Groß-Karben (Hessen)
Groß-Karben ist ein Stadtteil von Karben mit derzeit ca. 5.200 Einwohnern im Süden des Wetteraukreises– ca. 25 Kilometer nördlich der Mainmetropole gelegen (Kartenskizzen 'Wetteraukreis', aus: ortsdienst.de/hessen/wetteraukreis und 'Stadtteile von Karben').
Die Etablierung einer jüdischen Gemeinde in Groß-Karben erfolgte erst um 1800; zusammen mit Familien aus den umliegenden Ortschaften (Klein Karben, Okarben und Rendel) hatten sich die Juden Groß-Karbens zu einer Synagogengemeinde zusammengeschlossen.
In den beiden Jahrhunderten zuvor hatte es immer wieder Spannungen zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern gegeben. Bis 1739 war den Juden jeglicher öffentlicher Gottesdienst hier verboten.
Hinweis: Zu diesem Verbot soll zudem auch ein „religiöser Krawall“ beigetragen haben, der sich 1709 in Groß Karben ereignet hatte: So soll der hier lebende Jude Heyen anlässlich des jüdischen Neujahrsfestes versucht haben, einen öffentlichen Gottesdienst zu halten und - gemäß den Traditionen des mosaischen Glaubens - das Schofarhorn geblasen haben. Gegenreaktionen der Groß Karbener Christen führten daraufhin zu einem „öffentlichen Tumult“. Der Jude Heyen wurde für dieses „Vergehen“ mit einer hohen Geldstrafe von 200 Reichstalern belegt.
Zeitgleich mit der Erlaubnis, öffentlich Gottesdienste abzuhalten, wurde in Groß-Karben auch eine private Religionsschule eingerichtet.
Die jüdische Gemeinde verfügte vermutlich seit 1830/1832 über eine etwa 100 Plätze fassende Synagoge in der Heldenbergener Straße. Auch die wenigen Juden aus dem Nachbarort Petterweil besuchten bis 1876 das dortige Bethaus. In den vorausgegangenen Jahrzehnten war ein Synagogenraum in einem ehemaligen Gutshof genutzt worden. Auch über eine Mikwe verfügte die jüdische Gemeinde
Synagoge in Groß-Karben (Gedächtnisskizze Edgar Braun/USA)
Nur wenige Monate vor der NS-Machtübernahme wurde die hiesige Synagoge umfassend renoviert; dazu hieß es in einem Artikel der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 17.Nov. 1932: " Groß-Karben, 15. Nov. Die israelitische Gemeinde Groß-Karben (bei Friedberg i. Hessen) hat in diesem Jahre ihre alte Synagoge einer gründlichen Renovierung unterzogen. Die kleine, 26 Familien zählende Gemeinde, mit einem rührigen Vorstand an der Spitze, hat damit bewiesen, daß es auch in dieser so schweren Zeit möglich ist, aus eigener Kraft etwas Großes zu schaffen. Gern und freudig hat jeder Einzelne gegeben, um das von den Vätern ererbte G’tteshaus vor dem Verfall zu schützen und in würdigem Zustand zu wissen. Der Lehrer der Gemeinde, Herr Markus, der eigentliche Vater des Projektes, hat dessen Kosten aus freiwilligen Spenden innerhalb der Gemeinde gesammelt und sich mit diesem Werk ein bleibendes Verdienst um seine Gemeinde erworben. Am 1. Abend Roschhaschono dankte Herr Markus in einer gehaltvollen Ansprache den Gemeindemitgliedern und pries deren Gebefreudigkeit. Die Groß-Karbener Juden aber sind stolz auf ihr Werk und auf ihre Synagoge! "
Seit 1740 soll es hier eine private jüdische Schule gegeben haben.
Religiöse Aufgaben der Gemeinde waren einem angestellten Lehrer übertragen, der neben der Unterweisung der Schulkinder auch als Vorbeter und Schächter tätig war; zeitweise unterrichtete der hiesige Lehrer auch jüdische Kinder umliegender Gemeinden.
Gemeindliche Stellenangebote aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 4.Jan. 1865 und vom 18.Juli 1871
Die jüdische Begräbnisstätte wurde um 1860 angelegt und befand sich in der Nähe des christlichen Friedhofs (Lindenstraße/Heldenberger Straße); in Klein-Karben hat es ebenfalls ein Begräbnisareal gegeben, das aber aufgelassen wurde.
Die Gemeinde gehörte zum liberalen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen.
Juden in Groß-Karben:
--- 1804 .......................... 94 Juden,
--- 1819 .......................... 103 “ ,
--- 1828 ...................... ca. 130 “ ,
--- 1843 .......................... 108 “ ,
--- 1861 .......................... 152 “ (ca. 17% d. Bevölk.),
--- 1871 ...................... ca. 220 “ ,* * gesamte Kultusgemeinde
--- 1900 .......................... 132 “ (ca. 10% d. Bevölk.),
--- 1910 .......................... 101 “ (in ca. 30 Familien),
--- 1925 .......................... 80 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1933 .......................... 73 “ ,
--- 1941 ...................... ca. 30 “ ,
--- 1942 (Dez.) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 288
und Helmut Weigang, Groß-Karben und seine Juden - Dokumentation, 5.Aufl., Groß-Karben 1996
Die Groß-Karbener Juden – sie wohnten überwiegend im alten Ortskern, vor allem in der Bahnhofstraße, Heldenberger-, Burg-Gräfenröder- und Parkstraße - verdienten im beginnenden 20.Jahrhundert ihren Lebensunterhalt vor allem im Groß- und Kleinhandel, nur wenige im Handwerk; die jüdischen Familien waren mehrheitlich recht wohlhabend. Zu Beginn der NS-Zeit waren in Groß-Karben etwa 70 Bürger jüdischen Glaubens wohnhaft. Sie mussten von Anbeginn der NS-Herrschaft Belästigungen, Diffamierungen und auch physische Misshandlungen ertragen; besonders die örtliche SA tat sich hervor. Diejenigen Dorfbewohner, die weiterhin Kontakte mit Juden pflegten, wurden ebenfalls öffentlich gedemütigt und verunglimpft. Während des Novemberpogroms 1938 wurde die Synagoge in der Heldenberger Straße von Angehörigen des SA-Sturms Okarben ausgeraubt, in Brand gesetzt und zerstört; das gleiche geschah mit dem benachbarten jüdischen Badehaus. Auch ein naher Scheunenbau eines jüdischen Dorfbewohners ging in Flammen auf; auf Anweisung des Bürgermeisters (seit 1931 hiesiger NSDAP-Ortsgruppenleiter) durfte die angerückte Feuerwehr den Brand nicht löschen. Am 10. November 1938 rückte ein SA-Sturm erneut ins Dorf ein, holte sämtliche männliche Juden aus ihren Häusern, sperrte sie ins Spitzenhaus und misshandelte sie brutal. Deren Wohnungen wurden nun systematisch geplündert, Wertgegenstände geraubt und Inventar zerstört und anschließend auf die Straße geworfen. Auch die noch bestehenden jüdischen Geschäfte wurden zerstört. Sieben Männer wurden ins KZ Buchenwald verschleppt.
Bis 1940 hatten die allermeisten jüdischen Bewohner die Ortschaft verlassen; ein Teil war nach Frankfurt/M. gezogen; vor allem wohlhabendere Familien gingen in die Emigration. Mit der Deportation der letzten jüdischen Bewohner Groß Karbens im Herbst 1942 endete die jüdische Geschichte des Ortes; im Februar 1945 wurde die letzte, mit einem „Arier“ verheiratete Jüdin nach Theresienstadt verschleppt.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 46 gebürtige bzw. längere Zeit ansässig gewesene jüdische Bewohner Groß-Karbens Opfer der Shoa geworden; aus Okarben waren es fünf Personen und aus Klein-Karben eine Jüdin (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gross-karben_synagoge.htm).
Ausgebrannte Synagoge (Aufn. Edgar Braun, Mai 1945)
Die Brandruine der Synagoge wurde nach 1945 abgetragen.
Vor dem Landgericht Gießen wurden 1949 zwölf Personen wegen Landfriedensbruch angeklagt, die an den Vorgängen beim Novemberpogrom aktiv beteiligt waren. Sieben wurden freigesprochen, vier erhielten mehrmonatige Gefängnisstrafen. Die höchste Strafe von einem Jahr erhielt Heinrich Flach, der seit 1931 NSDAP-Ortsgruppenleiter in Groß-Karten und von 1933 bis 1941 Bürgermeister der Gemeinde war.
Seit 1985 erinnert eine unscheinbare Gedenktafel an den ehemaligen Standort der Synagoge mit den Worten:
Auf diesem Grundstück befand sich die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Groß-Karben.
Das Gebäude wurde 1938 zerstört.
Der am Ortsrand liegende jüdische Friedhof von Groß-Karben weist auf einer Fläche von ca. 1.100 m² relativ wenige Grabsteine auf, die unregelmäßig auf dem Gelände verteilt stehen.
Aufn. J. Hahn, 2008
Auf dem Friedhofsgelände erinnert ein Gedenkstein mit -tafel an die jüdischen Opfer der NS-Gewaltherrschaft.
Gedenkstein (Aufn. Karsten Ratzke, 2018, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Seit 2007 beteiligt sich auch Karben am sog. „Stolperstein“-Projekt des Künstlers Gunter Demnig; inzwischen wurden ca. 60 messingfarbene Gedenktäfelchen in Groß-Karben, Burg-Gräfenrode, Okarben und Rendel verlegt (Stand 2022).
Stolpersteine verlegt in der Bahnhofstraße (Aufn. 2016, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Eine sog. "Stolperschwelle" erinnert seit 2016 zudem an den ehemaligen Standort der Synagoge ("Hier erbaut 1840 die SYNAGOGE der JÜDISCHEN GEMEINDE GROSS-KARBEN - geschändet und zerstört 10.November 1938").
"Stolperschwelle" (Aufn. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Gegen Ende des 19.Jahrhunderts bestand in Klein-Karben bereits keine israelitische Gemeinde mehr, die zuvor stets nur über sehr wenige Familien verfügt haben soll. Die wenigen jüdischen Familien in Klein-Karben waren Teil der Synagogengemeinde von Groß-Karben gewesen. Eine aus Klein-Karben stammende Jüdin wurde Opfer der Shoa.
Von der einstigen relativ großflächigen jüdischen Begräbnisstätte in Klein-Karben (Flurstück „Am Judenbegräbnis“) sind heute kaum sichtbare Spuren mehr vorhanden. So sollen bereits nach 1945 die letzten Grabsteinreste entfernt worden sein. Die letzte Beerdigung war auf dem Gelände im Jahre 1905 erfolgt.
Nur ein von der Vegetation überwachsener Gedenkstein erinnert heute an die einstige Bestimmung des von Bäumen bestandenen Geländes.
Der Odenwälder Heimatdichter Karl Schäfer hat dem „Judenkirchhof bei Kleinkarben“ ein Gedicht gewidmet, in dem es zu Anfang heißt: „Bei Klein-Karben in dem Felde liegt ein Friedhof fast vergessen. Seine Mauern sind zerfallen und geschwunden die Cypressen. Halb im falben Moos verborgen, sagt die Inschrift auf den Steinen, daß dereinst zerstreute Juden sich im Grabe hier vereinen". (vollständiger Text des Gedichtes siehe: „Der Israelit“ vom 24.10.1877)
Unweit Groß-Karbens liegt das Dorf Burg-Gräfenrode, in dem im 19.Jahrhundert eine jüdische Gemeinde existierte; deren Anfänge lagen um 1740/1750. Der Betsaal befand sich in der Freihofstraße, der bis 1914/1915 in Nutzung war; nach dessen Schließung wurden die Ritualien nach Groß-Karben gebracht. Der jüdische Friedhof im Einsiedelwald entstand nach 1800, doch hatten die ansässigen Juden in diesem Waldstück schon Jahrzehnte zuvor ihre Toten beigesetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg wanderten die meisten Familien ab, und die Gemeinde löste sich 1927 auf. Während der Novembertage 1938 kam es zu Übergriffen gegen die wenigen hier noch lebenden jüdischen Familien. Ende der 1930er Jahre verzogen die letzten Familien nach Frankfurt/Main; von dort erfolgte deren Deportation. Mindestens zwölf Burg-Gräfenroder Juden wurden Opfer der „Endlösung“.
Jüdischer Friedhof Burg-Gräfenrode (Aufn. J. Hahn, 2008)
Etwa 20 Grabsteine des westlich der Ortschaft liegenden jüdischen Friedhofs sind noch erhalten.
2009 wurden die ersten sog. „Stolpersteine“ in Burg-Gräfenrode verlegt.
verlegt für Angehörige der Fam. Löwenberg, Weißenburgstraße (Aufn. I.w. 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Seit 2017 erinnert der „Klärchenweg“ in einem Neubaugebiet Burg-Gräfenrodes an die 1922 geborene Clara Kirschberg (verh. Zweig), die mit einem Kindertransport nach England kam und von hier später in die USA übersiedelte.
vgl. Burg-Gräfenrode (Hessen)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 102 – 104 und S. 288 - 290
Helmut Heide, Zur Geschichte der Groß-Karbener Juden, in: Karben - Geschichte u. Gegenwart, Hrg. Magistrat d. Stadt Karben, 1973, S. 278 – 298
Wilfried Rausch, Es klingt aus alten Tagen - Burg-Gräfenroder Heimatbuch, Hrg. Magistrat der Stadt Karben, Karben 1982 (Kap. 26: Die jüdische Gemeinde in Burg-Gräfenrode)
Helmut Weigang, Groß-Karben und seine Juden - Dokumentation, 5.Aufl., Groß Karben 1996
Susanne Gerschlauer, Katalog der Synagogen, in: Ulrich Schütte (Hrg.), Kirchen und Synagogen in den Dörfern der Wetterau, in: "Wetterauer Geschichtsblätter - Beiträge zur Geschichte u. Landeskunde", Band 53, Friedberg (Hessen) 2004, S. 565
Groß-Karben, Klein-Karben, Okarben, Petterweil und Rendel, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Text- u. Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Susanne Krejcik (Red.), Karbens vergessene Synagoge, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 10.11.2012
Andreas Groth (Red.), Skizze mit trauriger Geschichte, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 13.10.2014 (betr. Synagogengebäude)
Stolpersteine in Karben – Um was geht es ?, hrg. von der Initiative „Stolpersteine in Karben“, online abrufbar unter: stolpersteine-in-karpen.de
Susanne Krejcik (Red.), Dokumentation: Nur wenige haben überlebt, in: „Höchster Kreisblatt“ vom 28.10.2015
Susanne Krejcik (Red.), Stolpersteine gegen das Vergessen, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 20.5.2016
Auflistung der in Karben verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Karben
Susanne Krejcik (Red.), Zehn Jahre Stolpersteine in Karben: Anstöße für die Erinnerung, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 27.1.2017
Jana Kötter (Red.), Ein Weg für das Karbener Klärchen – Straße wird Jüdin Clara Zweig gewidmet, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 23.6.2017
Jürgen Schenk (Red.), Vergessener jüdischer Friedhof in Klein-Karben, in: „Wetterauer Zeitung“ vom 28.5.2021
Jürgen Schenk (Red.), Wissenslücke um jüdischen Friedhof schließt sich, in: „Wetterauer Zeitung“ vom 3.8.2021 (betr. ehem. Friedhof in Klein-Karben)