckel“ unter äußerst beengten Verhältnissen.
1776 wurde erstmals eine Synagoge erwähnt; Anfang der 1830er Jahre wurde diese - auf Grund der steigenden Anzahl der Gemeindemitglieder - durch einen Neubau im Kirchgraben ersetzt - damals eine der größten Landsynagogen Badens. Zur Finanzierung des Bauvorhabens griff die Gemeinde auf eine Kollekte zurück, die bereits in den Jahren zuvor durchgeführt worden war und einen Teil der Kosten abdeckte; so war der Verkauf der Synagogenplätze nach festen Regeln bestimmt, wonach die besten Plätze (nahe des Thoraschreins) mit Beiträgen von je 100 Gulden angesetzt waren; die anderen wurden entsprechend billiger abgegeben.
Synagoge in Bildmitte (Aufn. Willy Volk, um 1930)
Von 1828 bis 1876 bestand in Neidenstein eine jüdische Elementarschule. Bis Ende der 1920er Jahre wurde noch im jüdischen Schulhaus Religion und Hebräisch unterrichtet.
Stellenangebote für Lehrerstelle aus: "Karlsruher Zeitung" vom 25.Mai 1842 und der Zeitschrift "Der Israelit" vom 25. April 1901
Über einen eigenen Friedhof verfügte die Neidensteiner Judenschaft nicht; die Verstorbenen fanden auf dem jüdischen Verbandsfriedhof in Waibstadt ihre letzte Ruhe.
Die Synagogengemeinde Neidenstein unterstand dem Rabbinatsbezirk Sinsheim.
Juden in Neidenstein:
--- 1774 ........................... 94 Juden (ca. 25% d. Dorfbev.),
--- 1792 ........................... 129 “ ,
--- 1801 ........................... 210 “ (ca. 32% d. Dorfbev.),
--- 1814 ........................... 220 “ (ca. 35% d. Dorfbev.),
--- 1825 ........................... 215 “ ,
--- 1839 ........................... 254 “ ,
--- 1875 ........................... 195 “ (ca. 21% d. Dorfbev.),
--- 1895 ........................... 179 “ (ca. 19% d. Dorfbev.),
--- 1900 ........................... 125 “ ,
--- 1910 ........................... 118 “ (ca. 14% d. Dorfbev.),
--- 1925 ........................... 75 “ ,
--- 1933 ........................... 63 “ ,
--- 1940 (Sept.) ................... 19 “ ,
(Nov.) .................... keine.
Angaben aus: Mitteilungsblatt No. 6 des Vereins für Kultur- und Heimatpflege Neidenstein e.V., 1998
und F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, ..., S. 221
Blick auf Neidenstein um 1900 (aus: wikipedia.org, CCO)
Um 1880/1900 verdienten die Juden Neidensteins ihren Lebensunterhalt im Handel mit Vieh und Getreide, aber auch im Kleinhandel; fast der gesamte lokale Handel lag in ihren Händen. Bereits zwischen 1830 und 1850 hatten zahlreiche Neidensteiner Juden, meist jüngere Leute, das Dorf verlassen, um in Nordamerika ein neues Leben aufzubauen. Nach 1900 war dann eine starke Abwanderung in die Städte zu verzeichnen. Das Zusammenleben der christlichen und jüdischen Bevölkerungsteile Neidensteins war über viele Jahrzehnte hinweg ohne Probleme verlaufen; wie sehr die jüdische Bevölkerung anerkannt war und wie wenig die NS-Propaganda in Neidenstein gewirkt hatte, bewies die Tatsache, dass noch 1933 ein jüdischer Bewohner dem Gemeinderat angehörte und sechs weitere zum Bürgerausschuss zählten.
Aus der NS-Tageszeitung „Volksgemeinschaft” von 1935:
Neidenstein, 9.Aug. (Nehmt Euch in Acht !) Hier in unserer Gemeinde muß man immer noch die bedauerliche Feststellung machen, daß viele Einwohner ihre Einkäufe noch bei Juden tätigen. So wurde u.a. vor kurzem folgendes beobachtet: Es war am Abend, als die Frau eines hiesigen Beamten, der bei einem staatlichen Betrieb angestellt ist, wie schon so oft, einen jüdischen Laden betrat und fast eine 3/4 Stunde (!) benötigte, bis sie ihre Einkäufe und ihren Klatsch mit der Jüdin erledigt hatte. Wie ein scheues Tier huschte sie dann in der Dämmerung an dem stillen Beobachter vorbei, der Zeuge ihres unverantwortlichen Handels war. - Es ist unglaublich, daß immer noch, nach 2 1/2 jähriger Machtübernahme durch den Nationalsozialismus derartige Vorkommnisse festgestellt werden müssen. Mögen sich aber solche Leute gewiß sein, daß man auf sie in Zukunft noch ein wachsameres Auge haben wird und sich nicht scheut, mit ihnen zu gegebener Stunde abzurechnen.
Von der Sinsheimer NSDAP-Kreisleitung beauftragt, zerstörte im November 1938 ein marodierender SA-Trupp die Synagogen der Dörfer im Amtsbezirk, so auch die Synagoge in Neidenstein. Das Inventar der Synagoge wurde völlig demoliert und teilweise gestohlen, das Synagogengebäude teilweise zerstört; dieses wurde im Januar 1939 an einen örtlichen Landwirt zum Preis von 1.000 RM verkauft, der es teilweise abbrechen ließ.
Schreiben der jüdisches Gemeinde über den Verlust der Synagogeneinrichtung:
Die letzten noch in Neidenstein lebenden jüdischen Bewohner (etwa 20 Personen) wurden im Oktober 1940 ins französische Internierungslager Gurs/Pyrenäen verschleppt.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden insgesamt 37 gebürtige Neidensteiner bzw. länger hier wohnhaft gewesene Personen mosaischen Glaubens Opfer der "Endlösung" (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/neidenstein_synagoge.htm).
Gebäude der ehem. Synagoge (Aufn. Nicor, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
In jüngster Vergangenheit sind Bestrebungen im Ort zu verzeichnen, das ehemalige Synagogengebäude einer Restaurierung zu unterziehen, um es als Denkmal für die Nachwelt zu erhalten. Die im Jahre 2020 eigens dafür gegründete "Fördergemeinschaft Ehemalige Synagoge e.V." soll die künftigen Schritte zu einer Realisierung dieses Vorhabens voranbringen.
Im Heimatmuseum Neidensteins erinnern heute verschiedene Ausstellungsobjekte an die frühere jüdische Gemeinde.
Seit 2005 befindet sich vor dem Rathaus ein Gedenkstein, der im Rahmen eines landesweiten Jugendprojektes zur Deportation der Juden nach Gurs entstanden ist. Der zweite nahezu baugleiche Stein ist dem zentralen Mahnmal in Neckarzimmern zugeordnet (Aufn. Nicor, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0 und aus: mahnmal-neckarzimmern.de).
2010 wurden in den Gehwegen Neidensteins zehn sog. „Stolpersteine“ verlegt.
in der Bergstraße und Deisbacher Straße (Aufn. aus: juedisches-kultuerbe-kraichgau.de bzw. N., 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
Karl Ziegler, Ortschronik von Neidenstein, Neidenstein 1962, S. 95 f.
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968, S. 211/212
Karl E. Demandt, Bevölkerungs- und Sozialgeschichte der jüdischen Gemeinde Neidenstein 1653 - 1866, Wiesbaden 1980
Joachim Hahn, Synagogen in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1987
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 475/476
Der befohlene “Volkszorn” im Kraichgau, in: "Rhein-Neckar-Zeitung" vom 9.11.1988
Peter Beisel, Die Geschichte der Juden in unserer Region, in: "Beiträge zur Geschichte Neidensteins", No. 1/1989
Willi Bauer, Die ehemalige jüdische Gemeinde von Sinsheim - Ihre Geschichte und ihr Schicksal, in: "Sinsheimer Hefte", No. 10, Selbstverlag, Sinsheim 1995, S. 166 und S. 201
"Mitteilungsblatt No. 6 des Vereins für Kultur- und Heimatpflege Neidenstein e.V.", 1998, S. 1 - 4
Alfred Volk (Red.), Neidenstein Anfang der dreißiger Jahre, in: "Mitteilungsblatt No. 9 des Vereins für Kultur- u. Heimatpflege Neidenstein e.V.", 2000, S. 4/5
Gerrit Volk, Neidenstein, Buchen-Walldürn 2001
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2005, S. 344 – 246
Neidenstein, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie, vor allem personenbezogenen Angaben)
Berthold Jürriens (Red.), Ritualbad könnte alte Synagoge aufwerten, in: "Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 19.8.2011
Gerrit Volk (Red.), „Stolpersteine“ in Neidenstein: Um 1830 war gut ein Viertel der Neidensteiner jüdischen Glaubens, in: "Unser Land", 2012, S. 221 - 224
Auflistung der in Neidenstein verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Neidenstein
Berthold Jürriens (Red.), Neidenstein: Diese Scheune war eine Synagoge, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 22.1.2019
Berthold Jürriens (Red.), Langer Atem für Restaurierung der alten Synagoge notwendig, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 20.1.2020
Berthold Jürriens (Red.), Sie wollen an die ehemalige Synagoge erinnern – Mit 38 Gründungsmitgliedern startet der Verein „Fördergemeinschaft Ehemalige Synagoge Neidenstein“, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 6.7.2020
Fördergemeinschaft Ehemalige Synagoge Neidenstein e.V. (Hrg.), Tätigkeitsschwerpunkte der Fördergemeinschaft, online abrufbar unter: synagoge-neidenstein.de (2020)
Berthold Jürriens (Red.), Europäischer Tag der jüdischen Kultur in der ehemaligen Synagoge, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 10.9.2020
Berthold Jürriens (Red.), Verhöhnt, beschimpft und angespuckt, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 22.10.2020
Anton Ottmann (Red.), Einst gab es im Ort sogar eine Matzenbäckerei, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 12.2.2021
Hinweis: Edith Wolber plant, eine Publikation über die ehemalige jüdische Gemeinde Neidenstein zu verfassen (Stand 2021)