Barsinghausen/Deister (Niedersachsen)
Barsinghausen ist eine Stadt mit derzeit ca. 35.000 Einwohnern in der Region Hannover (Calenberger Land) und liegt am ans Weserbergland angrenzenden Höhenzug des Deister nahe Springe (Ausschnitt aus hist. Karte ohne Eintrag von Barsinghausen, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Region Hannover', aus: ortsdienst.de/niedersachsen/hannover-region).
Auf dem heutigen Gebiet der Stadt Barsinghausen gab es ehemals zwei jüdische Gemeinden: eine in Barsinghausen (mit den angeschlossenen Orten Hohenbostel, Wichtringhausen u. Winninghausen), die andere in Groß-Munzel (mit den Dörfern Großgoltern, Landringhausen, Nordgoltern u. Stemmen).
Barsinghausen – Stich C. Merian, um 1650 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Der älteste bekannte urkundliche Nachweis über die Ansässigkeit von Juden in Barsinghausen, ein Schutzbrief für den Juden Salomon Ruben, stammt aus dem Jahre 1702.
Ab Mitte des 19.Jahrhunderts muss eine Synagogengemeinde bestanden haben, der neben den Barsinghäuser Juden auch die aus Hohenbostel, Wichtringhausen und Winninghausen angehörten. Ihre Hinterhofsynagoge, ein unscheinbares kleines Fachwerkgebäude, hatte die Judenschaft seit ca. 1902 in der Marktstraße; zuvor hatten gottesdienstliche Treffen in privaten Räumen stattgefunden. Weitere Planungen zum "Bau eines würdigen Gotteshauses" (in der Glockengasse) zerschlugen sich. Schließlich mietete die Synagogengemeinde Anfang der 1920er Jahre ein kleines Fachwerkgebäude an und richtete es als Synagoge her.
Zeichnung der Synagoge (Stadtarchiv Barsinghausen)
Seit Anfang der 1890er Jahre gab es in Barsinghausen eine jüdische Elementarschule, die aus einer um 1840 eingerichteten Religionsschule hervorgegangen war. Nach der Auflösung der Schule besuchten die wenigen jüdischen Kinder die evangelische Volksschule im Ort.
Neben dem alten jüdischen Friedhof im Deisterwald - er war bereits im 18.Jahrhundert am Rande des Deister-Klosterwaldes angelegt und bis zu seiner vollständigen Belegung (um 1905) genutzt worden - gab es ab ca. 1910 unterhalb der Bahnlinie in der Kirchdorfer Straße ein neu geschaffenes Begräbnisgelände.
Juden in Barsinghausen:
--- um 1815 ......................... 2 jüdische Familien,
--- 1846 ............................ 5 “ “ ,* * im Synagogenbezirk
--- 1871 ............................ 47 Juden,** ** ca. 70 Pers. im Synagogenbezirk
--- 1885 ............................ 43 “ ,
--- 1905 ............................ 45 “ ,
--- 1925 ............................ 63 “ ,
--- 1933 ............................ 58 “ ,
--- 1939 ............................ 23 “ ,
--- 1944 (Jan.) ..................... 4 “ ,
--- 1945 (April) .................... keine.
Angaben aus: Friedel Homeyer, Gestern und heute - Juden im Landkreis Hannover, S. 100
Die Mehrzahl der jüdischen Familien Barsinghausens gehörte zum gehobenen Mittelstand; es waren angesehene Kaufleute und Händler, die fast vollständig in das gesellschaftliche Leben der Kleinstadt integriert waren. Die Familie Levisohn unterhielt über mehrere Generationen hinweg ein Geschäft für landwirtschaftliche Produkte und Güter des alltäglichen Bedarfs.
Geschäft der Gebr. Levisohn, links (hist. Aufn., Stadtarchiv Barsinghausen)
Marktstraße mit Geschäft von Sally Hirschberg (Stadtarchiv Barsinghausen)
Ersten Repressalien waren jüdische, aber auch christliche Kaufleute Barsinghausens ausgesetzt, als hier ansässige Arbeiter gegen sie vorgingen, um angebliche Spekulationsgeschäfte der Kaufmannschaft mit Getreide und Nahrungsmitteln zu bekämpfen. Mit dem Erstarken der NSDAP - und besonders nach der NS-Machtübernahme - wurden die jüdischen Einwohner immer mehr ausgegrenzt und schikaniert; so z.B. soll dem jüdischen Lehrer vom evangelischen Kirchenvorstand verboten worden sein, seinen täglichen Schulweg über ein kircheneigenes Grundstück zu nehmen. Ein Großteil der Barsinghausener Bevölkerung schien der NS-Politik gegenüber positiv eingestellt gewesen zu sein, denn NSDAP-Versammlungen bzw. Kundgebungen wurden von Hunderten Einwohnern besucht.
Mitte der 1930er Jahre wurde der alte jüdische Friedhof nahe der Deister-Freilichtbühne von örtlichen SA- bzw. SS-Angehörigen geschändet: Grabsteine wurden umgeworfen und zerstört.
Im Anschluss an eine Gedenkfeier „zu Ehren der Gefallenen der Bewegung“ am Abend des 9.November 1938 begannen auch in Barsinghausen die „spontanen Aktionen“ gegen die hiesige jüdische Bevölkerung. So wurden Fensterscheiben von Geschäften eingeschlagen, und der Innenraum der Synagoge in der Marktstraße wurde demoliert. Zehn Personen wurden verhaftet; nach vorläufiger Inhaftierung in der Obdachlosenunterkunft in der Kaltenbornstraße wurden die Männer nach Hannover und von dort aus ins KZ Buchenwald verschleppt.
Aus der Lokalpresse vom 11.11.1938:
„ In Barsinghausen machte sich die Empörung der Massen über den hinterlistigen Mord an dem Legationsrate vom Rath - Paris dadurch Luft, daß sie in die jüdischen Geschäfte eindrangen und die Inneneinrichtung zerstörten. Auch das gesamte Mobiliar der Synagoge wurde restlos zerstört und zerschlagen. Danach trat wieder Ruhe ein, nur sah man den ganzen Tag über hunderte von Menschen nach der gewesenen Synagoge pilgern, um sich die Stätte anzusehen, wo sich die Empörung des Volkes sichtbaren Ausdruck verschafft hatte.”
Von 1934 bis 1940 emigrierten ca. 20 jüdische Bewohner, und etwa die gleiche Anzahl verzog in andere deutsche Städte. Von Dezember 1941 bis Februar 1943 wurden 40 in Barsinghausen geborene oder längere Zeit ansässige jüdische Bürger deportiert. Noch im Februar 1945 (!) transportierte man vier ältere Barsinghausener Juden nach Theresienstadt ab; sie haben das Kriegsende überlebt. Nachweislich wurden mindestens 17 Juden aus Barsinghausen Opfer der Shoa; die Schicksale weiterer jüdischer Personen sind ungeklärt.
Im Jahr 1980 wurde im Zentrum Barsinghausens eine Straße nach dem 1943 im Ghetto Theresienstadt umgekommenen jüdischen Kaufmann Siegfried Lehmann benannt. Im Zusammenhang damit rief die in den USA lebende Familie Lehmann eine Stiftung ins Leben. Die seit 1984 in Barsinghausen bestehende die Siegfried-Lehmann-Stiftung zeichnet mit ihrem vergebenen Preis diejenigen Personen aus, die an geschehenes Unrecht gegenüber Andersdenkenden bzw. -gläubigen Menschen erinnern sowie Verständnis für andere Lebensformen aufbringen.
Seit 2006 wurden in Barsinghausen und seinen Stadtteilen sog. „Stolpersteine“ verlegt; inzwischen findet man dort in den Gehwegen mehr als 50 messingfarbene Steinquader (Stand 2023), die zumeist jüdischen Opfern der NS-Gewaltherrschaft gewidmet sind.
verlegt für Angehörige der Familie Lehmann, Bahnhofstraße und für die Geschwister Philippsohn in der Marktstraße
in der Osterstraße und Osterende
... und in der Schulstraße (Abb. D, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auf dem ehemaligen (alten) jüdischen Friedhof oberhalb Barsinghausens im Deister - das Areal war bis ca. 1910 genutzt und dann 1939 eingeebnet worden - erinnert die folgende Inschrift:
Hier befand sich ein jüdischer Friedhof, der 1909 geschlossen
und während der nationalsozialistischen Zeit zerstört wurde.
15.Juni 1982 Stadt Barsinghausen
Heute stehen als Erinnerung wieder zwei Grabsteine nahe dem alten Standort. Das ehemalige Begräbnisgelände wurde 2015 wieder als "jüdischer Friedhof" hergerichtet und als solches kenntlich gemacht.
alter jüdischer Friedhof (Aufn. 2014, aus: wikipedia.org und Aufn. D., 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Der auf einem schmalen Grundstück befindliche neue jüdische Friedhof in der Kirchdorfer Straße (belegt seit 1911) weist heute noch 28 Grabsteine auf.
neuer Friedhof (Aufn. D., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Zwischen Kloster und Rathaus erinnert seit 1985 ein Mahnmal an die verfolgten jüdischen Bewohner Barsinghausens; dessen Inschrift lautet:
Du gedenkst der Fußspur,
die sich mit Tod füllte beim Annahen des Häschers
Nelly Sachs
Zum Gedenken an die jüdischen Mitbürger unserer Stadt,
die Opfer der Gewalt wurden.
1933 1945
Den Lebenden zur Mahnung
Barsinghausen 1985
Mahn- u. Gedenkstein (Aufn. Raimund Reiter, 2007, aus: erinnerungundzukunft.de)
Im heute zur Stadt Barsingshausen zählenden Ortsteil Groß Munzel gab es seit dem 18. Jahrhundert ebenfalls eine kleine jüdische Gemeinschaft. Ihren Höchststand erreichte die Gemeinde gegen Mitte des 19.Jahrhunderts mit insgesamt elf Familien; davon lebten in Groß Munzel fünf, in Stemmen zwei und je eine in Groß Goltern, Kirchwehren und Landringhausen. Bis zum frühen 19.Jahrhundert beerdigten die hiesigen Juden ihre Toten auf den Grundstücken der von ihnen angemieteten Häuser; erst danach stand ihnen kleines Friedhofsgelände am Rande der Gemarkung in der Nähe von Barrigsen zur Verfügung.
Ab 1852 verfügte die kleine Gemeinde auch über ein Synagogengebäude auf dem Grundstück Osterende 14.
Synagogengebäude in Groß Munzel (hist. Aufn., um 1920/1930 ?)
Der winzige Friedhof - inmitten von ackerbaulich genutzten Flächen - ist heute der einzige Hinweis auf die ehemalige jüdische Gemeinde von Groß Munzel. Das unter alten Bäumen befindliche Begräbnisareal weist heute insgesamt 24 Grabsteine auf, die aus der Zeit von 1841 bis 1931 datieren.
Jüdischer Friedhof (Aufn. Frank Achhammer, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auch in Groß-Munzel sind einige sog. Stolpersteine" verlegt worden.
Stolpersteine in Groß-Munzel (Aufn. D., 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
Friedel Homeyer, Der Jüdische Friedhof in Barsinghausen. in: Gestern und heute. Juden im Landkreis Hannover. Hannover 1984, S. 200 – 203 (neuer Friedhof) und S. 204 – 207 (alter Friedhof)
Friedel Homeyer, Der Jüdische Friedhof in Groß Munzel, in: Gestern und heute. Juden im Landkreis Hannover, Hannover 1984, S. 208 - 210
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Niedersachsen II (Reg.bezirk Hannover und Weser-Ems), Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1986, S. 59
F.Homeyer/K.Vespermann, Siegmund Weiss - Das Schicksal einer Familie 1933/45, Barsinghausen 1988
Stadt Barsinghausen (Hrg.), Barsinghausen - unter Klöppel, Schlegen und Eisen, Barsinghausen 1994, S. 244 ff.
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 379/380
Albert Marx, Geschichte der Juden in Niedersachsen, Fackelträger Verlag GmbH, Hannover 1995
Miriam Lappin/Antje C. Naujoks (Bearb.), Barsinghausen, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 1, S. 164 -171
Nancy Kratochwill-Gertich (Bearb.), Groß Munzel, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 1, S. 677 - 681
Stolpersteine in Barsinghausen (achtseitiger Flyer), hrg. von der Stadtverwaltung Barsinghausen (als PDF-Datei abrufbar)
Auflistung der Stolpersteine in Barsinghausen, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Barsinghausen
Hannah-Arendt-Gymnasium (Bearb.), Jüdisches Leben in Barsinghausen - Nationalsozislismus in Bardinghausen, online abrufbar unter: schulprojekt-hag.de.rs/unsere-dokus/zeitgeschichtlicher-hintergrund
Stadt Barsinghausen (Hrg.), Ehemalige jüdische Synagoge, online abrufbar unter: barsinghausen.de/portal/seiten/ehemalige-juedische-synagoge-1846015593-20002.html
Netzwerk Erinnerung + Zukunft Region Hannover (Hrg.), Barsinghausen, online abrufbar unter: erinnerungundzukunft.de
Jüdischer Friedhof wird wieder hergestellt, in: „Schaumburger Nachrichten“ vom 14.4.2015
Frank Hermann (Red.), Alter jüdischer Friedhof wird neu eröffnet, in: „Hannoversche Allgemeine“ vom 26.10.2015
Eckard Steigerwald (Red.), BARSINGHAUSEN – Novemberpogrome 1938 in Niedersachsen, Hrg. Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, online abrufbar unter: pogrome1938-niedersachsen.de/barsinghausen/