Reutlingen (Baden-Württemberg)
Reutlingen ist eine Großstadt mit derzeit ca. 116.000 Einwohnern im Zentrum Baden-Württembergs – ca. 30 Kilometer südlich von der Landeshauptstadt Stuttgart gelegen (Kartenskizzen 'Region um Stuttgart', S., aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und 'Landkreis Reutlingen', aus: ortsdienst.de/baden-wuerttemberg/reutlingen).
Erstmalige Erwähnung von Juden in Reutlingen reicht zurück bis ins Jahr 1331; sie waren als „Kammerknechte“ dem König bzw. Kaiser steuerpflichtig. Nachdem sie 1338 durch Einschreiten des hiesigen Bürgermeisters den „Judenschlägern“ noch entronnen waren, wurden sie 1348 verfolgt, umgebracht und ihres Hab und Gutes beraubt. Ein Jahr später gewährte Kaiser Kaiser IV. der Stadt eine Amnestie, mit der die Bürgerschaft von jeglicher Schuld an dem sog. „Judenauflauf“ freigesprochen wurde. Gleichzeitig übereignete er den Grafen von Württemberg alle Güter, die die Juden in Reutlingen zurückgelassen hatten. Die ehemals von Juden bewohnten Häuser verkauften die Grafen an die Stadt Reutlingen für 1.200 Gulden.
1371 werden wieder Juden in Reutlingen urkundlich genannt. Bis zum Spätmittelalter gab es in der Freien Reichsstadt - mit zeitweiligen Unterbrechungen - eine Judengemeinde, die damals über eine eigene Synagoge und ein rituelles Bad verfügte; ein Begräbnisareal schien es hier aber nicht gegeben zu haben; möglicherweise wurde der Friedhof in Esslingen mitbenutzt.
Blick aufs mittelalterliche Reutlingen (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Die „Judengasse“ - im Zentrum der Stadt gelegen - bestand aus zwei senkrecht zueinander verlaufenden Straßen, der heutigen Rebental- und der Kanzleistraße; deren Bewohner bestritten ihren Lebenserwerb vornehmlich im Geldhandel. 1495 wurden die jüdischen Bewohner endgültig ausgewiesen, nachdem bereits in Jahrzehnten zuvor der Reutlinger Rat Vertreibungen angeordnet hatte, sich aber nicht gegen den kaiserlichen "Schutzherrn" Friedrich III. hatte durchsetzen können. Doch mit ausdrücklicher Genehmigung von Kaiser Maximilian I. wurde nun der Stadt eingeräumt, die hier lebenden Juden zu vertreiben („so yetzo bey Inen ... gesessen vnnd wonnhafftig seyen, vrlauben vnnd aus der Statt daselbs zuiehen gebitten vnnd zwinngen“). 20 Jahre später gab Maximilian I. der Stadt Reutlingen dann das Privileg, „auf ewige Zeiten“ keine Juden in Reutlingen wohnen zu lassen.
Ansicht von Reutlingen um 1700 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
In der frühen Neuzeit bestanden zwischen auswärtigen Juden und Reutlinger Bürgern diverse Geschäftsbeziehungen; dabei war es den Juden aber nur erlaubt, sich tagsüber in der Stadt aufzuhalten, wobei ein ‚Leibzoll‘ zu entrichten war. Erst ab Anfang der 1860er Jahre - mit Einführung der Gewerbefreiheit in Württemberg - durften sich wieder jüdische Familien in Reutlingen ansiedeln; die ersten beiden Familien zogen aus Wankheim zu. Doch eine autonome Kultusgemeinde konnte sich hier nicht etablieren; zunächst gehörten die Reutlinger Juden der Synagogengemeinde Wankheim, danach der Synagogengemeinde Tübingen an.
Ihre Toten beerdigten die Reutlinger Juden auf dem israelitischen Friedhof in Wankheim.
Juden in Reutlingen:
--- um 1870 ....................... 3 jüdische Familien,
--- 1910 .......................... 72 Juden,
--- 1930 ...................... ca. 100 “ ,
--- 1933 ...................... ca. 75 “ ,
--- 1942 .......................... keine.
Angaben aus: Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, S. 458
Wilhelmstraße in Reutingen, hist. Postkarte (Abb. aus: akpool.de)
lgewerbliche Annoncen von 1877/1892
Anfang der 1930er Jahre verdienten die Juden Reutlingens ihren Lebensunterhalt zumeist im Einzelhandel; das Geschäft von Samuel Kahn am Marktplatz war eines der größten am Ort.
Im Mai 1933 hatte der Reutlinger Gemeinderat ein Rundschreiben verfasst, in dem die Bevölkerung dazu aufgefordert wurde, nicht in jüdischen Geschäften einzukaufen. Bereits bis Mitte der 1930er Jahre hatten einige jüdische Familien ihre Geschäfte aufgegeben und die Stadt verlassen, nachdem Ausgrenzung und der auf ihnen lastende öffentliche Druck in Zukunft kein normales Leben mehr versprach.
1938 gab es in der Stadt noch einige jüdische Geschäfte (von einst 18); dies waren: das Kaufhaus Tanne (Wilhelmstraße), das Zigarrengeschäft Frech-Salmon (Katharinenstraße), das Elektrogeschäft Salmon (Krämerstraße), die Niederlassung der Berliner Firma Hansa (Lederstraße), die Kunstlederfabrik Julius Votteler u. das Schuhgeschäft Rosenrauch (Wilhelmstraße) und die Buntweberei Bernheim (in Bronnweiler).
Unter Führung des Reutlinger SA-Standartenführers Karl Schumacher wurde in der Nacht vom 9./10.November 1938 gewaltsam gegen jüdische Bewohner vorgegangen und ihr Eigentum demoliert; mehrere jüdische Männer inhaftiert und ins KZ Dachau verschleppt.
Einem Teil der jüdischen Familien Reutlingens war es gelungen, vor 1939 zu emigrieren - zumeist nach Palästina. Seit 1942 gab es offiziell keine Juden mehr in der Stadt.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sollen 23 aus Reutlingen stammende bzw. hier längere Zeit ansässig gewesene jüdische Bürger der „Endlösung“ zum Opfer gefallen sein (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/reutlingen_synagoge.htm). Nur acht sollen die Lager überlebt haben.
Gegenüber der Stadtbibliothek (Spendhausstraße) wurde 1987 im Rahmen eines Wettbewerbs eine Gedenktafel angebracht, die nach dem Entwurf einer damals 12jährigen Schülerin gefertigt wurde. Auf der Tafel stehen die Worte " NICHT VERGESSEN HOFFEN. Zur Erinnerung an unsere Reutlinger jüdischen Mitbürger."
Mahntafel (Aufn. J. Hahn, 2003)
Im September 2003 weihte die Israelitische Religionsgemeinschaft ihr neues kleines Gemeindezentrum in der Lederstraße in Reutlingen ein; es dient den etwa 120 im nahen Umkreis von Reutlingen lebenden jüdischen Bürgern, vorwiegend Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen UdSSR, als religiöser Mittelpunkt.
Ulmer Rabbiner Trebnik (Mitte) und Landesrabbiner Netanel Wurmser bei der Einweihung des Gemeindezentrums in Reutlingen (Aufn. J. Hahn, 2003)
Neben der orthodox geführten Einheitsgemeinde gibt es seit 2020 in Reutlingen die Liberale & Egalitäre Gemeinde Ner Tamid b‘Keramin e.V.
Nach langen kontroversen Diskussionen wurden 2017 die ersten vier sog. „Stolpersteine“ in der Kaiserstraße verlegt, die an die jüdische Familie Maier erinnern sollen; während die Eltern gewaltsam ums Leben kamen, konnten sich die beiden Kinder durch Emigration nach England retten.
Aufn. Baecke, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Ein jüngst verlegter Stein am Friedrich-List-Gymnasium erinnert an den ehemals hier unterrichtenden Lehrer Dr. Hans Martin Berger, der wegen seines jüdischen Glaubens aus dem Schuldienst entlassen wurde, nach England emigrierte und vier Jahre nach Kriegsende wieder nach Reutlingen zurückkehrte und hier bis zu seinem Ruhestand am Johannes-Kepler-Gymnasium unterrichtete; er verstarb 1967.
Weitere Informationen:
Theodor Schön, Geschichte der Juden in Reutlingen, in: "Reutlinger Geschichtsblätter", V/1894, S. 36 ff. und VI/1895, S. 64
W. Jäger, Die Freie Reichsstadt Reutlingen (Kapitel V: Die Judenschaft in Reutlingen), Reutlingen 1940, S. 94 ff.
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 458 – 460
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 694 – 696 und Band III/2, Tübingen 1995, S. 1235 – 1237
Karin-Anne Böttcher, Ausgrenzung und Verfolgung - Auswirkungen der nationalsozialistischen Rassenpolitik in Reutlingen, in: Heinz Alfred Gemeinhardt, Reutlingen 1930 - 1950 : Nationalsozialismus und Nachkriegszeit, Reutlingen 1995, S. 130ff.
Gerhard Kost, Christian Gottlieb Bleibtreu - Eine Reutlinger Judentaufe im Jahr 1736, in: "Reutlinger Geschichtsblätter - Neue Folge", No, 36/1997, S. 257 ff.
Reutlingen, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Lokalhistorie)
Christoph Ströhle (Red.), Rückkehr jüdischen Lebens. Einweihung – Israelitische Religionsgemeinschaft eröffnerte in Reutlingen ein Gemeindezentrum, in: „Reutlinger Generalanzeiger“ vom 9.9.2003
Bernd Serger/Karin-Anne Böttcher, Es gab Juden in Reutlingen. Geschichte - Erinnerungen - Schicksale. Ein historisches Lesebuch, hrg. vom Stadtarchiv/Kulturamt Reutlingen, Reutlingen 2005
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 394/395
Karl Grünberg, Jüdisches Leben wieder da, in: "ZAMA-Magazin", Reutlingen Juni 2013
Christine Keck (Red.), Stolpersteine in Reutlingen. Das lange Ringen ums richtige Gedenken, in: „Stuttgarter Nachrichten“ vom 19.4.2017
Jürgen Spiess (Red.), Stolpersteine zur Erinnerung an Nazi-Opfer, in: „Reutlinger Generalanzeiger“ vom 26.4.2021
Jürgen Herdin (Red.), Auf einmal waren die Nachbarn weg, in: „Reutlinger Nachrichten“ vom 2.5.2017 (betr. Verlegung von Stolpersteinen)
Carola Eissler (red.), Niemand stand an ihrer Seite, in: „Südwest-Presse“ vom 3.11.2018
Auflistung der in Reutlingen verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Reutlingen (Stand 2020)
Gabriele Böhm (Red.), Reutlinger Stolperstein ein Aufruf zur Zivilcourage, in: “Reutlinger Generalanzeiger“ vom 11.6.2021