Genf (Schweiz)
Die Stadt Genf mit derzeit mehr als 200.000 Einwohnern liegt im äußerst südwestlichen Teil der französisch-sprechenden Schweiz am Ausfluss der Rhone aus dem Genfer See (Kartenskizzen 'Schweiz' mit Genf rot markiert, TUBS 2011, aus: wikivoyage.org und aus: swisstravelcenter.ch).
Im Kanton Genf haben die jüdischen Bewohner stets eine nur verschwindend kleine Minderheit dargestellt.
Allererste Hinweise auf Anwesenheit von Juden in Genf datieren aus den Jahren 1281/1282; doch erst gegen Ende des 14.Jahrhunderts bildete sich hier eine Gemeinde. Um 1400 hielten sich in Genf dauerhaft 13 jüdische Familien auf. Um 1430 wurde den hier lebenden jüdischen Familien die Auflage gemacht, sich im "Judenviertel" („Juiverie“) niederzulassen. Diese ghettoartige Ansässigkeit endete im Jahre 1490, als der Genfer Magistrat deren Ausweisung anordnete. Der mittelalterliche jüdische Friedhof kam daraufhin in kirchlichen Besitz: Gräber wurden abgeräumt und das Gelände danach landwirtschaftlich genutzt. Teilweise ließen sich die aus Genf ausgewiesenen Juden im nahen Versoix nieder.
Erst seit 1780 wurden in Carouge – einem heutigen Stadtteil von Genf – vermehrt jüdische Familien ansässig, die zumeist aus dem Elsass hierher kamen. Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörten ein Bethaus, eine Mikwe und ein eigener Friedhof (dieser wurde bis in die 1970er Jahre benutzt).
Im vom reformierten Glauben dominierten Genf galten Juden damals weiterhin als "unerwünscht". Aber auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen waren nur „geduldet“, ohne das Recht, in der Stadt eigene Gotteshäuser einzurichten. Dies änderte sich für die Juden erst, als Courage in den neu geschaffenen Kanton Genf eingegliedert wurde.
Über die Historie der jüdischen Gemeinde in Carouge bzw. deren Anfänge der in Genf berichtete ein Artikel der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ vom Jan. 1847 wie folgt:
" Die israelitische Gemeinde zu Genf - aus 20 Familien bestehend - ist zusammengesetzt aus den nun übergesiedelten Nachkommen der früheren berüchtigten Gemeinde zu Carouche. Dieses Städtlein ist beinahe an den Toren Genfs und gehört jetzt zu dessen Gebiete. … Um dieses Städtlein volkreich zu machen, erteilte der damalige Herzog von Savoyen allen Heimatlosen und dergleichen das Asylrecht. Es ließen sich auch Juden herbei, von denen die meisten zur niedersten Klassen, einige sogar zur Klike der Beutelschneider gehörten. - Die gegenwärtigen Israeliten zu Genf haben sich aber dermaßen emporgeschwungen, dass sie in moralischer Beziehung hoch über den früheren Carouger Ahnen erhaben stehen. Es sind dieselben ehrenfeste, fleißige und redliche Leute, die meistens bedeutende solide Handelshäuser bilden, von denen aber andere wieder, besonders die jüngeren Leute, sich mit der Uhrmacherei, Bijouterie, Gravüre und Pelleterie sich befassen. … Diese Leute … ließen es sich in neuerer Zeit angelegen sein, eine ordentliche Synagoge zu etablieren und ihren Kindern einen Religionslehrer zu geben.“ (in Auszügen wiedergegeben)
Im Jahre 1852 erlangte die jüdische Gemeinde ihre staatliche Anerkennung.
Ein Jahr später (1853) erhielt nun die neu gegründete jüdische Gemeinde in Genf („Communauté israélite établie dans le canton de Genève") die Erlaubnis, in der Stadt eine Synagoge zu errichten. 1855 wurde das neue Gotteshaus – ein Bauwerk im maurisch-byzantinischen Stil – eingeweiht. Der Kuppelbau mit vier Türmchen war ein Werk des Architekten Jean-Henri Bachofen. Über dem Portal des völlig freistehenden Gebäudes war die Inschrift „Ma maison sera appelée une maison de prières pout toutes les nations“ („Mein Haus wird ein Haus des Gebetes für die alle Nationen genannt werden“) angebracht.
Die "Große Synagoge" unmittelbar nach der Errichtung (aus: R. Epstein, die Synagogen der Schweiz)
Beth Yaakov Synagoge heute (Aufn. R. Lindman, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und 2012,aus: wikipedia.org CCO)
Hinweis: Neben der aschkenasischen Beth-Yaakov-Synagoge (auch "Große Synagoge" genannt) gibt es heute in Genf weitere fünf Synagogen: eine sephardische, eine Reformsyangoge, eine der Chabad-Gemeinde, eine orthodoxe und eine weitere der liberalen israelitischen Gemeinde.
Als langjähriger Großrabbiner in Genf amtierte der aus Rumänien stammende Alexandre Safran (geb. 1910 in Bacau). Nach seiner Amtszeit als Großrabbiner Rumäniens (1940–1948) kam er schließlich 1948 nach Genf, wo er bis zu seinem Tode (2006) das Rabbinat führte. Zudem lehrte er an der Universität Genf jüdische Religionsphilosophie und war Verfasser zahlreicher Publikationen. Sein Grab befindet sich in Israel.
Als der Friedhof in Carouge belegt war, gelang es der Israelitischen Gemeinde Genf, ein Begräbnisgelände einer französischen Gemeinde (in Veyrier) an der schweizerisch-französischen Grenze mitbenutzen zu dürfen. Seit 2007 (!) ist es Juden nun gestattet, ihre Verstorbenen auf Schweizer Territorium zu begraben.
Juden in Genf:
--- 1847 .................... ca. 20 jüdische Familien,
--- 1852 .................... ca. 65 jüdische Familien,
--- um 1870/75 .............. ?
--- 2000 ................... ca. 4.400 “ ,*
--- 2017 ................... ca. 3.500 “ .* * im Kanton Genf
Angaben u.a. aus: Volkszählungen in der Schweiz
Genf um 1860 - Lithographie (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Während des Ersten Weltkrieges entstand die Keimzelle einer sephardischen Bruderschaft (Familien aus dem Osmanischen Reich waren nach 1900 zugewandert), der sog. „Groupe fraternel séfaradi“. In den Jahrzehnten zwischen 1950 und 1970 kamen weitere sephardische Juden aus dem Nahen Osten sowie aus nordafrikanischen Ländern nach Genf; in den hier etablierten Betgemeinschaften lebten sie zumeist nach dem Ritus ihrer Herkunftsländer.
Hekhal Haness Synagoge Genf (Aufn. H., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Die Hekhal Haness Synagoge ist die größte Synagoge in Genf; sie wurde 2007 durch ein Schadensfeuer stark in Mitleidenschaft gezogen.
Seit 2010 besitzt die Liberale Israelitische Gemeinde Genf (GIL) - sie hatte sich 1970 gebildet und ist heute die größte liberale Gemeinde in der Schweiz mit derzeit ca. 1.500 Angehörigen - ein neues Gemeindezentrum mit einer ca. 500 Plätzen ausgestatteten Synagoge. Dieser Neubau war der Tatsache geschuldet, dass sich die Zahl der Gemeindeangehörigen seit den 1970er Jahren drastisch vergrößert hatte. Die Einweihung des modernen Synagogengebäudes – es hat die Form eines Schofars (Widderhorn) – erfolgte unter Teilnahme vieler hunderter Gäste, darunter den Repräsentanten der Stadt und der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Der mit einem Kostenaufwand von ca. 12 Mill. Franken erfolgte Bau wurde fast ausschließlich durch private Spenden finanziert.
Entwurf des neuen Gemeindezentrums (Abb. aus: gil.ch)
Am UNO-Standort Genf soll künftig das erste Schweizer Mahnmal für die ermordeten Juden entstehen. Als Standort ist ein Park zwischen dem Palais des Nations und dem Sitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) vorgesehen.
Weitere Informationen:
E. Ginsburger, Histoire des Juifs de Carouge. Juifs de Léman et de Genève, Paris 1923
Augusta Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden in der Schweiz. Vom 16.Jahrhundert bis nach der Emanzipation, 2 Bände, Zürich 1970
Willy Guggenheim (Hrg.), Juden in der Schweiz. Glaube, Geschichte, Gegenwart, Küsnacht 1982
Willy Guggenheim (Hrg.), Juden in der Schweiz. Glaube - Geschichte - Gegenwart, edition kürz, Küsnacht/Zürich 1987
Peter Bollag, Genf: Kleiner Grenzverkehr. Seit einigen Wochen müssen Genfer Juden ihre Toten nicht mehr im Nachbarland Frankreich begraben, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 30.8.2007
N.N. (Red.), Synagoge in Genf durch Feuer zerstört, in: „Die Welt“ vom 24.5.2007
J. Plancon, Histoire de la communauté juive de Carouge et de Genève, Genf 2008
Vivianne Berg (Red.), Erhellende Synagogenforschung, in: "tachles" No. 10 (März 2008)
Ron Epstein-Mil, Die Synagogen der Schweiz – Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation, in: Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, Band 13, Chronos-Verlag, Zürich 2008
Laurence Leitenberg (Bearb.), Genf, online abrufbar unter: swissjews.ch/de/wissen/factsheets/genf/ (2009)
Andrea Krogmann (Übers.), Das erste jüdische Gotteshaus seit einem halben Jahrhundert, hrg. von der Katholischen Internationalen Presseagentur vom 16.3.2010
Roger Reiss, Nicht immer leicht, a Jid zu sein – Geschichten aus dem jüdischen Genf, Chronos Verlag, Zürich 2010
Tina Walzer, Mein jüdisches Genf, in: „DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift“ Heft 85/2010
Tina Walzer (Red.), Die Beth-Yaakov-Synagoge in Genf, in: „DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift“ Heft 85/Juni 2010
Christophe Büchi (Red.), Genf – ein Kanton ohne Konfession, in: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 2.2.2019
kna (Red.), Erstes Schweizer Mahnmal für ermordete Juden am UN-Standort Genf, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 19.3.2023