Jugenheim (Rheinland-Pfalz)
Das Weindorf Jugenheim – früher dem Großherzogtum Hessen zugehörig – ist heute ein Ortsteil der rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinde Nieder-Olm im Landkreis Mainz-Bingen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Jugenheim/Nieder-Olm, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Mainz-Bingen', aus: ortsdienst.de/rheinland-pfalz/mainz-bingen).
In dem den Fürsten von Nassau-Saarbrücken gehörenden Ort soll seit dem 18.Jahrhundert eine kleine jüdische Gemeinschaft bestanden haben; erste jüdische Bewohner sollen aber bereits hier im ausgehenden 16.Jahrhundert gelebt haben. Urkundlich sind 1614 zwei jüdische Weinhändler (Joseph u. sein Sohn Abraham) nachweisbar, die nennenswerte Mengen Wein nach Frankfurt geliefert haben sollen. Im Laufe des 18.Jahrhunderts werden für Jugenheim drei hier ansässige Schutzgeld-pflichtige Familien genannt.
In den 1840er Jahren richteten die jüdischen Familien im Obergeschoss eines Hauses in der Hintergasse einen Betraum ein, der später auch von Glaubensgenossen aus dem nahen Partenheim aufgesucht wurde. Vermutlich gab es aber bereits einige Jahrzehnte früher eine „Judenschule“ (=Synagoge); denn aus der Zeit um 1800 ist ein jüdischer Lehrer (namens Callmann Laub) genannt. Seit Mitte der 1850er Jahre existierte eine eigene Elementarschule, die etwa drei Jahrzehnte später dann nur noch als Religionsschule geführt wurde. Für die Verrichtung religiös-ritueller Aufgaben war seitens der Gemeinde zeitweilig ein Religionslehrer angestellt.
Das im 18. Jahrhundert auf der Gemarkung "Gutding" südöstlich der Ortschaft angelegte Beerdigungsgelände wurde von der Friedhofsgemeinschaft der Ortschaften Jugenheim, Niedersaulheim, Partenheim, Stadecken und Vendersheim unterhalten.
Kurznotiz aus: "Der Israelit" vom 30.7.1885
Die dort bestehende Beerdigungsbruderschaft (Chewra Kadischa) setzte sich aus Mitgliedern aller beteiligten Landgemeinden zusammen.
Bis auf den heutigen Tag haben sich auf dem relativ großflächigen Begräbnisgelände des ehem. jüdischen Bezirksfriedhofs nahezu 200 Grabmale - auch älteren Datums (mit gut lesbaren Inschriften) - erhalten.
Jüdischer Friedhof in Jugenheim (Aufn. N., 2014, commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Die kleine Gemeinde gehörte zum Rabbinatsbezirk Bingen.
Juden in Jugenheim:
--- 1808 ........................... 5 jüdische Haushaltungen,
--- 1824 ........................... 49 Juden,
--- 1830 ........................... 57 " ,
--- 1861 ........................... 67 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1880 ........................... 44 “ ,
--- 1900 ........................... 29 " ,
--- 1905 ........................... 34 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1931 ........................... 29 “ ,
--- 1933 ........................... 18 “ ,
--- 1939 (Dez.) ...................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Jüdische Gemeinden in Hessen ..., Band 1, S. 414
und Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “, S. 196
Neben einigen wenigen jüdischen Winzern waren im 19.Jahrhundert von insgesamt 37 in Jugenheim wohnhaften Weinhändlern fast die Hälfte mosaischen Glaubens. Die beiden Familien Blatt und Vogel, die ihre Weinbestände durch Zukauf bei christlichen Winzern vergrößerten, besaßen eigene Weinhandlungen in Groß-Gerau, Mainz und Wiesbaden.
Im Februar 1881 kam es in Jugenheim und Partenheim zu judenfeindlichen Gewalttätigkeiten, wobei jüdisches Eigentum zerstört wurde; Jahre später sollen Gräber des israelitischen Friedhofs geschändet worden sein.
zwei Kurzmeldungen aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 9.2.1881 und vom 10.5.1881
Abwanderung und Überalterung führten dazu, dass sich die Jugenheimer Gemeinde Anfang der 1930er Jahre auflöste. Noch bis 1927 hatten die Partenheimer Juden die Synagoge in Jugenheim aufgesucht.
Einzelne Übergriffe auf jüdische Dorfbewohner wurden bereits seit Anfang der 1930er Jahre verzeichnet; denn Jugenheim war schon damals fest in der Hand der NSDAP, die 1931 hier bei Wahlen einen Wählerzuspruch von ca. 70% (!) verzeichnen konnte. Nach 1933 verstärkte sich noch die antijüdische Stimmung (SA-Übergriffe); mit Repressalien verschiedenster Art wurde den wenigen jüdischen Familien deren Lebensgrundlage allmählich entzogen.
Nach dem Novemberpogrom von 1938 verließen dann auch noch die letzten Juden ihr Heimatdorf. Während der „Kristallnacht“ war der damals schon marode kleine Betraum in der Hintergasse von Einheimischen niedergebrannt worden. Auch die Häuser zweier Familien in der Angergasse und Hauptstraße waren geplündert und verwüstet worden. Der Begräbniswagen der jüdischen Gemeinde wurde durch das Dorf gezogen und vor dem Bahnhof in Brand gesetzt.
Die letzten sechs noch in Jugenheim lebenden Juden mussten Ende November 1938 das Dorf verlassen und wurden nach Mainz abtransportiert; von hier erfolgte dann später ihre Deportation.
Das Synagogengrundstück wurde verkauft, und der neue Eigentümer integrierte die noch verbliebenen Mauerreste in den Bau einer Werkstatt bzw. eines Laden.
13 gebürtige bzw. länger in Jugenheim lebende Personen mosaischen Glaubens sollen nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ der „Endlösung“ zum Opfer gefallen sein (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/jugenheim_synagoge.htm).
(Nach neueren Recherchen sollen es 20 Personen gewesen sein; vgl. dazu: Wolfhard Klein, Juden in Jugenheim – Referat vom 9.11.2018)
J-Kennkarte der Schülerin Hilde Müller (geb. 1930 in Jugenheim), die Ende März 1942 ins Ghetto Piaski deportiert wurde und umkam.
[vgl. Nieder-Olm (Rheinland-Pfalz)]
[vgl. Partenheim (Rheinland-Pfalz)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 413/414
Adolf Schick, Jugenheimer Juden im 20. Jahrhundert, in: "Aus vergangenen Zeiten (AVZ) - Beiträge zur Jugenheimer Ortsgeschichte", 2/1980, S. 10 - 13
Illona Priester, Die Jugenheimer Juden und ihr tragisches Schicksal im Dritten Reich, Facharbeit im Leistungskurs Geschichte, Gymnasium Nieder-Olm 1988
Esther Geiß, Der jüdische Friedhof und die Juden aus Jugenheim, in: "Heimatjahrbuch Mainz-Bingen 1991", S. 45 - 47
Adolf Schick, Die jüdischen Familien in Jugenheim nach den Erinnerungen eines Zeitgenossen, in: "Heimatjahrbuch Mainz-Bingen 1994", S. 79 ff.
Jugenheim, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortsgeschichte)
S. Fischbach/I. Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels“. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 196
Marion Weppler (Red.), Erinnerung an jüdische Mitbürger, online abrufbar unter: jugenheim-rheinhessen.de (Text von Nov. 2012, enthält zahlreiche personenbezogene Daten)
Wolfhard Klein, Juden in Jugenheim – Referat vom 9.11.2018
Wolfhard Klein, Juden in Jugenheim - Referat vom 8.11.2019 (enthält zahlreiche personenbezogene Angaben)
Andrea Krenz (Red.), Uralte Gräber auf jüdischem Friedhof Jugenheim erhalten, in: „Allgemeine Zeitung (Mainz)“ vom 11.11.2019
Wolfhard Klein (Bearb.), Erinnerung an das jüdische Jugenheim, Hrg. Ortsgemeinde Jugenheim – Verbandsgemeinde Nieder-Olm/Rheinhessen, online abrufbar unter: jugenheim-rheinhessen.de/leben-in-jugenheim/historisches/ (Jan. 2020)
Wolfhard Klein, Juden in Jugenheim – Zur Erinnerung an eine 500-jährige Geschichte, Selbstverlag, Jugenheim 2020
Anke Joisten-Pruschke, Sabine u. Wolfhard Klein (Bearb.), Der jüdische Bezirksfriedhof von Jugenheim (1). Erste Einsichten – die Grabsteine des 20.Jahrhunderts, in: „Mandelzweig - Magazin“ No 1/2021, S. 11 ff.
Wolfhard Klein, Die Synagogen in Essenheim, Jugenheim, Nieder-Saulheim, Partenheim, Stadecken und Vendersheim, hrg. vom Förderverein der Synagoge Weisenau, No. 2/2022