Liegnitz (Schlesien)
Das seit ca. 1250 mit Stadtrechten ausgestattete niederschlesische Liegnitz wurde während des Zweiten Weltkrieges stark zerstört; seit 1945 stand es unter polnischer Verwaltung und gehört heute zur Woiwodschaft Wroclaw; die Großstadt Legnica besitzt derzeit ca. 100.000 Einwohner (Ausschnitt 'Liegnitz mit Umland' aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Polen' mit Legnica rot markiert, Y. 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Stadtansicht von "Lignitz" - Stich Merian um 1650 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Erste sichere Spuren jüdischen Lebens in Liegnitz stammen aus dem beginnenden 14.Jahrhundert; möglicherweise soll die damalige jüdische Siedlung („Judenstadt“) in unmittelbarer Nähe des Schlosses gelegen haben, doch soll es auch jüdische Hausbesitzer in anderen Straßen gegeben haben. Aus der frühesten Zeit ihrer Ansiedlung datiert auch der Friedhof am Töpferberg; ein Bethaus (errichtet um 1320) war ebenfalls vorhanden. Im 15.Jahrhundert waren die Juden in Liegnitz die einzigen in Schlesien, die nicht nur als Geldverleiher, sondern auch in anderen Berufen tätig sein konnten. Im Jahre 1447 überließ die Regentin des Herzogtums - zur Tilgung von Schulden - dem Liegnitzer Magistrat die Häuser der Judengasse; nur drei Familien durften in der Stadt bleiben, die anderen wurden aus ihr verwiesen. Das Ende der mittelalterlichen Judengemeinde von Liegnitz stand vermutlich im Zusammenhang mit dem Auftreten des fanatischen Franziskaner-Mönchs Johannes v. Capistrano. Seit Ende der 1450er Jahre war Liegnitz für mehr als drei Jahrhunderte „judenfrei“.
Im Gefolge der staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden in Preußen (1812) konstituierte sich in Liegnitz wenige Jahre später eine autonome jüdische Gemeinde. 1838 beschloss sie den Bau einer neuen Synagoge, die einen älteren Betraum in der Ritterstraße aus dem Jahre 1812 ersetzen sollte. Im Juni 1847 wurde diese in Gegenwart des Regierungspräsidenten, Angehörigen des Magistrats der Stadt und den Gemeindemitgliedern feierlich eingeweiht. Der Bau im romanisch-byzantinischen Stil stand in der Bäckerstraße.
Liegnitzer Synagoge (hist. Postkarte) und Gemeindesiegel
Eine bauliche Erweiterung erfuhr die Synagoge um 1880.
1848 soll sich in Liegnitz eine zweite Gemeinde gebildet haben.
Bereits 1815 legte die Liegnitzer Judenschaft ein erstes Begräbnisgelände an; zwei weitere folgten: 1838 und Mitte der 1920er Jahre. Eine repräsentative Trauerhalle im neoromanischen Stil wurde hier 1877 ihrer Bestimmung übergeben.
Ehem. Trauerhalle (Aufn. aus: pl.wikipedia, 2006)
Juden in Liegnitz:
--- 1816 ............................ 93 Juden,
--- 1838 ............................ 236 “ ,
--- um 1850 ..................... ca. 550 “ ,
--- um 1860 ..................... ca. 620 “ ,
--- 1870 ........................ ca. 900 “ ,
--- 1880 ............................ 970 “ ,
--- 1900 ............................ 877 “ ,
--- 1905 ............................ 1.085 “ ,
--- 1910 ............................ 742 “ ,
--- 1926 ............................ 830 “ ,
--- 1933 ............................ 674 “ ,
--- 1937 ............................ 427 “ ,
--- 1939 (Mai) ...................... 216 “ ,
--- 1946 ........................ ca. 4.200 “ .
Angaben aus: Bernhard Brilling, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens - Entstehung u. Geschichte
und The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 728
Großer Ring in Liegnitz (hist. Postkarte)
Um 1900 erreichte die Zahl der jüdischen Familien in Liegnitz ihren Zenit; danach setzte eine starke Abwanderung ein.
In der Nacht vom 9./10.November 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt; auch eine Reihe jüdischer Geschäfte wurden zerstört. Die „Synagogenstraße“ wurde in „Steubenstraße“ umbenannt. Bei Kriegsbeginn lebten noch etwa 200 Juden in der Stadt. Bis Oktober 1942 hatten die allermeisten Juden die Stadt verlassen müssen; nur diejenigen, die „in Mischehe“ verheiratet waren, durften noch bleiben.
Nach Kriegsende hielten sich in und um Liegnitz mehr als 2.000 Juden auf; es waren zum einen Überlebende aus den Arbeits-/Konzentrationslagern dieser Region und zum anderen solche, die aus den Westgebieten der UdSSR hierher verschlagen worden waren. Die meisten hielten sich aber nur kurze Zeit hier auf und emigrierten. Ende der 1960er Jahre löste sich die jüdische Gemeinschaft in Liegnitz völlig auf.
Der neue jüdische Friedhof in Liegnitz hat die NS-Zeit fast unbeschadet überstanden und gehört heute zu einer der besterhaltenen in Niederschlesien; auch die Trauerhalle blieb erhalten.
Teilansicht des jüdischen Friedhofs und Trauerhalle (Aufn. Bialachowski u. E. Dyan, 2004, aus: commons.wikimedia.org, CC BY 2.0)
Einzelne Grabstätten (Aufn. E. Dyan, 2004, aus: commons.wikimedia.org, CC BY 2.0)
In Haynau (poln. Chojnów, derzeit ca. 13.500 Einw.) – nordwestlich von Liegnitz gelegen – sind Juden erstmals 1320 nachgewiesen. Privilegiert seitens der Herzogin von Schweidnitz lebten sie dort bis zu den Verfolgungen um die Mitte des 15.Jahrhunderts. Die Wurzeln der neuzeitlichen jüdischen Gemeinde in Haynau wurden im ausgehenden 18./beginnenden 19.Jahrhundert gelegt; deren Konstituierung als autonome Gemeinde erfolgte nach Inkrafttreten des Emanzipationsediktes von 1812.
Zur Gemeinde gehörten später auch die wenigen Familien aus Katzenau und Siegendorf. In den 1860/1870er Jahren erreichte die Gemeinde mit etwa 100 Angehörigen ihren zahlenmäßigen Zenit.
1893 ließ die Gemeinde eine mit einer Kuppel versehene Synagoge in der Schützenstraße erbauen; der Rabbiner aus Liegnitz nahm deren Einweihung vor, an der kommunale und kirchliche Vertreter teilnahmen.
Juden in Haynau:
--- 1801 ......................... 2 jüdische Familien,
--- 1830 ......................... 30 Juden,
--- 1840 ......................... 45 “ ,
--- um 1860 ...................... 90 “ ,
--- 1867 ......................... 105 “ ,
--- 1925 ......................... 93 “ ,
--- 1938 ......................... 57 “ ,
--- 1947 (Juni) .............. ca. 400 “ .
Angaben aus: Chojnów, in: sztetl.org.pl
Handel und Handwerk waren Lebensgrundlage der hiesigen jüdischen Familien. Ein größeres Unternehmen war die Firma Lachmann & Ohnstein, die einen Produktionsbetrieb für Senf besaßen. Anfang der 1930er Jahre lebten im Ort nur noch ca. 30 Juden.
Das Synagogengebäude, das nach 1938 als Turnhalle einer nahegelegenen Schule genutzt wurde, hat die NS-Zeit überdauert. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges lebten in Chojnów fast 1.800 Juden; sie waren in mehreren Transporten aus Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan hierher verfrachtet worden. Die allermeisten hatten 1948 den Ort bereits wieder verlassen. Seit Ende der 1960er Jahre hielten sich keine Juden mehr im Ort auf.
vgl. Haynau (Schlesien)
In Jauer (poln. Jawor, derzeit ca. 23.000 Einw.) - ca. 20 Kilometer südlich von Liegnitz gelegen - lassen sich Juden erstmals gegen Mitte des 14.Jahrhunderts nachweisen. In einem im Jahre 1368 ausgestellten Privileg wurde den jüdischen Bewohnern durch die damalige Herzogin „Schutz für Leben und Eigentum“ garantiert. Ihre Verstorbenen konnten sie nicht am Ort, sondern mussten den Friedhof in Schweidnitz benutzen.
Als 1554 der Wanderprediger Capistrano auf seinem Wege nach Breslau in Jauer auftauchte und hier die Bevölkerung zum Hass gegen die Juden anstachelte, wurden bei einem Pogrom 17 jüdische Bewohner auf dem Scheiterhaufen verbrannt; wenige Jahre später wurden alle übrigen Juden aus dem Städtchen vertrieben. Die Synagoge - schon 1346 nachgewiesen - wurde daraufhin zu einer christlichen Kapelle (St. Adalbert-Kapelle) umgewandelt.
Ehem. mittelalterliches Synagogengebäude (Aufn. aus: Jawor, 2010)
Eine neuzeitliche Gemeinde gründete sich erst in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts - als Filialgemeinde von Liegnitz; zwischen 1850 und 1890 erreichte die hiesige jüdische Gemeinschaft mit bis zu 130 Angehörigen ihren zahlenmäßigen Höchststand. Um 1840/1850 legte man einen eigenen Friedhof an; eine Synagoge gab es aber hier nicht. Gegen Ende der 1920er Jahre lebten in Jauer nur noch ca. 70 Juden; die meisten von ihnen verließen in den folgenden Jahren den Ort. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges ließen sich in Jawor einige hundert polnische Juden nieder, die hier eine jüdische Gemeinde bildeten. Allerdings löste diese sich nach wenigen Jahren wegen Abwanderung wieder auf.
Vom jüdischen Friedhof sind heute noch ca. 40 Grabstätten vorhanden.
vgl. Jauer (Schlesien)
In Lüben (poln. Lubin, derzeit ca. 72.000 Einw.) - etwa 20 Kilometer nördlich von Liegnitz/Legnica gelegen - gab es erst seit dem beginnenden 19.Jahrhundert eine organisierte jüdische Gemeinde. Ddie Zahl der Gemeindeangehörigen war im Laufe der folgenden Zeit starken Schwankungen unterworfen; ihre höchste Zahl wurde um 1870 mit ca. 110 Personen erreicht. Gottesdienste fanden anfangs in einem angemieteten Betraum statt; mit Vergrößerung der Gemeinde ging der Bau einer Synagoge einher, die 1867/68 an der Schulpromenade (unweit des Ringes) errichtet wurde. Bereits seit gegen Ende der 1830er Jahre stand ein eigenes Beerdigungsgelände zur Verfügung.
Ihren Lebenserwerb bestritten die Lüber Juden durch Handelsgewerbe und im Handwerk. Anfang der 1930er Jahre lebten in der Stadt nur noch ca. 20 jüdische Personen; die Lüber Gemeinde war inzwischen aufgelöst und die verbliebenen Juden der Kultusgemeinde Liegnitz angeschlossen.
Am 9.Nov. 1938 wurde die Synagoge in Lüben im Innern demoliert, anschließend das Gebäude veräußert und zu einem Mietshaus umgebaut (blieb aber nicht erhalten).
Anm.: Während des Zweiten Weltkrieges mussten polnische Juden in der lokalen Zuckerfabriken Zwangsarbeit leisten.
Alleiniges bauliches Zeugnis war bis in die 1970er Jahre der jüdische Friedhof in Lubin; auf dem zu einer Grünanlage neugestalteten Gelände befindet sich heute ein Kinderspielplatz.
In Neumarkt (poln. Środa Śląska, derzeit ca. 9.500 Einw.) - einer zwischen Liegnitz und Breslau im 12.Jahrhundert entstandenen Marktsiedlung - werden Juden bereits im 14.Jahrhundert erwähnt; 1455 sollen sie von hier „auf ewige Zeiten“ vertrieben worden sein. Um 1770 wurde erstmals wieder einem einzelnen Juden ein Wohnrecht in Neumarkt zugestanden.
Erst nach 1812 ließen sich in Neumarkt wieder jüdische Familien nieder und bildeten später eine Gemeinde, die 1845 ca. 130 Personen und um 1870 ca. 200 Personen zählte. Neben einem 1844 angelegten Friedhof in der Bergstraße gab es seit 1864 (andere Angabe: 1862) auch ein Synagogengebäude an der Ecke Konstadtstraße/Schlosserstraße.
Juden in Neumarkt:
--- 1800 ........................ ein Jude,
--- 1817 ........................ 17 Juden,
--- 1818 ....................... 27 “ ,
--- 1871 ....................... 202 “ ,
--- 1890 ....................... 86 “ ,
--- 1925 ....................... 47 “ ,
--- 1933 ....................... 62 “ .
Angaben aus: Środa Śląska, aus: sztetl.org.pl
Anfang der 1930er Jahre setzte sich die jüdische Minderheit nur noch aus ca. 35 Personen zusammen. Während des Novemberpogroms von 1938 wurden die Synagoge und die beiden noch bestehenden jüdischen Geschäfte zerstört. 1942 waren nur noch vier in „Mischehe“ verheiratete jüdische Personen im Ort verblieben.
Seit 2001 erinnert ein Gedenkstein an den ehemaligen jüdischen Friedhof des Ortes; das einstige Begräbnisareal wurde in kommunistischer Zeit überbaut.
vgl. Neumarkt (Schlesien)
In Goldberg (poln. Złotoryja, derzeit ca. 16.000 Einw.) - etwa 15 Kilometer südwestlich von Liegnitz/Legnica – lebten nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine größere Zahl Juden. Es waren insgesamt bis zu 2.000 Umsiedler („Repatriierte“), die aus verschiedenen Landesteilen der Sowjetunion hierher gebracht worden waren. Doch innerhalb nur weniger Jahre löste sich die hier gestrandete jüdische „Gemeinde“ zusehends auf; Abwanderung in größere Städte bzw. Emigration in den neugegründeten Staat Israel waren die Gründe dafür.
Ein um 1820 angelegter Friedhof in Goldberg diente bis in die NS-Zeit den in der Stadt und im nahen Umland ansässigen Juden als „Guter Ort“. In den 1970er Jahren wurden auf behördliche Anordnung die hier noch verbliebenen Grabsteine abgeräumt und das Gelände eingeebnet. Fragmente von einzelnen Steinen findet man heute noch in Stützmauern.
Weitere Informationen:
A. Zumwinkel, Die Stadt Liegnitz im Mittelalter, in. "Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins zu Liegnitz", No. 2 (1906/1908)
Moritz Peritz, Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Liegnitz. Ein Beitrag zur Hundertjahrfeier am 27.November 1912, Liegnitz 1912
K. Klose, Beiträge zur Geschichte der Stadt Lüben, Lüben i. Schl. 1924
Moritz Peritz (Bearb.), Die jüdische Gemeinde der Stadt Liegnitz, in: Monographien deutscher Städte - Liegnitz, Berlin 1927
O. Koischwitz, Jauer - ein Wegweiser durch die Heimat und ihre Geschichte, Jauer 1930
Gustav Helmrich, Geschichte der Juden in Liegnitz, Liegnitz 1938 (Manuskript)
Germania Judaica, Band II/1, Tübingen 1968, S. 480/481, Band III/1, Tübingen 1987, S. 587/588 (Jauer) und S. 743 – 745 (Liegnitz)
Werner Elsner, Liegnitzer Stadtgeschichte von ihren Anfängen bis zum Ende der Oertel-Zeit (1242 - 1912), in: Historische Gesellschaft Liegnitz e.V. (Hrg.), Beiträge zur Liegnitzer Geschichte, Band 1/1971
Bernhard Brilling, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens - Entstehung u. Geschichte, Verlag Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 1972
Hugo Weczerka: Neumarkt (Środa Śląska). in: ders. (Hrg.), Handbuch der historischen Stätten Schlesien. Stuttgart 1977, S. 342 - 347
Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. u. 20.Jahrhundert, Hans Christians Verlag, Hamburg 1981, Teil 1, S. 114 und Teil 2, Abb. 89
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust, New York University Press, Washington Square, New York 2001, Vol. 1, S. 556; Vol. 2, S. 728/729 und S. 883
Mateusz Golinski, Jews in medieval Legnica - their location in the municipal area, in: M. Wodzinski/J. Spyra (Hrg.), Jews in Silesia, Cracow 2001, S. 17 - 32
Andrzej Nowak, The Jewish settlement in Chojnów 1945 - 1950, in: M. Wodzinski/J. Spyra (Hrg.), Jews in Silesia, Cracow 2001, S. 229 – 238
oben genannte Gemeinden, Angaben aus: sztetl.org.pl
Tamara Wlodarczyk, Aus der Geschichte der Juden in der Region Liegnitz, übersetzt von Agnieszka Turakiewicz, Hrg. FUNDACJA ROJT, Warschau 2016, S. 48 - 64 (Liegnitz), S. 65 - 77 (Lüben) und S. 100 - 107 (Goldberg)