Guntersblum (Rheinland-Pfalz)
Das linksrheinische Guntersblum mit derzeit knapp 4.000 Einwohnern ist eine Ortsgemeinde im Rhein-Main-Gebiet im Landkreis Mainz-Bingen, die seit 2014 der Verbandsgemeinde Rhein-Selz angehört (Kartenskizze 'Landkreis Mainz-Bingen', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Im rheinhessischen Dorfe Guntersblum, das bis 1796/1797 unter der Herrschaft der Leininger Grafen stand, wohnten Juden schon gegen Mitte des 16.Jahrhunderts. Als „Schutzjuden“ waren alle hier lebenden Familien zu regelmäßigen Zahlungen verpflichtet, die sie aber gleichzeitig von anderen Steuern und Abgaben befreite.
Die erste Erwähnung einer Synagoge datiert aus den 1740er Jahren; da bereits einige Jahre zuvor ein Rabbiner genannt wurde, kann davon ausgegangen werden, dass es schon vor 1740 ein jüdisches Bethaus gegeben hat. Sicher ist, dass die Synagoge 1860/1862 saniert wurde; die Gründe sind einem Bittschreiben von 1853 an den Ortsvorstand zu entnehmen:
„ ... Tiefe Wehmut muß leider das Herz eines jeden hiesigen Israeliten erfüllen, wenn er das schauerliche, die Gesundheit untergrabende und mit Einsturz drohende Gebäude betritt, wo man im Sommer eine Erkältung befürchten muß, geschweige denn im Winter. Wie niederschlagend wirkt der düstere Anblick desselben auf das Gemüt eines jeden Menschenfreundes, aber besonders auf die an 160 Seelen starke Religionsgemeinde.”
Eine großzügige Spende eines Privatmannes ermöglichte wohl die Totalsanierung. Die feierliche Wiedereinweihung der Synagoge fand dann Anfang Oktober 1862 statt.
Rekonstruktionsskizze der Synagoge in Guntersblum (Dieter Michaelis, Kulturverein Guntersblum)
Seit ca. 1830 existierte in Guntersblum eine jüdische Schule; in den Jahren 1839/1840 wurde in der Viehgasse ein Neubau erstellt, der die wachsende Zahl der jüdischen Kinder aufnahm. Im Schulgebäude befand sich unter der Lehrerwohnung auch eine Mikwe.
Anzeigen aus „Der Israelit“ vom 11.Jan. 1898 und 17.Dez. 1908
Um 1880 bestand für einige Jahre eine Privat-Realschule am Ort.
Der jüdische Friedhof Guntersblums - am Ortsausgang in Richtung Eimsheim - soll bereits in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts angelegt worden sein, wie es das „Guntersblumer Gerichtsbuch von 1736“ erwähnt*.
* Anm.: Ob es aber bereits um 1750 einen „Judenkirchhof“ inmitten der Weinberge gegeben hat, konnte bislang nicht eindeutig nachgewiesen werden.
Der älteste vorhandene Grabstein auf dem Areal stammt erst aus dem Jahre 1849.
Die jüdische Gemeinde Guntersblum besaß im 18. Jahrhundert einen eigenen Rabbiner; später unterstand sie dem Rabbinatsbezirk Mainz.
Juden in Guntersblum:
--- 1555 ........................... 6 jüdische Familien,
--- 1725 ........................... 7 “ “ ,
--- 1739 ........................... 11 “ “ ,
--- 1804 ........................... 85 Juden (in 16 Familien),
--- 1816 ........................... 99 “ ,
--- 1825 ........................... 130 “ ,
--- 1831 ........................... 155 “ ,
--- 1840 ........................... 167 “ ,
--- 1861 ........................... 138 “ ,
--- 1880 ........................... 126 “ (6,3% d. Bevölk.),
--- 1900 ........................... 80 “ ,
--- 1910 ........................... 83 “ (3,5% d. Bevölk.),
--- 1931 ........................... 58 “ ,
--- 1933 ........................... 51 “ ,
--- 1937 ........................... 12 jüdische Familien,
--- 1938 ........................... wenige (?).
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 304
und Dieter Michaelis, Die Jüdische Gemeinde Guntersblum, S. 7
Ihren Lebensunterhalt bestritten die Guntersblumer Juden zumeist vom Handel. Das Zusammenleben zwischen christlichen und jüdischen Dorfbewohnern in Guntersblum war vor allem in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts nicht immer spannungsfrei; besonders der Rat der Zivilgemeinde stand Wünschen der Kultusgemeinde meist ablehnend gegenüber. Nach 1850/1860 schien die Integration erhebliche Fortschritte gemacht zu haben. Zu Beginn der NS-Zeit lebten in Guntersblum noch etwa 50 jüdische Bewohner. Zu den ersten Opfern des NS-Regimes gehörten zwei jüdische Männer, die zusammen mit politischen Gegnern ins KZ Osthofen eingeliefert wurden. Die im Ort lebenden jüdischen Bewohner wurden in der Folgezeit erniedrigt und eingeschüchtert, was bald zu deren Abwanderung führte. Zum Zeitpunkt der „Kristallnacht“ hielten sich nur noch wenige jüdische Familien in Guntersblum auf. Am Morgen des 10.November 1938 nahmen auf Anweisung des Landratsamtes Mainz die Dorfgendarmen ca. zehn jüdische Männer fest und sperrten sie in die Bürgermeisterei ein. Sechs der Festgenommenen mussten mit den aus der Synagoge herausgeholten Thorarollen und anderen Ritualien mehrere Stunden durch den Ort marschieren; dabei wurden sie von der Menge angepöbelt, bespuckt und geschlagen. Vor aller Augen wurden die Gegenstände auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Inzwischen waren SA-Leute aus Osthofen nach Guntersblum gekommen, drangen in jüdische Wohnungen ein und demolierten diese; daran beteiligten sich auch einige Guntersblumer Nationalsozialisten.
Guntersblumer Juden werden samt Thorarollen durch den Ort getrieben
Im Lokalteil der „Landeskrone - Rheinhessische Landeszeitung” war am 11.11.1938 zu lesen:
Erhebung gegen Alljuda
Wie auch in anderen Kreisen des Reiches machte sich die Erbitterung der Bevölkerung über den feigen Meuchelmord in Paris in unserer Heimat in zahlreichen Demonstrationen Luft ... In den gestrigen frühen Morgenstunden nahm die Volksbewegung, die sich teilweise schon in der Nacht vorher bemerkbar gemacht hatte, immer größeren Umfang an. Auf den Straßen der Städte und in den Gassen der Ortschaften Rheinhessens strömten die Menschen zusammen ... Trotz der außerordentlichen Erbitterung, die dem jüdischen Treiben ein für allemal Einhalt gebieten wollte, kam es nirgendwo zu unrühmlichen Ausschreitungen. Die Bevölkerung bewahrte die Disziplin bis zum letzten. Sämtliche Synagogen in unserem Heimatbezirk fielen der allgemeinen und von allen Bevölkerungsschichten getragenen Demonstration zum Opfer. ...Für jüdische Mörder und ihre Genossen ist in Rheinhessen ein für allemal kein Platz mehr.
Da fast alle jüdischen Wohnungen nun unbewohnbar waren, verließen fast alle Eigentümer ihren Heimatort und gingen zumeist nach Frankfurt/Main. Die im Innern weitgehend zerstörte Synagoge verkaufte der letzte Vorsteher der Gemeinde, David Rüb, Ende 1938 an einen Privatmann.
zwei J-Kennkarten aus Guntersblum stammender Juden (ausgestellt in Mainz 1939)
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 38 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum in Guntersblum ansässig gewesene jüdische Personen Opfer der NS-Verfolgung (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/guntersblum_synagoge.htm).
Im Jahre 1949 standen vor dem Landgericht Mainz vier Männer, die wegen ihrer aktiven Beteiligung am Novemberpogrom angeklagt waren; nur zwei der Verurteilten saßen tatsächlich in Haft, während den beiden anderen die Strafe erlassen wurde.
Mitte der 1980er Jahre wurde das ehemalige Synagogengebäude in der Bleichstraße durch die Landesdenkmalbehörde unter Schutz gestellt, eine Renovierung erfolgte dann Ende der 1990er Jahre; die Räumlichkeit wird heute von einem Weingut als Lager genutzt.
Eingang zur ehem. Synagoge (Aufn. Stolpersteingruppe 2018)
Über dem Eingang steht auf Hebräisch: „Dies ist das Tor zum Ewigen, Gerechte werden dort eintreten.“ (Psalm 118, 20). Zudem enthält die Inschrift die Jahreszahl 1770.
Am Hause Viehgasse 1, früher Standort der jüdischen Schule, erinnert heute eine Bronzetafel mit folgendem Wortlaut:
DIE ISRAELITISCHE GEMEINDE GUNTERSBLUM
erbaute 1839 dieses Haus als Schule und Frauenbad. Dahinter befinden sich Synagoge und altes Judenbad. Alle Gebäude dienen heute anderen Zwecken. Bis 1933 wurden die meisten Nachbarhäuser von Juden bewohnt. Im 19.Jahrhundert zählte die Gemeinde zeitweise mehr als 160 Mitglieder. Nationalsozialistische Gewaltherrschaft bereitete dem jahrhundertelangen Zusammenleben von Juden und Nichtjuden ein jähes Ende. Geschichte und Untergang der jüdischen Gemeinde gehören zum unauslöschlichen Erbe Guntersblums.
Einige Juden entgingen dem Mord durch Flucht ins Ausland. Sie retteten das Leben und verloren die Heimat. Von folgenden Guntersblumer Jüdinnen und Juden ist bekannt, dass sie deportiert und zu Tode gebracht wurden:
Es folgen 16 Namen
Gemeinde Guntersblum, im Oktober 1997
Gedenktafel von 1997
Als sichtbares Zeichen der Erinnerung an den Novemberpogrom wurde seitens der Kommune 2019 eine Gedenktafel am Rathaus angebracht.
Der jüdische Friedhof an der Eimsheimer Straße weist heute noch etwa 80 Grabsteine auf; der älteste noch vorhandene Stein stammt aus dem Jahre 1849.
Jüdischer Friedhof von Guntersblum (Aufn. J.B., 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und Kulturverein Guntersblum, um 2005)
Auf Mehrheitsbeschluss des Gemeinderates wurden im Frühjahr 2011 in Guntersblum sog. „Stolpersteine“ verlegt; sie sollen an ca. 25 ehemalige, zumeist jüdische Bewohner erinnern, die Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden sind.
Aufn. A., 2021, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0
verlegt in der Hauptstraße und Alsheimer Straße (Aufn. A. McGill, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY 3.0)
Im Dorfe Dolgesheim - heute Ortsteil der Verbandsgemeinde Rhein-Selz (bis 2014 Guntersblum) - bestand eine kleine jüdische Gemeinde vom Ende des 18.Jahrhunderts bis um 1930/1935; mit ca. 55 Angehörigen erreichte die jüdische Gemeinde in Dolgesheim um 1860 ihren zahlenmäßigen Höchststand. Zu ihren gemeindlichen Einrichtungen gehörten ein in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts angelegter eigener Friedhof und ein winziges, im Jahre 1852 erbautes Synagogengebäude in der Schollergasse.
Friedhof Dolgesheim (Aufm. U. Gönner, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Juden in Dolgesheim:
--- 1824 ......................... 38 Juden,
--- 1861 ......................... 54 “ (ca. 7% d. Bevölk.),
--- 1871 ......................... 62 “ ,
--- 1880 ......................... 33 “ ,
--- 1900 ......................... 31 “ ,
--- 1925 ......................... 16 “ ,
--- 1930 ......................... 3 jüdische Familien,
--- 1939 (Okt.) .................. keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 141/142
Im Sommer 1930 kam es im Dorf zu heftigen antisemitischen Ausschreitungen, die sich besonders gegen eine hier ansässige Familie richtete. Monate danach mussten sich 29 beteiligte Einwohner wegen Landfriedensbruchs verantworten. Ca. zehn Juden lebten zu Beginn der 1930er Jahre in Dolgesheim; bis Kriegsbeginn hatten alle das Dorf verlassen. Sowohl das ehemalige kleine Synagogengebäude - es wird heute als Lagerhaus verwendet - als auch der jüdische Friedhof sind bis heute erhalten geblieben.
[vgl. Dolgesheim (Rheinland-Pfalz)]
[vgl. Hillesheim (Rheinland-Pfalz)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 141/142 und S. 304
Herbert Bechler, Die Ortsgeschichte von Guntersblum, Guntersblum 1978
L.Trepp/M.Strehlen/G.Ziethen, Zur Synagogeninschrift aus Guntersblum, in: "Mainzer Archäologische Zeitschrift", Band 3/1996
Dieter Michaelis, Synagoge, Judenschule, Judenbad, Jüdischer Friedhof, in: Guntersblumer Geschichte(n), Vergangenheit und Gegenwart eines rheinhessischen Dorfes, hrg. von der Ortsgemeinde anläßlich der 1100-Jahrfeier von Guntersblum, Band II, Guntersblum 1997, S. 85 - 100
Dieter Michaelis, Das dunkle Kapitel - und wie es dazu kam, in: Guntersblumer Geschichte(n), Vergangenheit und Gegenwart eines rheinhessischen Dorfes, hrg. von der Ortsgemeinde anläßlich der 1100-Jahrfeier von Guntersblum, Band II, Guntersblum 1997, S. 112 ff.
Dieter Michaelis, Die Jüdische Gemeinde Guntersblum. Von den Anfängen bis zur Vernichtung durch den Nationalsozialismus, Eigenverlag, Guntersblum 1998
Dieter Michaelis/Jutta Hager-Latz (Bearb.), Der jüdische Friedhof in Guntersblum, o.O. 2002
Winfried Seibert, Dolgesheimer Mord. Der Tod des Juden Julius Frank im Frühjahr 1933, o.O. 2002
Guntersblum, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 173 – 175 und S. 140/141 (Dolgesheim)
Sven Felix Kellerhoff, Öffentlich gedemütigt. Eine Bilderserie aus dem rheinhessischen Guntersblum ..., in: "Die WELT" vom 8.11.2008
Stolpersteine in Guntersblum, in: "Guntersblumer Blätter", No. 1/2011
Verein zur Erhaltung Guntersblumer Kulturgutes e.V. (Hrg.), Jüdische Geschichte Guntersblum (online abrufbar)
Dieter Michaelis, Die jüdische Gemeinde Guntersblum: Von den Anfängen bis zur Vernichtung durch den Nationalsozialismus, Berlin 2014 (erw. Neuauflage von 1998)
Auflistung der in Guntersblum verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Guntersblum
Sven Felix Kellerhoff, Ein ganz normales Pogrom - November 1938 in einem deutschen Dorf, Klett-Cotta Verlag, 2018
Constantin Lummitsch (Red.), Fotos und Akten domumentieren Verbrechen im rheinhessischen Weindorf Guntersblum zur Reichspogromnacht, in: „Wiesbadener Kurier“ vom 15.10.2018
Uwe Neumärker (Bearb.), „Kristallnacht“ - Antijüdischer Terror 1938 – Ereignisse und Erinnerung, hrg. von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2018, S. 42 - 52
Bina Stutz (Red.), Gedenktafel zu Novemberpogrom gegen Juden eingeweiht, in: „Allgemeine Zeitung“ vom 25.11.2019