Dierdorf (Rheinland-Pfalz)
Dierdorf ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 6.000 Einwohnern im Landkreis Neuwied und Verwaltungssitz der Verbandsgemeinde Dierdorf – ca. 15 Kilometer nordöstlich von Neuwied bzw. 25 Kilometer nördlich von Koblenz gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org CCO und Kartenskizze 'Landkreis Neuwied' ohne Eintrag von Dierdorf, aus: ortsdienst.de/rheinland-pfalz/neuwied).
In dem zur Grafschaft Wied-Runkel gehörenden Flecken Dierdorf wurde erstmals in den 1670er Jahren eine ansässige jüdische Familie erwähnt; einige wenige folgten alsbald nach. Ende des 18.Jahrhunderts hatte sich eine jüdische Gemeinde gebildet, deren Angehörige meist gutbemittelt waren. Nachweislich der erste Judenvorsteher im Amte Dierdorf war der von Graf Johann Ludwig zu Wied-Runkel im Jahre 1742 ernannte Hirsch Loeb. Bis Ende der 1840er Jahre zählten die Juden um Dierdorf, Puderbach und Urbach zur Synagogengemeinde Neuwied. 1864 gab sich die neu etablierte Gemeinde eigene Statuten; der Gemeinde Dierdorf angeschlossen waren auch die Glaubensgenossen aus Giershofen und Großmaischeid.
Bereits um 1750 soll es in Dierdorf einen Betraum gegeben haben. Schon Jahre zuvor war ein Friedhof nahe Dierdorf angelegt worden, auf dem auch die verstorbenen Juden des Amtes Dierdorf beerdigt wurden; gegen Mitte des 19.Jahrhunderts nutzte man einen neuen Begräbnisplatz, der am Wege nach Giershofen lag.
1929 weihte die hiesige Gemeinde ihre neue Synagoge in der Hauptstraße ein. Sie ersetzte eine vor 100 Jahren erbaute, die nahe der heutigen katholischen Kirche gelegen war. Aus einer Beschreibung von 1927: „ ... Am Kaiser-Wilhelm-Platze befindet sich auch die Synagoge. Von der Kuppel ihres schlanken Turmes strahlt der vielstrahlige Stern. Über dem Eingang stehen in hebräischen Schriftzeichen die Worte: ‘Israel hofft auf den Herrn’ und die Angaben über die Erbauung im Jahre 5589 nach Erschaffung der Welt (1829). Längst zu beschränkt im Raum, alt und baufällig, hat die israelitische Gemeinde den Bau einer neuen Synagoge beschlossen und bereits den Platz dazu käuflich erworben. Das neue Gebäude wird sich auf dem Weblerschen Grundstück in der Vordergasse erheben.”
alte Synagoge zu Dierdorf (hist. Aufn.) Siegel der Gemeinde Dierdorf
Um den Synagogenneubau realisieren zu können, hatte die Gemeinde einen Baufonds aufgelegt, dessen Mittel aber während der Inflationszeit vernichtet worden waren. So versuchte man nun seitens der Gemeinde, mit Hilfe öffentlicher Spendenaufrufe die notwendigen finanziellen Mittel bereit zu stellen.
Spendenaufruf neue Dierdorfer Synagoge (Zeichnung E. Heydorn, 1929)
Aus einem Bericht der „Neuwieder Zeitung” vom Oktober 1929:
Synagogenweihe in Dierdorf
SM. Dierdorf, 9.April Eine seltene und erhebende Feier bot sich unserem Städtchen, als die neue Synagoge ihrer Bestimmung übergeben wurde. Die Feier wurde eingeleitet durch Abschiednehmen vom alten, hundertjährigen Gotteshause. Während die mit Guirlanden geschmückten Torarollen von den 4 Gemeindeältesten der heiligen Lade entnommen wurden, stellte sich die Gemeinde mit ihren von nah und fern herbeigeeilten Angehörigen und Freunden zum Festzuge auf dem Platz der alten Synagoge auf. Unter den Ehrengästen sah man die Vertreter der Regierung, des Kreises, des Amtsbezirks, der politischen Gemeinde, der Kirchengemeinden, der jüdischen Gemeinde Köln, wie auch die der benachbarten Synagogengemeinden und den Erbauer der Synagoge, Architekt Stern, Köln. ... Der Vorsteher öffnete die Pforten. Der Raum vermochte die große Zahl der Teilnehmer nicht zu fassen. Dann begann der von Lehrer Ginsberg ausgeführte Weiheakt. ... Der Priestersegen und der gemeinsame Gesang des Chorals “Großer Gott, wir loben dich” beschlossen die ergreifende Feier, die für alle Beteiligten unvergeßlich bleiben wird. Die ganze Bevölkerung nahm an dem seltenen Fest herzlichsten Anteil.
Seit 1898 gab es in Dierdorf eine einklassige jüdische Grundschule, die aber stets nur sehr wenige Schüler hatte; ab dem 5. Schuljahr besuchten die jüdischen Kinder die evangelische Rektoratsschule vor Ort.
Juden in Dierdorf:
--- um 1700 ................... 2 jüdische Familien,
--- 1707 ...................... 5 “ “ ,
--- 1761 ...................... 15 “ “ ,* * Kirchspiel Dierdorf
--- um 1770 ................... 10 “ “ ,
--- 1822 ...................... 77 Juden,
--- 1855 ...................... 170 “ ,** ** Bürgermeisterei Dierdorf
...................... 121 “ ,
--- 1900 ...................... 175 “ ,**
...................... 121 “ ,
--- 1924 ...................... 96 “ ,
--- 1931 ...................... 102 “ ,
--- 1933 ...................... 77 “ ,
--- 1939 (Jan.) ............... 2 jüdische Ehepaare.
Angaben aus: Uli Jungbluth, Juden in Dierdorf
und Luise Löwer, Die jüdische Gemeinde Dierdorf - 1938
Die jüdischen Familien lebten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem vom Handel mit Vieh, Ellen- und Kurzwaren; nach 1850 eröffneten einige von ihnen Geschäfte bzw. offene Handlungen am Ort.
Kleinanzeigen jüdischer Geschäftsleute aus Dierdorf
Welche patriotische Haltung die Dierdorfer Juden an den Tag legten, zeigt der Bericht zum Thora-Weihe-Fest vom Oktober 1913:
„ Zu der Freude, die uns durchrauscht, im Jubel, der uns heute durchzittert, wollen wir einer Pflicht genügen, die uns als guten Deutschen geziemt und als solche auch zieret. Obgleich wir schon an geheiligter Stätte Gottes Segen herabgefleht haben auf das Haupt unseres erhabenen Landesvaters, so können wir es doch bei dieser Feier nicht unterlassen, zuzujauchzen demjenigen, der die Verkörperung des Deutschthums, der mit starker Hand lenket und leitet die Geschicke unseres Vaterlandes. Wir erfüllen damit nicht nur ein Herzensbedürfnis, sondern auch eine religiöse Pflicht, die uns anerzogen und zur zweiten Natur geworden im Laufe der Jahrtausende, ... ... Wir wollen nicht erlahmen, jeder an seiner Stelle, in seinem ihm zugewiesenen Wirkungskreis, nach Kräften dem Wohle des Vaterlandes zu dienen. ... Möge das Band des Friedens und der Eintracht, welches die Angehörigen der verschiedenen Konfessionen in unserem Städtchen umschlingt ... dauern bis in die fernsten Zeiten. Von solcher Gesinnung erfüllt, lassen Sie uns zujubeln unserem erhabenen Fürsten ! Erheben Sie sich von ihren Sitzen und rufen Sie mit mir: ‘Se. Majestät unser erlauchter Kaiser und König, er lebe hoch !’ ...”
Anfang der 1930er Jahre lebten in Dierdorf etwa 100 jüdische Bewohner. Schon einige Jahre vor der NS-Machtübernahme gewannen NSDAP-Anhänger mit ihrer neu formierten Ortsgruppe in Dierdorf an Gewicht; so fiel ihre antisemitische Agitation im Ort auf fruchtbaren Boden und führte zu ersten judenfeindlichen Aktivitäten. Am 1.April 1933 postierten sich auch in Dierdorf SA-Angehörige vor jüdischen Geschäften und verwehrten Käufern den Zutritt. Eine Woche vor Erlass der „Nürnberger Gesetze” von 1935 ließ der Gemeinderat von Dierdorf die folgende Erklärung veröffentlichen; aus einer einstimmigen Entschließung des Gemeinderates vom 8. Sept. 1935:
... Wir sehen im Juden den unerbittlichen Feind gegen das neue Deutschland, den Schänder deutscher Frauenehre, den Ausbeuter unseres Volkes und den Fremdrassigen im Volke. In der Erkenntnis dieser Tatsachen und in der Erkenntnis, daß ohne Lösung der Judenfrage keine Erlösung des deutschen Volkes möglich wird, faßt daher der Gemeinderat Dierdorf folgende Entschließung:
1. Der Zuzug von Juden nach Dierdorf wird hiermit untersagt.
2. Der Erwerb von Grund und Boden, die Errichtung neuer jüdischer Geschäfte ... wird ebenfalls den Juden verboten.
3. Bei Verpachtungen und Versteigerungen jeglicher Art dürfen Juden kein Angebot abgeben. Fingierte Erwerbungen sind unzulässig und rechtlich unwirksam.
4. Den Juden und Judenknechten wird die Benutzung der Gemeinde-Viehwaage untersagt.
5. Keinem Handwerker, Geschäftsmann ... wird eine Gemeindearbeit oder Gemeindelieferung zuerteilt, der oder dessen Familienangehörige mit Juden irgendwelchen Verkehr pflegen, insbesondere den Juden auch in seinem Handel unterstützen. ...
Dieser Beschluß tritt sofort in Kraft und wird allen Volksgenossen durch öffentlichen Aushang, Bekanntgabe durch die Ortsschelle und durch Veröffentlichung im ‘Nationalblatt’ zur Kenntnis gebracht.
Der Bürgermeister und die Gemeindeältesten der Gemeinde Dierdorf.
Vermehrt wanderten nun jüdische Familien aus Dierdorf ab. 1936 wurde auch die jüdische Schule geschlossen; seitdem besuchten die wenigen Kinder die evangelische Ortsschule.
aus: "Israelitisches Familienblatt" vom 30.4.1936
Die Hauptverantwortlichen an den Ausschreitungen während des Novemberpogroms in Dierdorf waren hiesige SA-Angehörige; erstes Ziel der Zerstörung war die kaum zehn Jahre alte Synagoge, deren Inneneinrichtung zertrümmert wurde; auch Schulkinder sollen aufgefordert worden sein, sich an den Zerstörungen zu beteiligen. Eine beabsichtigte Sprengung des Synagogengebäudes konnte aber noch verhindert werden. Die noch in Dierdorf lebenden jüdischen Familien mussten mitansehen, wie ihre Wohnungen demoliert werden und das zerschlagene Mobiliar auf der Straße landete. Bei diesen „Aktionen“ sollen sich neben Dierdorfer Nationalsozialisten auch Arbeiter der dortigen Reichsautobahnbaustelle und auswärtige Gestapo-Beamte aktiv beteiligt haben.
In der Chronik der evang. Kirchengemeinde hieß es lapidar: „... Auch in Dierdorf fanden sich am 10.11.1938 eine Reihe von Männern und Jugendlichen bereit, sich an der Judenaktion zu beteiligen.” Bis auf zwei jüdische Ehepaare hatten Ende 1938 alle jüdischen Bewohner Dierdorf verlassen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind 52 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg in Dierdorf ansässig gewesene Bewohner mosaischen Glaubens Opfer der NS-Verfolgung geworden (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/dierdorf_synagoge.htm).
Wenige Jahre nach Kriegsende wurden gegen Dierdorfer Einwohner Ermittlungen „wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ angestellt. 1950 mussten sich neun Hauptbeschuldigte vor dem Schwurgericht Koblenz verantworten; die meisten wurden freigesprochen.
zerstörtes ehem. Synagogengebäude (Aufn. 1946), Abb. aus: Landesamt
Zum Gedenken an die jüdische Gemeinde Dierdorf und an die Zerstörung ihrer Synagoge wurde 1979 an der Stadtmauer eine Bronzetafel angebracht. In naher Zukunft soll an der alten Stadtmauer eine weitere Tafel angebracht werden, die an die ehemaligen Dierdorfer jüdischen Glaubens erinnert, die in der NS-Zeit verfolgt und ermordet wurden.
Auf dem ca. 2.000 m² großen jüdischen Friedhofsareal sind noch nahezu 120 Grabsteine erhalten.
Teilansicht des jüdischen Friedhofs in Dierdorf - zwei Grabsteine von 1850 (Aufn. J. Hahn, 2009)
[vgl. Puderbach (Rheinland-Pfalz]
Weitere Informationen:
Synagogenweihe in Dierdorf, in: Neuwieder Zeitung vom 10.4.1929
Graf von Looz-Corswarem, Aus Dierdorfs Vergangenheit, in: Festschrift zur 600-Jahrfeier der Stadtrechtverleihung an Dierdorf, Dierdorf 1957, S. 28 f.
Elisabeth Schwalbach, Das Schicksal der Juden aus Dierdorf zur Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945, Facharbeit Geschichte, Neuwied 1981
Gerhard Ebbinghaus, Zur Geschichte der Juden der wiedischen Herrschaft und des nassauischen Amtes Dierdorf, in: “Der Westerwald”, Heft 2/1986, S. 113 - 116
Albert Hardt, Vom Holzbach zur Wied. Geschichte des Puderbacher Landes, Puderbach 1992, S. 131 - 145 (Juden im Umland von Puderbach)
Wolfgang Dietz, Der Landkreis Neuwied, Verlag Peter Kehrein, 2.Aufl., 1996, S. 422 f.
Uli Jungbluth, Juden in Dierdorf, in: SACHOR - Beiträge zur jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz, Heft 14, 2/1997, S. 25 - 32
Luise Löwer, Die jüdische Gemeinde Dierdorf - 1938 (Unterlagen eines Seminarabends in der Veranstaltungsreihe “Wurzel Jesse” der Kirchengemeinden Dierdorf Frühjahr 2001)
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 136/137
Dierdorf mit Giershofen und anderen Orten der Umgebung, in: alemannia-judaica.de (mit Bild- und Textdokumenten - Bildmaterial zum jüdischen Friedhof)
Michael Meyer (Hrg.), Erinnerung - Jüdisches Leben in Dierdorf, Band 1: Der jüdische Friedhof in Dierdorf, 2012
Michael Meyer (Hrg.), Erinnerung - Jüdisches Leben in Dierdorf, Band 3: Die Shoah Vertreibung und Deportation aus der Heimat, 2012
Gerd Friedt/Michael Meyer, Haus des Lebens – Der Jüdische Friedhof in Dierdorf, 2014
Michael Meyer, Dierdorf – Newyork-Zitti. Familienbuch Dierdorfer Juden, Verlag epubli GmbH, 2015
Michael Meyer, Lebenswege deutscher Juden. Familien und Persönlichkeiten aus Dierdorf und …, Verlag Books on demand, 2016
Michael Meyer, Jüdisches Leben in Dierdorf, Teil I. Eine Nachlese anlässlich des 76.Jahrestages der Befreiung von Auschwitz, Selbstverlag 2021
Michael Meyer, Jüdisches Leben in Dierdorf, Teil II A – Familienbuch, Verlag Books on demand, 2021
Michael Meyer, Jüdisches Leben in Dierdorf, Teil III - Das Leben der Dierdorfer Juden im Spiegel der jüdischen Presse, Verlag Books on demand, 2021
Wolfgang Tischler (Red.), Dierdorf. Erinnerung an die Pogromnacht, in: „NR-Kurier“ vom 10.11.2021
Angela Göbler (Red.), An 250 Jahre jüdisches Leben in Dierdorf erinnern: 33 Familien um 1895, in: „Rhein-Zeitung“ vom 21.11.2021