Zeltingen-Rachtig/Mosel (Rheinland-Pfalz)
Zeltingen-Rachtig ist heute eine Kommune mit derzeit ca. 2.200 Einwohnern im Landkreis Bernkastel-Wittlich; sie gehört der Verbandsgemeinde Bernkastel-Kues an (Kartenskizzen 'Landkreis Bernkastel-Wittlich', Hagar 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und 'Verbandsgemeinde Bernkastel-Kues' mit Zeltingen-Rachtig, aus: volksfreund.de).
In der katholischen Dorfgemeinde, die fast ausschließlich vom Weinbau lebte, bildeten die jüdischen Familien stets eine kleine Minderheit. Erste Ansiedlungen von Juden gehen vermutlich in die Zeit um 1600 zurück; eine kleine Gemeinde bildete sich erst im Laufe des 18.Jahrhunderts heraus, der zunächst auch die wenigen jüdischen Personen aus Rachtig, Lösnich und Ürzig angehörten.
Über die ökonomische Grundlage der Zeltinger Juden schrieb 1808 der hiesige Bürgermeister:
„ ... gleichwohl treiben alle einen mehr oder minder kleinen Handel mit Viehe und sonstigen dem Landmann nötigen Eisen- und Lederwaren und ernähren sich damit gut. Keiner hat Grund Eigentum, keiner treibt ein Handwerk und keiner lasset seine Kinder Arbeiten oder Professionen erlernen. Hieraus folget also, daß der Handel die eingeborene Neigung und die sich vorstellende einzige Nahrungsquelle der Juden seie.”
Erst um 1835 gab es in Rachtig eine jüdische Familie, die Weinbau betrieb.
Zeltingen und Rachtig verfügten jeweils über eine eigene Synagoge. Die ältere Synagoge stand in der Fährstraße in Zeltingen. Sie wurde zunächst auch von den Rachtiger Juden und denen aus Ürzig und Lösnich aufgesucht; ihr genaues Alter ist nicht bekannt; sie wird erstmals 1821 erwähnt: Da in der Synagoge zu Zeltingen während des Gottesdienstes „große Unordnung“ herrschte und die Juden die Steuern, mit denen die Synagoge unterhalten wurde, nicht entrichten wollten, bat das Konsistorium in Trier den hiesigen Bürgermeister, dem kommissarischen Aufseher, Abraham Wendel aus Rachtig, bei der Ausführung seiner Pflichten behilflich zu sein. Nach der Zerstörung des Synagogengebäudes durch einen Brand 1837 wurde die neue Synagoge erst 16 Jahre später - im August 1853 - eingeweiht.
In einem Bericht der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 2. April 1855 wird von drei neu errichteten Synagogen im Regierungsbezirk Trier berichtet, darunter auch von der in Zeltingen; darin hieß es u.a.:
"Regierungsbezirk Trier, 15. März (Privatmitth.) Mit Recht erkennt man in den vielen, in neuerer Zeit erbauten Synagogen den Beweis für die wieder neu erwachte Liebe und Begeisterung für unsere Religion und deren Institutionen. Aus welchen anderen Motiven sonst würden die Gemeinden die so großen Opfer darbringen, wenn nicht der religiöse Drang sie hierzu antreiben sollte? … So haben denn auch drei kleine Gemeinden im Kreise Berncastel, nämlich Berncastel, Zeltingen … und Müstert-Emmel recht hübsche Synagogen durch unseren Oberrabbiner, Herrn Kahn aus Trier, auf die feierlichste Weise eingeweiht. … Besonders Anerkennung und Dank verdienen die intelligenten und religiösen Kaufleute, die Herren A. Marx und Schews aus Berncastel, die dort den Gottesdienst durch Leitung eines hübschen Chores verherrlichen, auch bei dieser Gelegenheit wieder wie früher bei den Einweihungen zu Berncastel und Zeltingen in Gemeinschaft mit den Musikern, den Herren Gebrüder Hirsch aus Berncastel, ohne Zeit- und Geldopfer zu scheuen - erschienen und zur Hebung der Feierlichkeit sehr viel beitrugen. Durch dieses ihr gottgefälliges Wirken verursachen sie nicht nur eine Heiligung des Gottesnamens bei dem bei solchen Gelegenheiten anwesenden zahlreichen christlichen Publikum, da es hierdurch eine bessere Ansicht über Judenthum und jüdischen Gottesdienst bekommt, - regen vielmehr auch die jüdischen Gemeinden an und bestimmen sie, einen geregelteren und anständigeren Gottesdienst in der Zukunft einzuführen. Dank, innigen Dank daher diesen Biedermännern! …“
links: Synagoge in Zeltingen - rechts: Mauerwerk der Synagoge in Rachtig (hist. Aufn., Landesamt)
Etwa zum gleichen Zeitpunkt trennten sich die Judenschaft aus Rachtig und Lösnich von der Zeltinger Gemeinde und schufen eigene Beträume. Ein neues Synagogengebäude wurde in Rachtig in der Bahnhofstrasse vermutlich 1910 fertiggestellt.
Sowohl in Zeltingen als auch in Rachtig hat es kurzzeitig kleine jüdische Schulen gegeben, doch bereits nach 1840 sollen diese aufgegeben worden sein.
Stellenanzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 6.Mai 1886
Verstorbene Juden aus Zeltingen und Rachtig wurden bis in die 1870er Jahre auf dem gemeinsamen Friedhof „Im Engelter“ begraben; danach wurde oberhalb von Zeltingen, Im Oberen Kuhkordel, eine neue Begräbnisstätte angelegt. Da beide Friedhöfe weit ab vom Ort lagen, wurden die Toten mit einem Pferdefuhrwerk dorthin transportiert. Die den Sarg begleitenden Frauen durften nur bis zu einem bestimmten Wegepunkt mitgehen.
Juden in Zeltingen-Rachtig:
--- 1808 ........................... 7 jüdische Familien,*
--- 1833 ........................... 47 Juden,** * Zeltingen + Rachtig
........................... 44 “ ,*** ** Zeltingen
--- 1843 ........................... 55 “ ,** *** Rachtig
........................... 46 “ ,***
--- 1895 ........................... 78 “ ,*
--- 1925 ........................... 55 “ ,*
--- 1933 ........................... 17 “ ,**
........................... 31 " ,***
--- 1938 ........................... 18 “ ,*
--- 1939 (Sept.) ................... keine.
Angaben aus: Hubert Gessinger, Die Juden von Zeltingen-Rachtig, S. 39 - 41 (Anm.: In den verschiedenen Publikationen gibt es z.T. unterschiedliche demographische Angaben)
Um 1900 war zunächst die Zahl der in Zeltingen wohnenden Juden rückläufig; nach dem Ersten Weltkrieg nahm auch in Rachtig der jüdische Bevölkerungsanteil ab. Nach dem Rückgang der Zahl der Gemeindeangehörigen wurden etwa um 1920 die Gemeinden von Zeltingen und Rachtig wieder vereinigt; Gottesdienste wurden nun jeweils abwechselnd in den beiden Synagogen abgehalten.
Nach der NS-Machtübernahme 1933 wurde das im allgemeinen gutnachbarschaftliche Verhältnis zwischen Juden und Christen durch vereinzelte Übergriffe auf jüdisches Eigentum getrübt; als staatliche Verordnungen zunehmend die Wirtschaftsgrundlage der Juden einengten und schließlich deren Existenz ernstlich bedrohten, verließen fast alle jüdischen Bewohner ihre beiden Heimatdörfer.
Über die Vorgänge in der „Kristallnacht“ vom November 1938 liegt ein Augenzeugenbericht vor: „ ... Im Laufe des Tages nach der Kristallnacht fielen in Rachtig SA-Leute aus Nachbardörfern wie Vandalen in die jüdischen Häuser und in die Synagoge ein und zerschlugen Fenster und Möbel, warfen aus der Synagoge die Schriftrollen und die Gewänder und legten einen Brandsatz, der Gott sei Dank nicht zündete. Die jüdischen Männer wurden verhaftet, während sich die Frauen zu ihren christlichen Nachbarn in Sicherheit brachten und dort Unterkunft fanden. Schon am frühen Morgen war in Zeltingen ebenso das Haus der Gebrüder Bach verwüstet worden.. Drei Fuder und ca. 250 Flaschen Wein waren zerschlagen worden. Zerschlagene Fensterscheiben und Möbel lagen noch am Abend auf der Straße. ...” (aus: S. Max, New York, 1949)
Die nur wenigen verbliebenen Juden aus Zeltingen-Rachtig waren 1937 der Synagogengemeinde Neumagen angeschlossen worden. Im Herbst 1939 hatten die letzten jüdischen Bewohner Zeltingen-Rachtig verlassen; zumeist konnten sie noch rechtzeitig emigrieren.
Die beiden an Privatpersonen verkauften Synagogengebäude von Zeltingen und Rachtig wurden anschließend als Lagerräume genutzt; zu einem späteren Zeitpunkt wurden sie abgerissen, um Wohnhäusern Platz zu machen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind 14 gebürtige bzw. längere Zeit in Rachtig ansässige und zwölf aus Zeltingen stammende Juden Opfer der „Endlösung“ geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/rachtig_synagoge.htm und: alemannia-judaica.de/zeltingen_synagoge.htm).
Das ab den 1870er Jahren genutzte (neue) Begräbnisgelände – "Im oberen Kuhkordel" in einem Waldgelände oberhalb Zeltingens – weist auf einer Fläche von mehr als 3.000 m² heute noch ca. 60 Grabstätten auf.
Neuer jüdischer Friedhof "Im oberen Kuhkordel" (Aufn. Otmar Frühauf, 2009)
Der schwer zugängliche, längst in Vergessenheit geratene „alte“ jüdische Friedhof – oberhalb der Weinberge des Oberbachtales – ist mit seinen sechs noch vorgefundenen Grabsteinen erst jüngst wiederentdeckt worden; das Gelände war völlig mit Vegetation bedeckt.
Relikte des alten Friedhofs (Aufn. S., 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Im Dorf Lösnich - von Zeltingen moselabwärts gelegen - war auch eine kleine jüdische Gemeinde beheimatet, die in den 1890er Jahren mit etwa 55 Angehörigen ihren personellen Höchststand erreichte; die beiden Großfamilien Kaufmann und Schömann stellten dabei das Gros der jüdischen Einwohner des Winzerortes. Erstmals ist 1747 ein mit einem Schutzbrief ausgestatteter Jude in Lösnich nachweisbar.
Im ersten Drittel des 19.Jahrhunderts suchten die Lösnicher Juden die Synagoge in Zeltingen auf; danach stand ihnen ein Betraum in einem Privathause zur Verfügung. Ab den 1860er Jahren besaßen sie ein eigenes Bethaus, das zeitweilig auch von Glaubensgenossen aus Bausendorf aufgesucht wurde.
Bethaus in Lösnich (Skizze Benno Conen, 2004)
In einem kleinen Seitental der Mosel befand sich in Hanglage seit Mitte der 1880er Jahre der neuangelegte Friedhof der jüdischen Gemeinde, der eine ältere Begräbnisstätte „Im Judenbusch“ (erstmals 1799 erwähnt) ablöste. - 1925 lebten nur noch 17 jüdische Bewohner in Lösnich; zu dieser Zeit waren sie Teil der Kultusgemeinde Leiwen. Im Jahre der Machtübernahme lebten im Dorf noch elf Juden, fünf Jahre später keine mehr.
Auf Grund einer Privatinitiative wurde das ca. 250 m² große jüdische Friedhofsgelände um 2000 instand gesetzt. Fast alle 14 vorhandenen Grabsteine tragen die Namen der Familien Kaufmann und Schömann.
(neue) Eingangspforte zum jüdischen Friedhof in Lösnich - ältere Grabsteine (Aufn. JS Lonscet, 2014, aus: wikipedia.org CC BY-SA 3.0
2016 wurde eine Gedenkplakette mit den Namen der fünf ehemaligen jüdischen Bewohner Lösnichs enthüllt, die der NS-Herrschaft zum Opfer fielen. vgl. Lösnich (Rheinland-Pfalz)
Weitere Informationen:
Hubert Gessinger, Geschichte von Zeltingen-Rachtig, Bernkastel 1979
Hubert Gessinger, Die Juden von Zeltingen-Rachtig, Zeltingen-Rachtig 1984
Birgit Schwarz, Gemeinde Zeltingen-Rachtig an der Mosel, Neuss 1988
D. Peters/M. Strehlen, Jüdische Begräbnisstätten - Gedenkstätten Rheinland-Pfalz, in: "SACHOR", Heft 16/1998
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “ Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 236 (Lösnich) und S. 412/413 (Zeltingen-Rachtig)
Zeltingen, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Rachtig, in: alemannia-judaica.de
Lösnich, in: alemannia-judaica.de
Marie-Luise Conen/Hilde Weirich, Jüdische Familien von der Mittelmosel. Lebensläufe von 1714 bis zur Gegenwart, Paulinus Verlag, Trier 2010
Werner Gessinger. Der jüdische Friedhof in Lösnich an der Mosel, 2012 (online abrufbar unter: gessinger1.de)
Adrian Froschauer (Red.), Vergeben aber niemals vergessen – Gemeinde Lösnich gedenkt jüdischer Bürger, in: volksfreund.de vom 23.7.2016
Christina Bents (Red.), Letzte Ruhestätte mitten im Wald, in: volksfreund.de vom 20.7.2020
Christina Bents (Red.), Jüdischer Friedhof in Lösnich: Letzte Ruhe unter Pappeln, in: volksfreund.de vom 29.9.2020