Rödelsee (Unterfranken/Bayern)
Rödelsee ist eine Weinbaugemeinde mit derzeit ca. 1.700 Einwohnern innerhalb der Verwaltungsgemeinschaft Iphofen im unterfränkischen Landkreis Kitzingen (Kartenskizze 'Landkreis Kitzingen', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Gegen Ende des 14.Jahrhunderts ist erstmals ein Jude in Rödelsee namentlich genannt, der als Thora-Schreiber tätig war. Die Wurzeln einer jüdischen Gemeinde in Rödelsee liegen im Anfang des 16.Jahrhunderts. In dem unter verschiedenen weltlichen ind geistlichen Grundherrschaften stehenden Dorf entwickelte sich alsbald eine relativ große Gemeinschaft, der um 1580/1600 etwa 20 Familien angehörten. Da im benachbarten, unter dem Hochstift stehenden Iphofen jüdische Ansässigkeit untersagt war, ließen sich jüdische Handelsleute gegen Ende des 16.Jahrhundert bevorzugt in Rödelsee nieder. Allerdings war deren Ansässigkeit nicht von Dauer, da Differenzen zwischen den Dorfherren schließlich zur Ausweisung eines Großteils der jüdischen Familien aus Rödelsee führten.
Zu den in Rödelsee lebenden Juden zählte damals auch der „Jude Beifuß“, der im Auftrage seines Schutzherrn (Ernst von Crailsheim) die fränkische Judenschaft am Kaiserhof in Wien vertrat. Doch wurde dessen Tätigkeit durch den Einfluss des Würzburger Fürstbischofs beendet, der diesem unerlaubte Kreditgeschäfte unterstellt hatte.
Zu den gemeindlichen Einrichtungen der Kultusgemeinde in Rödelsee gehörten eine aus der Mitte des 16.Jahrhunderts stammende Synagoge, die in einem Wohngebäude untergebracht war, das einer der adligen Dorfherren zur Verfügung gestellt hatte. Danach übersiedelte die ‚Judenschul‘ in den Freihof des Caspar Truchsess von Wetzhausen (möglicherweise bestand hier eine Verbindung zur damalig betriebenen Talmudschule). . Als die im Obergeschoss eines Wohnhauses untergebrachte Synagoge renovierungsbedürftig geworden war, verlegte man den Betsaal ins Erdgeschoss; 1851 wurde dieser in Nutzung genommen, wobei die Initiative für den Umbau vom langjährigen Kultusvorsteher Lehmann Frank ausgegangen war; dessen Verdienste für die Rödelseer Gemeinde würdigte ein Artikel, der anlässlich seines Todes in der Zeitschrift „Der Israelit“ am 1.Mai 1878 erschien:
Rödelsee, Unterfranken ... Herr Lehmann Frank ... ging am 4. Nissan in das bessere Jenseits. Das Leben dieses Biedermannes sollte wirklich als Muster gelten. Er glänzte in der Familie, in der Gemeinde, im Judenthum, und als Mensch besonders ob seiner vorzüglichen Eigenschaften und Tugenden. Durch ihn entgeht der Familie ihre Hauptstütze, der Lenker und Führer des Haushaltes. Die Gemeinde verliert an ihm ihr schönstes Mitglied. Er unterzog sich gerne der ihm obliegenden Pflichten, übertrat nie einen Taanit (Fasten), war stets bereit, dem Frieden und der Eintracht Opfer zu bringen und legte fortwährend einen für den Grad seiner religiösen Bildung höchst anerkennenswerten Sinn für Anstand und Ordnung beim Gottesdienste an den Tag. Er bekleidete lange die Stelle eines Cultusvorstehers. Er wirkte viel Gutes in dieser seiner Stelle. Die Gemeinde verdankt ihm die neue Synagoge und die gar nicht zu schätzenden Gemeindestatuten. Er hielt die Ordnung im Gebethause streng aufrecht. ... Als Geschäftsmann war er streng solid, rechtschaffen im wahren Sinne des Wortes. Durch seinen offenen Sinn stieß er manchmal an, aber die Vielen, mit denen er zu verkehren hatte, rühmen ihm nach, daß sie gerne mit ihm umgegangen, was sich auch durch das ehrenwerthe und zahlreiche Gefolge zu seinem Grabe bekundete. Noch nie sah man einen solchen Leichenzug hier; Juden und Nichtjuden aus Nah und Fern eilten herbei, dem Verblichenen die letzte Ehre zu erweisen. ...
Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörten auch eine Mikwe und eine jüdische Schule (bis 1874 als Konfessionsschule betrieben). der letzte jüdische Lehrer war - bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand (1911) - Abraham Frank (geb. 1849 in Rimpar, gest. 1924 in Würzburg), der auf eine Tätigkeit von mehr als vier Jahrzehnten zurückblicken konnte.
Neujahrswünsche von 1898
Anlässlich seines Todes erschien ein Artikel in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 14.2.1924, in dem es u.a. hieß: „Einer unserer Besten ist von uns gegangen. ... haben wir den Lehrer a.D. Abraham Frank zu Grabe getragen. Ein echt jüdisches Lehrerleben hat damit seinen Abschluß gefunden. Die Beisetzung erfolgte auf dem uralten Zentralfriedhof in Rödelsee bei Kitzingen. In Rödelsee hatte Frank 40 Jahre lang als Lehrer amtiert. Fast als letzter Jude verließ Frank die ihm liebgewordene Stätte, auf die er 1869 nach seinem Seminaraustritt berufen wurde, … Jung und Alt scharte er um sich zum 'Lernen', in der Chebrah Kadischah war er eines der eifrigsten aktiven Mitglieder ...… Am Grabe entwarf Herr Rabbiner Dr. Wohlgemuth-Kitzingen ein Bild von der Lehrertätigkeit des Entschlafenen; Generationen hat er herangebildet, die seiner in Liebe und Treue gedenken und fast alle in Treue und Liebe dem überlieferten Väterglauben dienen. … Über 50 Jahre hindurch hatte Frank jährlich zweimal am Erev Rosch chodesch die Glaubensbrüder in Rödelsee zum Chebrah-Gottesdienste zusammengerufen; auch im Tode noch hat es sie diesmal um sich gesammelt und sie kamen, zahlreicher als je, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Möge er nun in lichten Höhen den wahren Lohn empfangen, möge er uns allen ein rechter Fürsprecher an Gottes Thron sein. Seine Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens. "
Zwischen Rödelsee und Iphofen - am Fuße des Schwanberges - liegt das von einer Mauer umgebene große jüdische Friedhofsgelände. Diese Begräbnisstätte muss bereits Anfang des 15.Jahrhunderts angelegt worden sein (erstmalige Erwähnung im Jahre 1432). In einem Privileg von 1563 (d.h. erster urkundlicher Beleg) hatte Wilhelm Moritz von Hessberg den Juden ausdrücklich die Nutzung dieses Geländes zugestanden; darin hieß es: „… daß sie ihr begrebnus zur Rötelsehe am Steig daß man nach Iphoven gehet, aufrichten ...“ In einem Schutzbrief von 1602 wurde den Juden zudem gestattet, ihren „Judenacker“ mit einer Mauer zu umfrieden und ein Tahara-Haus zu errichten. Um 1650 erwarb das Hochstift Würzburg die Rechte am Friedhof; damit füllten nun das jährliche anfallende Schutzgeld und der jeweils anfallende Totenleibzoll die fürstbischöfliche Kasse.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Begräbnisareal mehrfach erweitert, so dass es letztlich eine Fläche von nahezu 19.000 m² umfasste. Dieser Bezirksfriedhof wurde von zahlreichen, auch weiter entfernt gelegenen Gemeinden genutzt. Neben Rödelseer Juden wurden hier auch Verstorbene aus Großlangheim, Hohenfeld, Hüttenheim, Kitzingen, Kleinlangheim, Mainstockheim, Marktbreit, Segnitz, Sommerhausen, Sommerach, Wiesenbronn und anderen Orten zur letzten Ruhe gebettet.
Grabmale des jüdischen Friedhofs (Aufn. Förderverein der ehem. Synagoge Kitzingen e.V.)
Das Tahara-Haus (hist. Aufn., Gemeinde Rödelsee) stammt aus dem Jahre 1602. Eine sich aus 18 Personen zusammensetzende Chewra Kadischa sorgte für die Bestattung der Toten; die Mitglieder des Beerdigungsvereins wurden von den jeweiligen Gemeinden gewählt, die in Rödelsee ihre Verstorbenen bestatteten.
In der Zeit von 1850 bis in die 1930er Jahre wurden hier mehr als 1.200 Verstorbene zur letzten Ruhe gebettet.
Die Gemeinde Rödelsee gehörte zum Rabbinat Burgbernheim, nach dessen Auflösung zum Rabbinat Kitzingen.
Juden in Rödelsee:
--- um 1585 ...................... 18 jüdische Familien,
--- 1675 ......................... 2 " " ,
--- um 1700 ...................... 7 " " ,
--- 1739 ......................... 26 " " ,
--- um 1800 ...................... 16 “ “ ,
--- 1816 ......................... 112 Juden (ca. 15% d. Bevölk.),
--- 1830 ......................... 122 “ ,
--- 1858 ......................... 93 " (in 23 Haushalten),
--- 1880 ......................... 85 “ (ca. 11% d. Bevölk.),
--- 1890 ......................... 55 “ ,
--- 1900 ......................... 46 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1910 ......................... 8 “ ,
--- 1925 ......................... 3 “ ,
--- 1933 ......................... 4 “ ,
--- 1937 ......................... 6 " ,
--- 1942 ......................... keine.
Angaben aus: Rödelsee, aus: alemannia-judaica.de
und W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, S. 1012
Auf den Matrikellisten von 1817 erschienen in Rödelsee insgesamt 21 Familienvorstände; ihren Lebenserwerb bestritten sie zumeist im Vieh- und Kleinhandel („Schmusen“).
Mit der Aufhebung des bayrischen Matrikelparagraphen (1861) setzte auch in Rödelsee eine ‚Landflucht‘ der jüdischen Familien ein; bedingt durch die Abwanderung, vor allem nach Kitzingen, reduzierte sich ab den 1870er Jahren die Zahl der jüdischen Familien Rödelsees erheblich. Um 1906 gab die jüdische Kultusgemeinschaft Rödelsee - auf Verfügung der Regierung Unterfranken - ihre Eigenständigkeit auf und fusionierte mit der Gemeinde von Großlangheim, wo sich nun auch der Sitz der Kultusgemeinde befand.
Bereits vor und dann während der NS-Zeit kam es zu Friedhofsschändungen.
Artikel aus der „CV-Zeitung“ vom 8.11.1929
Diesbezüglicher Höhepunkt war die Brandlegung der Leichenhalle im November 1938 durch SS-Angehörige aus Kitzingen; das stark beschädigte Gebäude wurde schließlich 1950 niedergelegt. Auch das schon lange nicht mehr benutzte Synagogengebäude wurde beschädigt, die Inneneinrichtung herausgeschleppt und verbrannt, noch vorhandene Ritualien zerstört.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind nachweislich 28 aus Rödelsee stammende bzw. hier längere Zeit ansässig gewesene Juden Opfer der „Endlösung“ geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/roedelsee_synagoge.htm).
Das ehemalige Synagogengebäude wurde in den 1960er Jahren abgerissen, um einem neuen Wohnhaus Platz zu machen.
Der mit einer massiven Steinmauer umgebene Rödelseer Friedhof besitzt heute noch mehr als 2.500 Grabsteine in fünf Gräberfeldern und gehört damit zu eine der größten jüdischen Begräbnisstätten Bayerns. In der Mitte steht ein schwarzer granitener Gedenkstein mit der folgenden Inschrift:
Den Toten zur Ehre
und zum ewigen Gedenken an die jüdischen Bürger aus Rödelsee und Umgebung,
die in den Verfolgungsjahren 1933 - 1945 grausam umgekommen sind.
Uns Lebenden zur Mahnung, den kommenden Geschlechtern zur eindringlichen Lehre.
Blick vom Friedhof in Richtung Rödelsee - Taharahaus (beide Aufn. Reinhardhauke, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Grabstelen und monumentale Grabstätten (Aufn. Michael Planegg, 2015, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Mit Förderung des europäischen Leader-Entwicklungsprogramms für den ländlichen Raum soll in den kommenden Jahren das Gemeinschaftsprojekt „Netzwerk jüdischer Friedhof Rödelsee“ ins Leben gerufen werden: 18 Orte im Kitzinger Land sollen damit mit dem "Guten Ort" von Rödelsee verbunden und damit die Bedeutung dieses historischen Bestattungsgeländes für die Geschichte und Kultur der Region sichtbarer werden. Vor dem Friedhofsareal ist 2024 die Aufstellung eines Gedenksteins erfolgt, der an die deportierten und ermordeten Juden aus der Region erinnert.
Für vier ehemalige jüdische Bewohner Rödelsees wurden in der Alten Iphöfer Straße vier sog. „Stolpersteine“ verlegt.
Abb. R. Hauke, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0
Weitere Informationen:
Sebastian Zeßner, Geschichte von Rödelsee und Umgebung, Rödelsee 1935
Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München 1979, S. 393
Hans Bauer, Judenfriedhöfe im Landkreis Kitzingen, in: "Im Bannkreis des Schwanbergs. Jahrbuch des Landkreises Kitzingen (1979)", S. 71 - 74
Harm-Hinrich Brandt (Hrg.), Zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation, in: "Studien zur Geschichte der mainfränkischen Juden im 19.Jahrhundert", Band 39, Würzburg 1987
Friedrich Amberger/Fritz Ortner, Gemeinde Rödelsee … einst und heute in Wort und Bild, Rödelsee 1988
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 116/117
Christian Reuther/Michael Schneeberger, „Nichts mehr zu sagen und nichts zu beweinen“ - Ein jüdischer Friedhof in Deutschland, Edition Hentrich, Berlin 1994
Rödelsee, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten, meist personenbezogen – und Seite zum jüdischen Friedhof in Rödelsee)
Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 200
Lothar Mayer, Jüdische Friedhöfe in Unterfranken, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2010, S. 156 − 161
Winzergemeinde Rödelsee (Hrg.), Der jüdische Friedhof bei Rödelsee, online abrufbar unter: roedelsee.de/de/freizeit-tourismus/wanderwege-in-und-um-roedelsee/wein-und-wahrheit/gedenken-juedischer-friedhof/
Rödelsee – ein jüdischer Friedhof in Weinfranken - Nur noch Steine zeugen vom jüdischen Landleben in Franken, in: hagalil.com vom 20.10.2017
Auflistung der in Rödelsee verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Rödelsee
Walter Braun (Red.), „Netzwerk jüdischer Friedhof Rödelsee“ vorgestellt, in: inFranken.de vom 21.11.2018
Walter Sauter (Red.), Rödelsee. Auf den Spuren jüdischen Lebens und Sterbens, in: „Main-Post“ vom 21.6.2019
Hans Schlumberger/Hans-Christof Haas (Bearb.), Großlangheim mit Rödelsee, in: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 987 - 1019
Gerhard Krämer (Red.), Rödelsee will ein Denkmal am jüdischen Friedhof errichten, in: „Main-Post“ vom 25.5.2021
Eike Lenz (Red.), Jüdischer Friedhof Rödelsee: Iphofen beteiligt sich an Netzwerk, in: "Main-Post" vom 15.9.2021
Gerhard Krämer (Red.), Vorplatz am jüdischen Friedhof. Ein Ort der Information, der Besinnung und der Erinnerung, in: „Fränkischer Tag“ vom 29.4.2024