Lichtenau (Nordrhein-Westfalen)

Datei:Lichtenau in PB.svg Lichtenau ist eine westfälische Kleinstadt mit derzeit ca. 11.000 Einwohnern im Bürener Land - etwa zehn Kilometer südöstlich von Paderborn (Kartenskizze 'Kreis Paderborn', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

Historische Karten - Kreis Paderborn Karte von 1838 (Abb. aus: kreis-paderborn.de)

 

Die Anwesenheit jüdischer Familien in Lichtenau reicht bis in die Mitte des 17.Jahrhunderts zurück, als diese sich nach Ende des Dreißigjährigen Krieges hier niederlassen; um 1700 sollen im Ort fünf Familien gelebt haben. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie damals im Geldverleih sowie vom Handel mit Vieh, Getreide, Textilien und Gewürzen. Eine gemeindliche Struktur bildete sich im Laufe des 18.Jahrhunderts heraus.

 Stadt Lichtenau - Gemälde von Carl Ferdinand Fabritius, um 1665 (Abb. aus: wikipedia.org, CCO)

Das Bürgerrecht in der Kleinstadt erlangten alle hier lebenden Juden im Jahre 1810 durch eine einmalige Zahlung von 300 Rtlr. in die Stadtkasse.

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts – vermutlich 1805 - errichtete die Judenschaft ein kleines Synagogengebäude in der Mühlenstraße; zuvor hatte ein angemieteter Betraum für gottesdienstliche Zusammenkünfte zur Verfügung gestanden. Die Finanzierung des Gebäudes konnte nur durch einen Kredit von 1.000 Rtlr. gesichert werden; den Schuldschein dafür hatten die 22 männlichen Gemeindeangehörigen unterschrieben.

Nach dem Brand der Synagoge (1831) wurde zwei Jahre später ein Neubau (Fachwerkhaus) fast an gleicher Stelle errichtet und eingeweiht. Über die Synagoge wird berichtet: … Durch einen Flur betrat man dann den Gebetsraum, der nur den Männern vorbehalten war. Die Frauen mussten im Innern des Gotteshauses über eine Treppe auf eine Empore zu den ihnen ausgewiesenen Frauenplätzen. Im Innern waren 42 Stände vorhanden, versehen mit den Namen und Hausnummern der Besitzer.“

Neben der Synagoge soll sich die jüdische Schule befunden haben, deren Lehrer namentlich ab 1812 bekannt sind. Zeitweilig gab es im Ort auch einen jüdischen Privatlehrer, der von wohlhabenderen Familien für ihre Kinder engagiert worden war.

Die älteste Begräbnisstätte der hiesigen Juden wurde vermutlich im 17.Jahrhundert angelegt; diese befand sich vor der Stadtmauer. Im Jahre 1772 erhielten sie einen neuen Begräbnisplatz (vor der südlichen Stadtmauer im Bereich der heutigen Glockengasse) zugewiesen, der bis in die 1840er Jahre benutzt wurde. Danach begrub man verstorbene Gemeindeangehörige auf einem angekauften Areal am westlichen Ortsrand am Sudheimer Weg, der heutigen Simon-Archenhold-Straße.

Zu dem 1856 eingerichteten Synagogenbezirk Lichtenau zählte auch Holtheim; hier lebten aber nur vereinzelt Juden. Auch Glaubensgenossen aus Atteln und Husen suchten gelegentlich die Synagoge in Lichtenau auf.

Juden in Lichtenau:

--- 1690 ...........................   3 jüdische Familien,

--- 1704 ...........................   5     “        “   (38 Pers.),

--- um 1770 ........................   8     “        “   ,

--- um 1780 ........................  12     "        "   ,

--- 1803 ...........................  15     “        “   (ca. 75 Pers.) ,

--- 1809 ...........................  85 Juden,

--- 1819 ........................... 133   “  ,

--- 1843 ........................... 123   “  (in 25 Familien),

--- 1858 ........................... 122   “  ,

--- 1871 ...........................  94   “  ,

--- 1885 ...........................  74   “  ,

--- 1895 ...........................  70   “  ,

--- 1925 ...........................  17   “  ,

--- 1934 ...........................  13   “  ,

--- 1939 ...........................  10   "  ,

--- 1942 (Aug.) ....................   keine.

Angaben aus: Bernd Kruse/Kathrin Brüggenthies (Bearb.), Lichtenau, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen ..., S. 507

 

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts haben die jüdischen Familien Lichtenaus vor allem mit Getreidehandel ihren Lebensunterhalt bestritten. Mit einer um 1807 gegründeten Lederfabrik des Herz (Joseph) Wallach schien sich im Ort auch eine Verbesserung seiner Wirtschaftsstruktur anzubahnen; doch bereits zwei Jahrzehnte später ging das kleine Unternehmen Konkurs.

Ab den 1860er Jahren setzte dann eine Abwanderung jüdischer Familien in größere Städte ein; so verließen zahlreiche Familien Lichtenau, um in Berlin oder in industriell aufstrebenden Städten des Ruhrgebiets eine neue Existenz aufzubauen. Nach 1900 war die Zahl der Gemeindemitglieder stark zurückgegangen. Anfang der 1930er Jahre konnten keine Gottesdienste mehr abgehalten werden, da kein Minjan mehr erreicht wurde.

Während des Novemberpogroms 1938 soll es in Lichtenau zu keinen Zerstörungen von Geschäften bzw. gewerblichen Räumen gekommen sein; die Gewalt richtete sich vielmehr gegen Wohnungen jüdischer Familien, was auf Unverständnis der Beveölkerung gestoßen sein soll. Das ehemalige Synagogengebäude blieb von Zerstörung verschont, da es zu diesem Zeitpunkt bereits in „arischen“ Händen war; ein Lichtenauer Bäckermeister hatte es kurz vorher erworben. Die im Hause des Synagogenvorstehers befindlichen Thorarollen wurden beschlagnahmt; andere Ritualien „verschwanden“ spurlos.

Wenige Monate später löste sich die Gemeinde auf. Die letzten jüdischen Bewohner wurden im Dezember 1941 bzw. im Juli 1942 ins Ghetto Warschau bzw. nach Theresienstadt verschleppt; dort verlieren sich ihre Spuren.

 

Der in der NS-Zeit verwüstete Friedhof am Sudheimer Weg wurde in den 1970er Jahren wieder hergerichtet; ca. 45 Grabsteine sind heute noch vorhanden, der älteste von 1851.

Jüdischer Friedhof (Aufn. Ts., 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

Seit 1988 erinnert ein Mahnmal am Friedhofseingang an die während der NS-Zeit deportierten und ermordeten Juden Lichtenaus und Husens; dessen Inschrift lautet: "Zum Gedenken an unsere verfolgten und ermordeten jüdischen Mitbürger zur Zeit der Nazi-Herrschaft und den Lebenden zur Mahnung wurde dieses Mal errichtet."

Mahnmal auf dem Friedhof (Aufn. Ts., 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0) Lichtenau - 2017-09-04 - Judenfriedhof (2).jpg

Anm.: Auf dem alten jüdischen Friedhof, der ehemals vor der Stadtmauer im Bereich der Glockenstraße lag, befinden sich keine Grabsteine mehr; dieses Gelände war vom 17. Jahrhundert bis etwa 1770 belegt worden.

Das ehemalige Synagogengebäude, das nach 1938 als Lagerraum verwendet wurde, wurde in den 1950er Jahren wegen Baufälligkeit abgerissen.

1976 wurde nach dem bedeutendsten Sohne der Kleinstadt, Friedrich Simon Archenhold, eine Straße benannt. Seit 1993 trägt auch die hiesige Hauptschule seinen Namen.

Friedrich Simon Archenhold  (seine Büste vor der Sternwarte in Alt-Treptow - Aufn. S. Wallroth, 2004, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie in Lichtenau (geb. 1861). Nach dem Besuch des Realgymnasiums in Lippstadt studierte er in Berlin und Straßburg u.a. Astronomie, die bald sein Leben bestimmen sollte. Neben seiner eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit setzte er sich mit ganzer Kraft für die Volksbildung ein. Ein großer Erfolg gelang ihm mit dem Bau der Sternwarte in Berlin-Treptow (1896-1909), deren Direktor er bis 1931 war. Der anerkannte Forscher Archenhold erhielt im Laufe seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen; er wurde Mitglied der British Astronomical Association und in die Societe Astronomicel de France aufgenommen, weiterhin zum Ehrenmitglied der Sociedad Astronomica de Mexico ernannt (1904). Von der Western-University in Pennsylvania wurde Simon Archenhold ein Ehrendoktortitel verliehen. Seine Geburtsstadt Lichtenau trug ihm 1931 die Ehrenbürgerschaft an. 1939 starb Simon Archenhold in Berlin; sein Grab befindet sich auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde. 

Alice Archenhold, Mitarbeiterin und Ehefrau des Sternwarten-Gründers, wurde mit ihrer Tochter nach Theresienstadt deportiert; beide fanden den Tod. Nach Alice Archenhold ist heute eine Straße in Berlin-Niederschöneweide (Stadtbezirk Treptow-Köpenick) benannt.

 

Im Jahre 2018 wurden die ersten sog. "Stolpersteine" in Lichtenau verlegt, die an Angehörige einst hier lebender jüdischer Familien erinnern. Zwei Steine unmittelbar neben dem heutigen Rathaus erinnern an das Schicksal von Angehörigen der Familie des Kaufmanns Siegmund Schnellenberg; zeitgleich wurden auch einige "Stolpersteine" an drei weiteren Standorten in der Langen Straße verlegt.

der Stolperstein für Lieselotte Schellenberg der Stolperstein für Wilhelmine SchellenbergLange Straße (Aufn. G., 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

          

 

 

Weitere Informationen:

Ingo Kottsieper, Die Grabinschriften des jüdischen Friedhofs Lichtenau/Westfalen, hrg. vom Förderkreis für Heimatgeschichte und Naturkunde der Stadt Lichtenau, Lichtenau 1985

Friedrich Simon Archenhold – Ein Lichtenauer jüdischer Herkunft. Projekt der Hauptschule Lichtenau, 1993

Bernd Kruse, Zur Synagoge in Lichtenau, in: "Lichtenauer Heimatblätter", No. 4/1998, S. 32 - 34

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 339/340

Bernd Kruse/Kathrin Brüggenthies (Bearb.), Lichtenau, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold, Ardey-Verlag, Münster 2013, S. 505 - 510

Jens Reddeker (Red.), Stolpersteine erinnern in Lichtenau an NS-Opfer, in: "NW - Neue Westfälische" vom 23.5.2018

Auflistung der in Lichtenau verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Lichtenau_(Westfalen)