Coswig (Sachsen-Anhalt)
Die an der Elbe liegende anhaltinische Große Kreisstadt mit derzeit ca. 11.500 Einwohnern – etwa zwölf Kilometer westlich der Lutherstadt Wittenberg bzw. ca. 20 Kilometer nordöstlich von Dessau-Roßlau gelegen - gehört seit der Gebietsreform (2007) zum Landkreis Wittenberg (hist. Kartenskizze, aus: wikipedia.org gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Wittenberg', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die Anfänge einer kleinen jüdischen Gemeinschaft im anhaltinischen Coswig lassen sich spätestens in den 1770er Jahren finden, als Familien vom Anhaltinisch-Bernburger Fürsten hier Wohnrecht erhielten. Doch bereits Jahrzehnte zuvor waren Juden auf den Coswiger Jahrmärkten anzutreffen; sonstiger Handel in der Stadt war nicht erlaubt, worauf die christliche Konkurrenz bestand und bei Nichtbeachtung beim Landesherrn Beschwerde führte. Im Laufe der Jahrzehnte vergrößerte sich dann die Zahl der jüdischen Anwohner deutlich (siehe Statistik).
Zunächst suchten die Juden Coswigs Gottesdienste in der Synagoge in Wörlitz auf. 1800 erbauten die Coswiger Juden in der Domstraße ihre eigene kleine Synagoge, einen schlichten Fachwerkbau; der kleine Saalbau war nach orthodoxem Ritus geordnet; so stand der Almemor in der Mitte des Raumes, wie es nach altem askenasischen Brauch üblich war. Etwa ca. 100 Jahre später erfolgte ein Umbau.
Die Gemeinde gehörte seit 1832 zum Landrabbinat Anhalt-Bernburg, das für alle religiös-kultischen Belange wie Gottesdienst, Schule, Friedhof u.a. zuständig war; das von der Coswiger Gemeinde erstellte Statut (1859) musste auch vom Bernburger Landesrabbiner genehmigt werden. Als ab Mitte der 1860er Jahre aus „eigener Kraft“ kein Minjam mehr zustande kam, griff man auf Teilnehmer von außerhalb zurück; schließlich musste man die regelmäßigen Gottesdienste ganz einstellen.
Ab Ende der 1880er Jahre konnte die immer kleiner werdende Coswiger Judenschaft aus monitären Gründen keinen eigenen Kantor mehr beschäftigen, sodass man die Dienste des Wörlitzer Kantors in Anspruch nahm.
Von dem um 1800 angelegten jüdischen Friedhof in der Heidestraße sind heute nur noch wenige Grabsteine erhalten; das Gelände war in der NS-Zeit eingeebnet, die Grabsteine zweckentfremdet worden. Möglicherweise wurden auf dem hiesigen Begräbnisareal auch Verstorbene aus umliegenden Ortschaften begraben. Vor 1800 diente der jüdische Friedhöfe in Wörlitz bzw. Wittenberg als „Guter Ort“.
Juden in Coswig:
--- 1793 ............................. 4 jüdische Familien (ca. 20 Pers.),
--- um 1800 .......................... 10 “ “ ,
--- 1828 ............................. 16 “ “ (ca. 65 Pers.),
--- um 1845 ...................... ca. 65 Juden,
--- um 1865 ...................... ca. 45 “ ,
--- 1871 ............................. 40 " ,
--- 1890 ............................. 8 " ,
--- 1900 ............................. 19 " ,
--- 1913 ............................. 12 “ ,
--- 1933 ............................. 9 “ ,
--- 1938 ............................. 12 “ .
Angaben aus: Auskünfte des Stadtarchivs Coswig
und Dietrich Bungenroth (Bearb.), Coswig, in: Jüdisches Leben in Anhalt - ..., S. 209
Ansicht Coswig – Stahlstich um 1840 (Abb. aus: ZVAB.com)
Zu Beginn des 20.Jahrhunderts war die Zahl der jüdischen Bürger in Coswig stark zurückgegangen. Obwohl die Synagoge in der Domstraße 1904 erneut umgebaut worden war, sollte es nur noch zwei Jahrzehnte dauern, bis hier die Gottesdienste ganz eingestellt wurden; das nun nicht mehr in Nutzung befindliche Gebäude wurde der Stadt als Heimatmuseum überlassen.
Während des Novemberpogroms wurden das bis ca. 1928 genutzte Synagogengebäude schwer beschädigt; Versuche, das Gebäude anzuzünden, scheiterten aber. 1939 wurde es dann abgerissen.
Das Warenhaus von Max Maerker in der Friederikenstraße wurde geplündert. Der jüdische Friedhof wurde fast völlig zerstört: Die Friedhofsmauer wurde niedergelegt, Grabsteine zerschlagen bzw. andersweitig verwendet.
Auf dem Begräbnisgelände (östlich der Heidestraße) - es wurde Anfang der 1950er Jahre wieder hergerichtet - sind heute nur noch drei Steine zu finden: ein in der Mitte stehender Gedenkstein wird dabei von den beiden Grabsteinen der Familien Blumenthal und Steinthal eingerahmt. Auch die 1843 erbaute Trauerhalle ist nicht mehr vorhanden.
Aufn. M_H.DE, 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0
Eine an einer Mauer angebrachte Gedenktafel am einstigen Standort der Synagoge erinnert heute wie folgt:
Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnstätten Israel.
Synagoge Coswig 1800 – 1938
An dieser Stelle erbauten die jüdischen Bürger unserer Stadt im Jahre 1800 ihre Synagoge,
im Jahre 1939 wurde die Synagoge auf Betreiben der Stadt abgerissen.
2013 wurden auf Initiative von Schülern fünf sog. „Stolpersteine“ in der Berliner Straße in Coswig verlegt; diese sind Angehörigen der Familie des ehemaligen Korksteinfabrikanten Heinz Rheinhold gewidmet. Nach dem Diebstahl der Steine wurden diese 2019 durch neue ersetzt.
Aufn. M.H.DE, 2015 (aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Ein berühmter Sohn der Stadt Coswig war der 1842 geborene Hermann Cohen. Er machte sich als Philosoph und Publizist einen Namen. Der einzige Sohn des jüdischen Vorsängers und Lehrers der Coswiger Gemeinde, Gerson Cohn, war ein Anhänger Kants. Mehr als 30 Jahre war er an der Universität Marburg als Philosophie-Professor tätig und begründete mit seinem Schüler Paul Natorp die ‘Marburger Schule’ des Neukantianismus. Wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg ging Cohen nach Berlin. In seinem „Bekenntnis in der Judenfrage“ formulierte er die Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose und vertrat damit die mehrheitliche Meinung der deutschen Juden gegen Ende des 19.Jahrhunderts. Seine politische Philosophie eines ethischen Sozialismus übte großen Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie aus. Seine wichtigste Arbeit war sein religionsphilosophisches Werk „Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums”; es erschien erst kurz nach seinem Tode. Hermann Cohen verstarb 1918 in Berlin; sein Grab findet sich in der Ehrenreihe des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee.
In seiner Geburtsstadt besteht seit 2000 die "Cohen-Gesellschaft Coswig e.V.", die sich das Ziel gesetzt hat, aufklärerische Kultur in und um Coswig und die wissenschaftliche Bedeutung der Philosophie und Ethik des Namensträgers zu erforschen, zu fördern und zu pflegen.
Weitere Informationen:
M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 285/286
Geschichte jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt - Versuch einer Erinnerung, Hrg. Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, Oemler-Verlag Wernigerode 1997, S. 53 - 56
Frank Orlik, “Mit der Kritik in der Hand und vor dem Auge die Domgasse abschreitend”. Der Philosoph Hermann Cohen (1842 - 1918) aus Coswig, in: Jutta Dick/Marina Sassenberg (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Sachsen-Anhalt Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 1998, S. 262 ff.
Karl Schmidt, Die Juden in Coswig. Eine Erinnerung an Coswiger jüdische Mitbürger, Museum Stadt Coswig, o.J.
Bernd Gerhard Ulbrich, Nationalsozialismus und Antisemitismus in Anhalt. Skizzen zu den Jahren 1932 bis 1942, edition RK, Dessau 2005
Ilka Hillger (Red.), Schüler geben Anstoß für Stolperstein, aus: „MZ – Mitteldeutsche Zeitung“ vom 7.12.2012
Stadt Coswig (Hrg.), Die Juden in Coswig, online abrufbar unter: coswigonline.de
Auskünfte seitens der Archivarin der Stadt Coswig (Jutta Preiß)
Auflistung der in Coswig verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Coswig_(Anhalt)
Ilka Hillger (Red.), Gedenken in Coswig – An jüdische Familie wird erinnert, in: „MZ - Mitteldeutsche Zeitung“ vom 10.11.2017
Hartwich Wiedebach (Red.), Hermann Cohens Kindheit – Aus Anlass seines 100. Todestages am 4.April 2018, in: "Kalonymos – Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut", 21. Jg. Heft 1/2018, S. 1 - 9
Ilka Hillger (Red.) Stolpersteine in Coswig. Mahnmale werden ersetzt – und bleiben, in: „MZ - Mitteldeutsche Zeitung“ vom 23.3.2019
Ryszard Rózanowski, Hermann Cohen in Breslau, in: „Kalonymos – Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Luwig Steinheim-Institut", 23. Jg., Heft 1/2020
Dietrich Bungenroth (Bearb.), Coswig, in: D. Bungeroth/J.Killyen/W.-E- Widdel (Bearb.), Jüdisches Leben in Anhalt - „Suche den Frieden und jage ihm nach“ (Psalm 34, 15, Hrg. Kirchengeschichtliche Kammer der Ev. Landeskirche Anhalts, Dessau-Roßlau 2020, S. 198 - 209 (in 3.Aufl. von 2023, S. 202 - 213)
Dietrich Bungeroth (Red.), Stolpersteine in der Berliner Str. 4, Familie Rheinhold, online abrufbar unter: coswigonline.de vom 26.2.2024