Hardheim/Odenwald (Baden-Württemberg)
Hardheim ist eine Kommune mit derzeit ca. 6.800 Einwohnern am nordöstlichen Rand des Neckar-Odenwald-Kreises - ca. 30 Kilometer nordwestlich von Bad Mergentheim (topografische Karte des Baulands, Abb. K. Jähne 2009, aus: wikipedia.org gemeinfrei und Kartenskizze 'Neckar-Odenwald-Kreis', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Bereits zu Beginn des 14.Jahrhunderts gab es im Dorfe Hardheim eine kleine jüdische Gemeinschaft; dies belegt eine Urkunde, in der Kaiser Ludwig d. Bayer das königliche Schutzrecht über die Hardheimer Juden an die Herren von Hardheim verpfändet hatte. Während des Pestpogroms von 1348 soll die jüdische Gemeinde ein gewaltsames Ende gefunden haben. Gegen Mitte des 15.Jahrhunderts schienen erneut Juden in Hardheim ansässig gewesen zu sein; denn aus dieser Zeit liegt ein Schutzbrief des Mainzer Erzbischofs für einen Juden vor. Für die folgenden Jahrhunderte gibt es nur spärliche Informationen über jüdisches Leben in Hardheim. Gegen Ende des 17.Jahrhunderts - Hardheim gehörte inzwischen zum Bistum Würzburg - ließen sich einige jüdische Familien dauerhaft in Hardheim nieder. Da Juden nicht mit Christen unter einem Dach, nicht in Nähe der Kirche und auch nicht an ‚offenen Straßen’ wohnen durften, konzentrierten sich ihre Behausungen lange Zeit auf den Bereich der Inselgasse - er wird noch heute im Volksmund „Judengasse“ genannt; erst im Laufe des 19.Jahrhunderts änderte sich ihre ghettoähnliche Wohnweise. Schon um 1680 wurde in Hardheim erstmals eine Synagoge erwähnt; 1707 erhielt die hiesige Judenschaft die Genehmigung des Bischofs, die alte "Judenschul" erweitern zu dürfen. Etwa 100 Jahre danach wurde die alte Synagoge aufgegeben und im Jahre 1805 durch einen Neubau in der Judengasse (heute Inselgasse) ersetzt.
Synagoge u. Innenraum (hist. Aufn., Sammlung Wertheimer)
Aus einer (späteren) Beschreibung der Synagoge von dem Lehrer Willi Wertheimer: „ ... Die Synagoge bildete einen dreistöckigen Bau. Im ersten Stock befand sich das Schulzimmer, im zweiten der Betraum für Männer und ein kleiner, von diesem durch ein Holzgitter abgetrennter Raum für Frauen. Im dritten Stock gab es einen weiteren Betraum. Diese Synagoge stellte einen bescheidenen einfachen Bau, bar jeglichen Prunkes, dar. Auch die Inneneinrichtung war den Verhältnissen der jüdischen Bevölkerung angepaßt. Die Gebetpulte, die Sitzbänke, das Vorbeterpult und der Torarollenschrein waren älteren Datums. Ein einfacher Chanukkaleuchter und ein Lüster aus glitzerndem Kristall bildeten den einzigen Schmuck des Betsaals. ...” (aus: Willi Wertheimer, Zwischen zwei Welten. Der Förster von Brooklyn)
Wertheimer beschrieb auch die Schabbatfeier in Hardheim: „ ... Freud und Leid trugen die Angehörigen der jüdischen Gemeinde ... miteinander. Der Schabbat und die anderen Feste waren Tage des Ausruhens und für die Kundigen Tage des Torastudiums. Auch besuchte man sich gegenseitig und machte kleinere Spaziergänge. Ein großer Teil der Gemeinde suchte nach dem Schabbat-Mittagsgottesdienst den Biergarten von Schretzmann in der Schweinberger Straße oder den Deutschen Hof in der Miltenberger Straße auf. Zu den dort gereichten Getränken verzehrte man die verbotenerweise mitgebrachten Eßwaren; denn das Hinaustragen von Gegenständen aus einem Privatbezirk auf die Straße und umgekehrt ist religionsgesetzlich unzulässig. Deshalb trugen nichtjüdische Hausangestellte den Verzehr der Hardheimer, die die Vorschriften strenger beachteten, in die angegebenen Lokale. Aus gleichem Grund bezahlten sie die Getränke am Sonntag. Wir Kinder und Jugendlichen vertrieben uns die Zeit in den schattigen Gärten mit frohem Spiel, hüpften und tanzten herum, bis der Abend kam und man aufbrach. Die Frauen und wir gingen heim und die Männer in die Synagoge, auch ‘Schul’ genannt. In diesen Biergärten waren auch Kegelbahnen, und wir Jugendliche hatten es auf diese abgesehen, aber das Auge des Gesetzes wachte scharf. Kegeln war am Schabbat verboten, eine Übertretung dieses Gesetzes brachte uns unweigerlich eine Zurechtweisung der Eltern ein und am Sonntag im Religionsunterricht eine scharfe Verwarnung des Lehrers oder gar den spanischen Stock ...”
Für die Erledigung religiöser gemeindlicher Aufgaben war ein Lehrer angestellt, der neben der Unterweisung der Schulkinder auch als Vorbeter und Schächter tätig war. Innerhalb von mehr als neun Jahrzehnten besaß die Gemeinde nur zwei Lehrer (was nicht oft vorkam), nämlich Joseph Urspringer (1832-1882) und Emanuel Wertheimer (1883-1924). Danach konnte die Stelle nicht mehr besetzt werden, so dass man nun auswärtige Religionslehrer heranzog.
gemeindliche Stellenanzeigen aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 25.Okt. 1882 und vom 2.April 1925
Das Hardheimer Frauenbad (Mikwe) befand sich ursprünglich auf dem Gelände der früheren Mittelmühle, ab 1904 dann im Keller eines Neubaus (von Julius Sinsheimer) in der Holzgasse, wobei das Wasser aus einer nahe Quelle stammte. Vermögendere jüdische Familie sollen in Hardheim eigene Ritualbäder besessen haben.
Verstorbene Gemeindeangehörige beerdigte man anfangs auf dem jüdischen Verbandsfriedhof in Külsheim. Als dieser geschlossen wurde, erwarben die Hardheimer Juden Anfang der 1870er Jahre einen eigenen Begräbnisplatz am Waldrand außerhalb der Ortschaft; dessen Einweihung nahm 1876 der Bezirksrabbiner Baruch Hirsch Flehinger aus Merchingen vor.
Jüdischer Friedhof in Hardheim (Aufn. J. Hahn, um 1985)
Juden in Hardheim:
--- 1527 ........................... 2 jüdische Familien,
--- um 1700 ........................ 6 “ “ ,
--- 1731 ........................... 8 “ “ ,
--- 1825 ........................... 76 Juden,
--- 1833 ........................... 85 “ ,
--- 1855 ........................... 122 “ ,
--- 1875 ........................... 142 “ ,
--- 1885 ........................... 155 “ (ca. 7,5% d. Bevölk.),
--- 1900 ........................... 136 “ ,
--- 1925 ........................... 65 “ (knapp 3% d. Bevölk.),
--- 1933 ........................... 55 “ ,
--- 1940 ....................... ca. 20 “ ,
(Dez.) .................... keine.
Angaben aus: F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, ..., S. 120
und Jüdisches Leben in Hardheim - Eine Ausstellung des Erfatal-Museums Hardheim (Katalog)
Bis zu Beginn des 19.Jahrhunderts lebten die Juden Hardheims in recht ärmlichen Verhältnissen; sie verdienten ihren Lebensunterhalt im ‚Nothandel’: so waren sie zumeist als Kramwaren- und Viehhändler unterwegs. Erst später betrieben sie im Ort auch einige Unternehmen und Einzelhandelsgeschäfte von Bedeutung; die Eisen- und Maschinenhandlung M. Selig war ein überregional bekanntes Unternehmen.
eine geschäftliche und eine private Verkaufsanzeige (aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 16.7.1879 und vom 24.7.1893)
drei Stellenangebote jüdischer Gewerbetreibender aus den Jahren 1879 - 1901 - 1902
Bis ins 20.Jahrhundert hielt die jüdische Kultusgemeinde in Hardheim an ihrer orthodox-konservativen Grundeinstellung fest. So berichtete die Zeitschrift „Der Israelit“ am 23.8.1894 wie folgt: „ ... In Hardheim selbst wird den Institutionen der Gemeinde und Synagoge in althergebrachter Weise Rechnung getragen. Es befinden sich zwei Chawerot (Verein oder Bruderschaft – ein Männer- u. ein Frauenverein) dahier, die in den engsten und weitesten Kreisen jedwede humanitäre Bestrebungen unterstützen, ebenso eine Armenkasse für durchreisende Arme, ... In der Synagoge haben gemischter Chorgesang und Orgel keinen Einzug gefunden. Infolgedessen findet der täglich vorschriftsmäßige Gottesdienst mit Minjan statt. An Sabbat und Feiertagen wird außer einem religiösen Lehrvortrag (Schiur) vor dem Nachmittagsgottesdienste, ... auch nach dem Morgengottesdienste vonseiten des Lehrers Wertheimer je eine Stunde Raschi und Kizzur Schulchan Aruch mit erwachsenen Personen gelernt.“
Bereits seit Ende des 19.Jahrhunderts war die Mitgliederzahl der Hardheimer Gemeinde stetig rückläufig; deshalb nahm man schließlich auch Abstand davon, ein neues Synagogengebäude zu errichten.
Mitte der 1920er Jahre machten sich auch in Hardheim und Umgebung antisemitische Tendenzen bemerkbar, die ihren Ausdruck in zunehmender Diskriminierung und in Pöbeleien gegenüber jüdischen Bürgern fanden. Einige Jahre nach der NS-Machtübernahme verließen die meisten jüdischen Bewohner ihre Heimatgemeinde und emigrierten, vor allem in die USA.
Während des Novemberpogroms schändeten NSDAP-Angehörige die Inneneinrichtung des jüdischen Betraumes: der Kronleuchter wurde herabgerissen und Gebetsbücher zerrissen; zu größeren Zerstörungen kam es aber nicht; neun Juden wurden festgenommen. Im Sommer 1939 ging dann das Synagogengebäude in Privateigentum über und wurde seitdem als Wohnhaus genutzt.
17 jüdische Einwohner Hardheims wurden Ende Oktober 1940 ins südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert; nur wenige von ihnen überlebten die Lagerzeit.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich insgesamt 38 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort wohnhaft gewesene Juden Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/hardheim_synagoge.htm).
Allein der Friedhof - auf dem ca. 850 m² großen Gelände befinden sich ca. 90 Grabsteine - ist heute der einzig sichtbare Hinweis auf die ehemals bedeutende jüdische Gemeinde von Hardheim; die letzte Beisetzung fand hier 1939 statt.
Jüdischer Friedhof in Hardheim (Aufn. Granpar, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und J. Hahn, 2003)
Seit 2000 ist ein Gedenkstein im Schlossgarten den ehemaligen jüdischen Bewohnern des Ortes gewidmet; eine zwei Jahre später angebrachte Gedenktafel trägt die Namen der aus Hardheim deportierten Juden (Aufn. Stadt Hardheim).
Ein sog. Memorialstein aus Hardheim befindet sich – wie zahlreiche andere ihrer Art - auf dem Gelände der zentralen Gedenkstätte für die deportierten badischen Juden in Neckarzimmern; auf dem Stein sind 17 Metallkerzen angebracht, die für die 17 deportierten Hardheimer jüdischen Bewohner stehen; erstellt wurde der mit Symbolen befrachtete Stein von der Firmgruppe der Seelsorgeeinheit Hardheim (Abb. aus: mahnmal-neckarzimmern).
Über ehemaliges jüdisches Leben in Hardheim nach 1900 informiert ausführlich die Autobiographie des jüdischen Lehrers Willi Wertheimer. Der als Sohn des jüdischen Lehrers Emanuel Wertheimer im Jahre 1897 geborene Willi (er war das 9.Kind der Familie) besuchte die Hardheimer Volksschule; danach absolvierte er eine Lehrerausbildung zunächst an der israelitischen bayrischen Präparandenanstalt in Höchberg bei Würzburg, ab 1913 am jüdischen Lehrerseminar in Köln. Ab Ende 1916 nahm er als Soldat am Ersten Weltkrieg teil. Nach dem Krieg nahm er seinen Dienst an der Badischen Landessynagoge auf und ging als Lehrer in die jüdische Gemeinde Eubigheim; seine zweite Lehrerstelle trat er im Jahre 1924 in Buchen an, wo er bis zu seiner Emigration in die USA 1938 lebte. Während ihm, seiner Frau und Tochter die Auswanderung aus NS-Deutschland gelang, wurde seine übrige Familie - sieben Geschwister und deren Familien - Opfer des Holocaust. Bereits in den 1920er Jahren hatte Wertheimer sich für die zionistische Idee begeistert, und so wurde er ehrenamtlich für den Jüdischen Nationalfond (Keren Kajemeth Lejisrael) tätig. Nach 1945 setzte Wertheimer seine Tätigkeit von New York (Brooklyn) aus fort. Auf seine Initiative hin wurde ein „Gedenkwald“ bei Haifa angelegt - als Denkmal für die 12.000 gefallenenen Juden des Ersten Weltkriegs. Gleichzeitig engagierte er sich an führender Stelle für die Errichtung des „Forest of the Jews Formerly from Central Europe”, der 1962 als Teil des „Waldes der Märtyrer” gepflanzt wurde. Ende der 1970er Jahre suchte der inzwischen 81jährige Wertheimer den Ort seiner Kindheit auf. Anfang des Jahres 1982 verstarb Willi Wertheimer in New York.
Das Erfatal-Museum in Hardheim zeigte 1997 eine Ausstellung über Geschichte und Kultur der früheren jüdischen Gemeinde in Hardheim. Anlass für die Sonderausstellung war der 100. Geburtstag von Willi Wertheimer.
Im Ortsteil Schweinberg existierte vom 16. bis 18.Jahrhundert eine sehr kleine jüdische Gemeinde, deren Angehörige vermutlich im Laufe des 18.Jahrhunderts abgewandert sind.
Weitere Informationen:
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Stuttgart 1968, S. 119 - 121
Willi Wertheimer, Zwischen zwei Welten. Der Förster von Brooklyn. Lebenserinnerungen des ehemaligen jüdischen Lehrers in Eubigheim und Buchen in Baden, Eigenverlag, 2.Aufl. 1980
Rainer Trunk, Aus der Geschichte der Hardheimer Juden, in: Gemeinde Hartheim (Hrg.), Hardheim. Perle des Erfatales, Hardheim 1988, S. 324 - 328
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 385 f.
Barbara Döpp (Bearb.), Der jüdische Friedhof Hardheim, Unveröffentlichte Grunddokumentation des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, 1993
Jüdisches Leben in Hardheim - Eine Ausstellung des Erfatal-Museums Hardheim aus Anlaß des 100.Geburtstages von Willi Wertheimer, Hardheim April/Juni 1997
Hardheim, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Jüdischer Friedhof in Hardheim, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Aufnahmen und einer Auflistung der auf dem Areal begrabenen Personen)
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 172 – 174
Rudolf Landauer/Reinhart Lochmann, Spuren jüdischen Lebens im Neckar-Odenwald-Kreis, Hrg. Landratsamt NOK, 2008
Ingrid Eirch-Schaab, Ehemalige Synagogre steht zum Verkauf an, in: "Fränkische Nachrichten" vom 1.10.2014
Hans Sieber (Red.), Synagoge in Hardheim 1679 erstmals erwähnt, in: „Mannheimer Morgen“ vom 8.11.2018
Hans Sieber (Red.), Als die Nazis kamen, verschwanden Respekt und Freundschaft, in: "Rhein-Neckar-Zeitung" vom 8.11.2018
Torsten Englert (Red.), Die jüdische Kultur in Hardheim blieb zerstört, in: „Rhein-Neckar-Zeitung" vom 8.5.2020
Hans Sieber (Red.), Markante Plätze und Einrichtungen beseitigt. Ende des jüdischen Lebens in Hardheim – Auf der Suche nach Stätten, Orte und Plätze, die an das ehemals jüdische Leben in Hardheim Erinnern – Friedhof ist der einzige sichtbare Hinweis, in: „Fränkische Nachrichten“ vom 1.10.2020
Hans Sieber (Red.). Die meisten Erinnerungen an Juden sind verschwunden, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 16.10.2020
Torsten Englert (Red.), Erinnerungen an die Hardheimer Familie Wertheimer, in: „Fränkische Nachrichten" vom 23.4.2021