Merchingen (Baden-Württemberg)

Physische Karte des Baulands Naturraum Nr. 128 (braun umrandet)Bildergebnis für Ravenstein  baden-württemberg karte Merchingen ist heute mit derzeit ca. 2.900 Einwohnern einer der Ortsteile von Ravenstein - etwa 20 Kilometer südwestlich von Bad Mergentheim gelegen (topografische Karte des 'Baulandes' mit Eintrag von Ravenstein, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Neckar-Odenwald-Kreis', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0). 

 

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts erreichte die israelitische Gemeinde von Merchingen ihren personellen Zenit; damals war jeder vierte Ortsbewohner jüdischen Glaubens.

Die Annahme, dass sich bereits im 13./14.Jahrhundert Juden im Ort aufgehalten haben, lässt sich nicht belegen. Eine jüdische Gemeinde in Merchingen existierte seit dem 17.Jahrhundert; die ersten Familien hatten sich hier nachweislich nach Ende des Dreißigjährigen Krieges niedergelassen; als Schutzjuden der Herren von Berlichingen waren sie diesen abgabenpflichtig; ab 1806 stand Merchingen unter badischer Herrschaft. Gegen eine jährliche Zahlung an die Herrschaft durften die Juden Merchingens um 1740 an allen Ortsausgängen Schranken bzw. Schlagbäume - zur Festlegung der Sabbatgrenzen - errichten, wodurch ein „privater Bereich“ entstand; in diesem Areal (Eruw) waren bestimmte Tätigkeiten gestattet. Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts zählte die jüdische Gemeinde mehr als 200 Angehörige und stellte damit einen relativ hohen Anteil an der dörflichen Bevölkerung; ihren Höchststand erreichte die Zahl der Gemeindeangehörigen um 1850; danach ging diese infolge Auswanderung bzw. Abwanderung und Geburtenrückgang rapide zurück.

Ihre erste Synagoge, ein umgebautes Privathaus, war bereits um 1740 vorhanden. Ein neues Gebäude an der Schollbergstraße weihte die religiös-konservativ eingestellte Gemeinde Mitte des 19.Jahrhunderts ein.

 ehem. Synagogengebäude in Merchingen (Aufn. nach 1950)*

* 1950 ging das Gebäude in die Hände der katholischen Kirchengemeinde über; angebaut wurde noch ein Glockenturm.

Eine Mikwe war in einem kleinen Gebäude an der Schafbrücke untergebracht.

Mit der Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war - neben dem Merchinger Bezirksrabbiner - ein Lehrer betraut.

Stellenanzeige aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom Juni 1882 http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20164/Merchingen%20Israelit%2008061881.jpg

Im 19.Jahrhundert existierte zeitweilig auch eine jüdische Elementarschule am Ort; diese blieb bis zur Einrichtung einer gemischt-konfessionellen Volksschule (1869) bestehen.

Die verstorbenen Merchinger Juden wurden zunächst auf den Friedhöfen der Umgebung, in Berlichingen und Bödigheim bestattet; ab 1812 stand dann ein eigener Friedhof am Wurmberg, an der Straße nach Ballenberg, zur Verfügung.

    Grabmale aus dem 19.Jahrhundert (Aufn. R. Klotz, 1970)

Ab 1827 war Merchingen über 50 Jahre Sitz eines Bezirksrabbinats, dem zahlreiche Gemeinden der Region unterstanden, u.a. Adelsheim, Bödigheim, Buchen, Eberstadt, Eubigheim, Krautheim u. Sennfeld.

Zacharias Staadecker (gest. 1857) stand ca. ein Vierteljahrhundert dem Rabbinat vor; er gehörte „entschieden der Klasse der strenggläubigen Rabbiner“ an. Ihn zeichnete ein umfangreiches rabbinisches Wissen aus; „ ... er suchte zu belehren, zu überzeugen und seine religiöse Anschauung zu verbreiten; ließ sich aber da, wo seine Lehren keinen Eingang, keinen fruchtbaren Boden fanden, weder von leidenschaftlichen Ausbrüchen noch gar von Verfolgungen hinreißen. Nächst der Toleranz zeichneten ihn Bescheidenheit, Demut und Genügsamkeit aus, ein Dreigestirn, das wir in unserer Zeit so selten vereinigt finden! (aus:  "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 28. Sept. 1857)

Bekanntester Merchinger Bezirksrabbiner war Dr. Julius Fürst (geb. 1828), der sich reformerischen Tendenzen gegenüber aufgeschlossen zeigte, allerdings hier nur kurze Zeit amtierte (1858–1861).

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20164/Merchingen%20AZJ%2015031858.jpgaus: „Allgemeine Zeitung des Judentums“ vom 15.März 1858

Anm.: Später war er Rabbiner in der Schweiz, in Bayreuth, Mainz und Mannheim. Als Wissenschaftler untersuchte er die Bedeutung griechischer und lateinischer Wörter im jüdischen Schrifttum.

Dessen Nachfolger im Rabbinat wurde im Jahre 1861 Baruch Hirsch Flehinger, der ein Vierteljahrhundert hier amtierte.

                 Kleinanzeige, die eine Schrift von Rabbiner Flehinger anbietet http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20164/Merchingen%20AZJ%2031081880.jpg

Nach dem Tod von Bezirksrabbiner Dr. Heilbutt im Jahre 1883 wurde das Merchinger Bezirksrabbinat nicht mehr besetzt, ab 1886 von Mosbach aus mitverwaltet und schließlich bald ganz aufgehoben.

Auf Grund des „seit den ältesten Zeiten“ bestehenden engen Anschlusses an die Kultusgemeinde Merchingen suchten die Hüngheimer Juden hier die Synagoge auf und begruben auf dem Merchinger Friedhof auch ihre Verstorbenen.

Der jüdischen Gemeinde Merchingen waren seit ca. 1900 die wenigen Juden aus Osterburken angegliedert.

Juden in Merchingen:

         --- um 1740 ..................... ca. 210 Juden (in 40 Familien),

    --- um 1810 ..................... ca.  50 jüdische Familien,

    --- 1825 ............................ 250 Juden (ca. 26% d. Bevölk.),

    --- 1849 ............................ 325   “  ,

    --- 1855 ............................ 274   “  ,

    --- 1875 ............................ 218   “   (ca. 20% d. Bevölk.),

    --- 1895 ............................ 137   “  ,

--- 1900 ............................ 101   “   (ca. 10% d. Bevölk.),

--- 1910 ............................  74   "   (ca. 8% d. Bevölk.),

    --- 1925 ............................  62   “  ,

    --- 1933 ............................  38   “  ,

    --- 1940 (Sept.) ....................   3   “  ,

    --- 1941 ............................   keine.

Angaben aus: F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale,..., S. 199

 

Um 1840/1850 hatte die jüdische Gemeinde mit mehr als 320 Angehörigen ihren Höchststand erreicht; fast ein Drittel der Merchinger Einwohner waren damals Juden. In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wanderten viele jüdische Familien aus Merchingen ab; dies führte - verstärkt durch den Geburtenrückgang - zu einer Auszehrung der Kultusgemeinde, zu der zu Beginn des 20.Jahrhunderts kaum noch jüngere Menschen gehörten. Neben Vieh- und Fruchthandel betrieben die Juden Merchingens auch Ladengeschäfte oder übten Handwerkerberufe aus.

An dem einvernehmlichen Zusammenleben zwischen jüdischen und christlichen Einwohnern änderte sich eine Zeitlang noch nichts, doch langsam bewirkte auch hier die NS-Propaganda eine allmähliche Ausgrenzung der jüdischen Bewohner. Während der „Kristallnacht“ vom November 1938 wurde die Synagoge von auswärtigen SA-Angehörigen demoliert und der jüdische Kantor misshandelt. Diese Vorgänge beschleunigten die Auswanderung der wenigen jüdischen Familien; die letzten drei verbliebenen jüdischen Bewohner des Ortes wurden im Oktober 1940 nach Gurs deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem wurden 29 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum in Merchingen ansässige jüdische Einwohner Opfer der Shoa (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/merchingen_synagoge.htm).

 

Der zu Beginn des 19.Jahrhunderts angelegte jüdische Friedhof Merchingens weist heute noch etwa 380 Grabsteine auf, davon einige aus frühester Zeit; deren Erhaltungszustand ist relativ gut.

  Blick auf das Friedhofsgelände  und  einzelne Grabsteine mit Symbolik (Aufn. P. Schmelzle, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Ein Gedenkstein und eine Gedenktafel erinnern seit 1983 an die Geschichte des ehemaligen Synagogengebäudes, das 1951 in eine katholische Kirche umgewidmet wurde. Bei einer Renovierung des Gebäudes in den 1970er Jahren wurden Reste einer Genisa gefunden; über den Verbleib des Fundes ist nichts bekannt.

Der Merchinger Memorialstein – eine Schöpfung der gesamten Dorfgemeinschaft - wurde 2020 auf dem Gelände des Deportations-Mahnmals in Neckarzimmern aufgestellt. Unter dem Relief eines Baumes, der aus einer Menora emporzuwachsen scheint, ist ein Ausspruch Paulus´ eingemeißelt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Röm. 11,18“.

         Gedenkstein in Merchingen Aufn. aus: mahnmal-neckarzimmern.de

In den Straßen Merchingens wurden 2012 zwei sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an das jüdische Ehepaar Fleischhacker erinnern.

                        Abb. der beiden „Stolpersteine“ aus: rnz.de  http://www.rnz.de/cms_media/module_img/97/48507_1_org_atex_e26250122e1fbbab883f6076eed3b399_onlineBild.jpg

 

 

In den zur Verwaltungsgemeinschaft Ravenstein zählenden Ortsteilen Hüngheim und Ballenberg hat es sehr kleine jüdische Gemeinden gegeben, die sich Ende des 19.Jahrhunderts auflösten. 

[vgl. Hüngheim (Baden-Württemberg)]

 

 

 

Weitere Informationen:

F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968, S. 198 - 200

Joachim Hahn, Synagogen in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1987, S. 89

Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 392 ff.

Benjamin Wolf Nir, Dokumentation des jüdischen Friedhofs in Merchingen, Hrg. Stadt Ravenstein 2004

Walter Brecht, Die jüdischen Friedhöfe in Hüngheim und Merchingen. Teil 2: Der Merchinger Judenfriedhof, in: "Badische Heimat 2004 - Heimatkalender für Neckartal, Odenwald, Bauland und Kraichgau", Heidelberg 2004, S. 98 – 100

Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 386 – 389

Merchingen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

R. Landauer/R. Lochmann, Spuren jüdischen Lebens im Neckar-Odenwald-Kreis, hrg. vom Landratsamt NOK, 2008

Walter Brecht (Red.), Juden und Christen lebten im Einklang, in: „Fränkische Nachrichten“ vom 24.12.2011

Walter Brecht (Red.), Merchingen: „Stolpersteine“ für Ida und Nathan Fleischhacker verlegt, in: „Fränkische Nachrichten“ vom 21.5.2012