Gau-Algesheim (Rheinland-Pfalz)
Gau-Algesheim ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 6.500 Einwohnern im Landkreis Mainz-Bingen und Verwaltungssitz der gleichnamigen Verbandsgemeinde – nur wenige Kilometer östlich von Bingen gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org CCO und Kartenskizze 'Landkreis Mainz-Bingen', aus: ortsdienst.de/rheinland-pfalz/mainz-bingen).
Zu Beginn des 14.Jahrhunderts hielten sich vermutlich bereits wenige jüdische Familien im Ort auf; aus diesem Jahrhundert soll auch ein Friedhof („Judenkirchove“) stammen. Es gab damals also vermutlich schon eine kleine jüdische Gemeinde in Gau-Algesheim; diese ging wahrscheinlich in der Zeit der Pestpogrome zugrunde. In den Folgejahrhunderten haben sich dann nur vereinzelt jüdische Bewohner am Ort aufgehalten. Den Judenschutz hatte der Erzbischof von Mainz inne. Erst nach Mitte des 17.Jahrhunderts liegen dann wieder gesicherte urkundliche Belege für jüdisches Leben in Gau-Algesheim vor. In der Kurmainzer Verordnung von 1679 heißt es:
„ ... Weilen man vernehmet, daß die Müller wie auch die Juden zu Algesheim der Kirchenordnung in und zu wieder leben, in demem die Müller wehrend des Sonn- und Feyertäglichen Gottesdienst herum pfaren ..., da doch solches in wehrenthem Gottesdienst ohne höchste und größte Not nicht zugelaßen. Die Juden aber sonn- und feyertags Fleisch ausschlachte, und sonsten ihrem Wucher nachgehen, und dadurch viele Underthanen den Gottesdienst versäuhmen. ... Den Juden aber wirt hiemit bey 10 fl.Straf befohlen hinfüro und inskünftig sonntags und gebottene Feyertäg nit zu schlachten, viell weniger Fleisch auszuhandeln und zu verkauffen, wie im gleichen auch sich wehrentem Gottesdienst in ihren Heußern zu bleiben, ihrem Wucher und Hanthierung bis nach gehaltenem Gottesdienst nicht nachgehen.”
Weitere namentliche Erwähnungen jüdischer Bewohner von Gau-Algesheim sind vor allem Gerichtsakten des 18.Jahrhunderts und Eintragungen in den Kirchenbüchern zu entnehmen. Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörte ein Beerdigungsgelände (Flur "Am Judensand) und eine Synagoge, die um 1835 bereits existierte und eine in einem Privathause untergebrachte Betstube ablöste. Um 1875 wurde das Synagogengebäude umgebaut.
Skizze der Synagoge (aus: P. Arnsberg)
Von 1838 ist ein Protokoll überliefert, das für die Gau-Algesheimer Synagoge eine feste Ordnung festschrieb; darin hieß es u.a.:
„ ... Nach gewonnener Überzeugung, daß diese Ordnung seither vielfältig gestört und durch manche Unfuge die Würde der Religion herabgesetzt wurde, daß alle früheren vom Vorstande deshalb erlassenen Verordnungen unbeachtet blieben, weil die Uebertretenden auf Straflosigkeit rechneten, der Vorstand aber nunmehr seine Pflichten genau ins Auge fassend, und des Beistands versichert fest entschlossen ist, besagte Ordnung in der Synagoge durchaus aufs kräftigste aufrecht zu erhalten, beschließt wie folgt:
(Anm.: Nun folgen 13 detailliert aufgeführte Gebote bzw. Verbote)
Zeitweilig war ein Lehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schächter fungierte.
Die kleine Gemeinde unterstand dem Rabbinat Bingen.
Juden in Gau-Algesheim:
--- 1687 .......................... eine jüdische Familie,
--- um 1720 ....................... 12 Juden,
--- 1790 .......................... 20 “ ,
--- 1808 .......................... 3 jüdische Familien,
--- 1824 .......................... 36 Juden (in 6 Familien),
--- 1857 .......................... 50 “ ,
--- 1875 .......................... 65 “ (ca. 2,5% d. Bev.),
--- 1900 .......................... 27 “ ,
--- 1909 .......................... 70 “ ,
--- 1933 .......................... 22 “ ,
--- 1939 .......................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 236
und Ludwig Hellriegel/u.a., Judaica. Die Geschichte der Gau-Algesheimer Juden, S. 70
Ab Mitte des 19.Jahrhunderts galten die jüdischen Familien in Gau-Algesheim integriert; dies bewiesen Mitgliedschaften in örtlichen Vereinen.
Stellenangebote des Handelsgeschäftes S. Nathan (1899/1902)
Doch Abwanderungen, die sich besonders in den 1920er Jahren verstärkten und in der NS-Zeit fortsetzten, führten dazu, dass Ende der 1930er Jahre schließlich keine Juden mehr in Gau-Algesheim gelebt haben. In der zunächst von der Zentrumspartei dominierten Kleinstadt hatte sich immer mehr der Einfluss der Nationalsozialisten durchgesetzt.
Im „Nachrichtenblatt der Gemeinden Gau-Algesheim, Heidenheim und Wackernheim, Bez.ausgabe Gau-Algesheim“ vom 9.12.1938 ist ein polemischer Artikel zur „Judenfrage“ zu lesen:
„ ... In aller Deutlichkeit: Gut Freundschaft mit Juden ? Wie ? Gibt es sowas in Gau-Algesheim ? Ja, lieber Volksgenosse, so etwas gabs bis vor kurzem hier in unserem Städtchen ! Und zwar gab es einen Zeitgenossen aus der Weingasse, welcher mit den erst vor wenigen Tagen von hier verschwundenen Judenweibern Nathan / Mayer und Konsorten gute Freundschaft hielt. ... Und wie in den Tagen des ruchlosen Mordes in Paris sich auch hier Bewohner darüber Luft machten und dem Judenhaus einen abendlichen Besuch abstatteten, da fühlte sich dieser Zeitgenosse in der Nachtruhe gestört. ... Aber nicht genug, lieber Volksgenosse: nachdem die Judenweiber ihre Kisten und Kasten zur Abreise für immer gepackt hatten, fühlte sich der Herr Nachbar bemüßigt, den Judenweibern die Koffer zur Bahn zu bringen. ... Wer Juden bedauert und Freundschaft mit ihnen hält, ist ein Lump und Verräter ! ”
Die letzten beiden Jüdinnen verließen Anfang Dezember 1938 ihren Heimatort.
Während der NS-Zeit wurde der kleine jüdische Friedhof geschändet. Die Synagoge war bereits 1936 geschlossen worden; deren Ritualien wurden teilweise nach Mainz verbracht, teilweise versteigert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 15 gebürtige bzw. länger hier wohnhaft gewesene Gau-Algesheimer Bürger jüdischen Glaubens Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gau_algesheim_synagoge.htm).
Am Ehrenmal auf dem alten Friedhof ist seit 1986 eine Gedenktafel angebracht, die folgende Inschrift trägt:
Die Stadt Gau-Algesheim gedenkt ihrer jüdischen Mitbürger,
die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft wurden.
Aufn. D. Lottmann-Kaeseler
Drei Hinweistafeln zur jüdischen Geschichte von Gau-Algesheim und Ockenheim wurden Ende 2008 am jüdischen Friedhof Gau-Algesheim angebracht. Zahlreiche Grabsteine waren in der NS-Zeit zerstört bzw. deren Inschriften unkenntlich gemacht worden. Weitere Friedhofsschändungen wurden dann auch in den Jahrzehnten danach verzeichnet. Anfang der 1980er Jahre wurden alle noch vorhandenen Grabsteine von ihren ursprünglichen Standorten entfernt und an der Friedhofsmauer platziert.
jüdischer Friedhof von Gau-Algesheim (Aufn. A., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0 und J. Hahn, 2005)
Das ehemalige Synagogengebäude ist bis auf den heutigen Tag erhalten; allerdings ist es dem Verfall preisgegeben. An dessen Standort weist ein Schild darauf hin, dass in Gau-Algesheim erstmals im Jahre 1332 Juden gelebt haben.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. D. Lottmann-Kaeseler 2008)
In Gau-Algesheim wurden einige sog. „Stolpersteine“ verlegt – so u.a. fünf Steine in der Weingasse, die an Angehörige der jüdischen Familie Nathan erinnern (Aufn. Alfons Tewes, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0).
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In Ockenheim, heute zur Verbandsgemeinde Gau-Algesheim gehörig, existierte bis in die 1930er Jahre auch eine kleine jüdische Gemeinde.
[vgl. Ockenheim (Rheinland-Pfalz)]
In Appenheim - ebenfalls Teil der Verbandsgemeinde Gau-Algesheim - lebten vermutlich bereits im 16.Jahrhundert wenige Schutzjuden-Familien. Im 19.Jahrhundert bildete sich eine winzige jüdische Gemeinde heraus, die im Laufe ihrer Existenz aber kaum jemals mehr als 40 Angehörige besaß. Zu ihren gemeindlichen Einrichtungen gehörten ein um 1850 angelegter Friedhof am Welzbach und ein Bethaus in der Obergasse. Die Gemeinde löste sich um 1920/1930 ganz auf; verbliebene Familien schlossen sich der Gemeinde Bingen an. Im Jahre 1939 lebte nur noch eine einzige jüdische Familie im Dorf. Der „Endlösung“ fielen ca. 15 gebürtige Appenheimer Bewohner mosaischen Glaubens zum Opfer.
Der nördlich der Ortschaft gelegene Friedhof weist ca. 20 Grabsteine auf.
Friedhof in Appenheim (Aufn. A., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Zwei ältere Grabsteine (Aufn. J. Hahn, 2005)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 45 und S. 236
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 68
Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 423
Schon im 14.Jahrhundert gab es Juden in Gau-Algesheim, in: "Allgemeine Zeitung" vom 24.2.1988
Norbert Diehl, Judenhaß und Menschenfreundlichkeit 1938, in: Gau-Algesheim. Historisches Lesebuch, in: "Beiträge zur Geschichte des Gau-Algesheimer Raumes", No. 41/1999, S. 99 f.
Ludwig Hellriegel/u.a., Judaica. Die Geschichte der Gau-Algesheimer Juden, in: Carl-Brilmayer-Gesellschaft (Hrg.), "Beiträge zur Geschichte des Gau-Algesheimer Raumes", Band 22A/1986, Aufl. 2004
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 82 (Appenheim) und S. 160/161 (Gau-Algesheim)
Gau-Algesheim, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Appenheim, in: alemannia-judaica.de
Klaus Rein (Red.), Gau-Algesheim erinnert mit Stolpersteinen an ermordete jüdische Mitbürger, in: „Allgemeine Zeitung. Rhein-Main-Presse“ vom 17.4.2015
Auflistung der in Gau-Algesheim verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Gau-Algesheim
Klaus Rein (Red.), Ein aktueller Flyer soll in Gau-Algesheim an die ermordeten jüdischen Bürger erinnern, in: „Allgemeine Zeitung. Rhein-Main-Presse“ vom 10.3.2018