Neumünster (Schleswig-Holstein)
Neumünster mit derzeit ca. 80.000 Einwohnern ist eine kreisfreie Stadt in der Mitte Schleswig-Holsteins und nach Kiel, Lübeck und Flensburg die viertgrößte Stadt des nördlichsten deutschen Bundeslandes - südlich von Kiel bzw. nordwestlich von Lübeck gelegen (Karte 'Schleswig-Holstein', J. 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC0 und Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, CCO).
Bereits in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts ließen sich erstmals wenige jüdische Familien in dem kleinen Ort Neumünster, der erst 1870 die Stadtrechte erhielt, nieder; bis 1866 bestand für Juden noch ein offizielles Aufenthaltsverbot in Neumünster. Die Zahl der in Neumünster lebenden Juden blieb immer sehr gering; so zählte man 1871 nur zehn. Anfang der 1930er Jahre war mit ca. 70 Personen ein Höchststand erreicht; doch insgesamt machte ihr Anteil nur knapp 0,1 % der Gesamtbevölkerung aus. Wegen ihrer geringen Anzahl verfügten die Neumünsteraner Juden weder über eine Synagoge noch über einen eigenen Friedhof; sie gehörten seit 1913 der jüdischen Gemeinde Bad Segeberg an und nutzten die dortigen Gemeindeeinrichtungen. Anfang der 1930er Jahre führte ein Streit beinahe zur Abspaltung der Neumünsteraner Juden von der Segeberger Gemeinde.
Juden in Neumünster:
--- 1871 .......................... 10 Juden,
--- 1905 .......................... 28 “ ,
--- 1912 .......................... 20 “ ,
--- 1925 .......................... 43 “ ,
--- 1928 ...................... ca. 45 “ ,
--- 1933 .......................... 70 “ ,
--- 1938 .......................... 21 “ ,
--- 1939 .......................... 16 “ .
Angaben aus: Materialien zur Geschichte der Juden in Bad Segeberg, aus: Informationen anläßlich des Besuches ..., S. 83
Ansicht von 1895 (Aufn. Wilhelm Dreesen, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Mit Beginn der NS-Zeit wurden auch die Neumünsteraner Juden Opfer von antisemitischen Kampagnen; besonders die Lokalzeitung, der „Holsteinische Courier”, wurde zum Sprachrohr antisemitischer Hetze, die auch bald Wirkung zeigte.
Boykottaufruf (aus: „Holsteinischer Courier“ Ende März 1933)
So wurden Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte eingeworfen und „jüdisch aussehende“ Passanten auf offener Straße von SA-Angehörigen belästigt. Am 1. April 1933, dem reichsweiten Boykotttag, blockierten SA-Männer die wenigen jüdischen Geschäfte.
Anzeigen „Holsteinischer Courier“ vom 25. Okt. 1933 (!)
Anm.: Der neue, „reindeutsche“ Inhaber gibt hier die Übernahme eines vormals jüdischen Herrenausstatters in Neumünster bekannt. Gleichzeitig möchte er vom guten Ruf des Vorgängers profitieren und wirbt mit dieser Annonce um die alte Kundschaft.
Bereits 1933/1934 verließen 15 jüdische Bürger ihre Heimatstadt; sie zogen entweder in deutsche Großstädte oder emigrierten ins europäische Ausland. Nur noch zwei Kinder besuchten Ende 1933 den jüdischen Religionsunterricht. Im August 1935 wurden die antisemitischen Parolen in Neumünster besonders lautstark vertreten; auf einer großen SA-Kundgebung wurde die Bevölkerung dazu aufgerufen, sich gegen „das Volksschädigende des Judentums, Pfaffentums und der Reaktion” zur Wehr zu setzen. Im gleichen Jahr wurden vier jüdische Männer in Neumünster verhaftet; dabei wurden sie gezwungen, mit Schildern um den Hals - beschriftet mit antijüdischen Parolen wie „Wir sind das auserwählte Volk, wir werden jetzt das Arbeiten lernen” - durch die Stadt zu laufen. Anschließend sollen sie ins KZ Sachsenhausen eingeliefert worden sein.
In einem Artikel aus der „Kaltenkirchener Zeitung” hieß es am 27.8.1935 dazu:
Antisemitische Kundgebung
Am letzten Sonntagvormittag veranstaltete die hiesige SA eine große antijüdische Kundgebung, die durch zahlreiche Straßen im Mittelpunkt Neumünsters führte. Im Holstenring wurden Lastkraftwagen - schätzungsweise zwanzig an der Zahl - zusammengestellt. Durch zahlreiche an den Fahrzeugen befestige Plakate und durch Sprechchöre auf den Wagen wurde das Volksschädigende des Judentums, Pfaffentums und der Reaktion eindrucksvoll vor Augen geführt. Die Kundgebung dauerte mehrere Stunden.
1938 sollen noch 21 Juden in der Kleinstadt gelebt haben; nur ein Jahr später hatte sich ihre Zahl halbiert. Die Schicksale der meisten Juden aus Neumünster sind bis heute ungeklärt.
Heute erinnern in den Straßen von Neumünster ca. 35 sog. „Stolpersteine“ (Stand 2024) an Personen, die Opfer des nationalsozialistischen Terrors geworden sind (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe. neumuenster.de/kultur-freizeit/stadtgeschichte/stolpersteine/).
in der Kieler Straße
Seit 2023 erinnert in einem Neubaugebiet der Stadt die Alice-Spitz-Straße an das Schicksal der Jüdin, die zusammen mit vier ihrer Kinder 1942 nach Riga deportiert und ermordet wurde. Einzig ihre damals zweijährige Tochter Lea konnte in einem Kindertransport nach England gelangen. Auch ihr Ehemann Jacob überlebte die NS-Zeit, nachdem er kurz vor Ausbruch des Krieges nach Polen abgeschoben worden war.
verlegt für Angehörige der Familie Weissbaum, Am Kuhberg (alle Aufn. Chr. Michelides, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im südwestlich von Neumünster gelegenen Itzehoe erinnern seit 2006 elf in die Pflasterung eingelassene sog. „Stolpersteine“ vor vier Häusern in der Breiten Straße, am Sandberg und in der Kirchenstraße an die Schicksale von Menschen, die dem NS-Regime zum Opfer fielen.
Erst im 19.Jahrhundert ist die Anwesenheit nur sehr weniger jüdischer Bewohner feststellbar. Bei der Volkszählung von 1925 lebten lediglich 17 Juden in der Stadt (von insgesamt ca. 19.500 Einw.). Zu Beginn der 1930er Jahre hatten vier jüdische Kaufmannsfamilien hier ihre Geschäfte: Schuhwarengeschäfte Eichwald (Breite Straße) und Rieder (Sandberg), Herren-Konfektionshaus Gortakowski (Breite Straße) und 'Kaufhaus Union' der Fam. Abraham (Kirchenstraße).
sechs "Stolpersteine" (Aufn. A. Koch, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
2023 wurden drei weitere "Stolpersteine" für die Familie Abraham verlegt.
Bereits 1946 (!) wurde in Itzehoe ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialisms errichtet, das zu diesem Zeitpunkt eines der ersten überhaupt in Deutschland war. Die Initiative für dessen Errichtung ging von dem aus Ungarn stammenden Holocaust-Überlebenden Gyula Trebitsch (späterer Begründer des 'Studio Hamburg', Film- u. Fernsehproduzent) und der damals in Itzehoe existierenden jüdischen Gemeinschaft aus.
Mahnmal in Itzehoe (Aufn. N., 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY 3.0)
Anm: Die gegen Ende der 1950er Jahre abgebaute und an den Stadtrand verbannte kleine Gedenkanlage wurde knapp drei Jahrzehnte später wieder an den ursprünglichen Stanort rückversetzt und durch die damalige Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein Heide Simon neu eingeweiht.
In der kleinen Ortschaft Remmels – etwa 25 Kilometer westlich von Neumünster gelegen – erinnern seit 2020 zwei sog. „Stolpersteine“ an das jüdische Ehepaar Ernst und Cäcilie Bamberger.
verlegt in der Hauptstraße (Aufn. Chr. Michelides, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
In Wilster – wenige Kilometer westlich von Itzehoe – erinnern seit 2020 vor dem Alten Rathaus vier sog. „Stolpersteine“ an nicht-jüdische NS-Opfer.
In Lägerdorf – südlich von Itzehoe – waren 2016 die ersten beiden "Stolpersteine" verlegt worden; 2022 kamen weitere sieben Steine hinzu, die politisch Verfolgten des NS-Regimes gewidmet sind.
verlegt in der Rethwischer Straße (2016)
Weitere Informationen:
Volkshochschule Neumünster (Hrg.), Neumünster im Zeichen des Hakenkreuzes - Dokumentation. Neumünster, 2.Aufl. 1983
Materialien zur Geschichte der Juden in Bad Segeberg (Informationen anlässlich des Besuches von Ignatz Bubis im Mai 1994 in Bad Segeberg, S. 81 ff.)
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 756/757
Carsten Obst, “ ... muß wegen seiner jüdischen Abstammung die Gilde verlassen. Judenverfolgung in Neumünster, in: Gerhard Paul/Miriam Gillis-Carlebach (Hrg.), Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona 1918 - 1998, Wachholtz Verlag, Neumünster 1998, S. 345 ff.
Carsten Obst, Jüdische Bürger in Neumünster - Von der Judenemanzipation bis zum Holocaust, in: "Steinburger Jahrbuch 2002", hrg. vom Heimatverband für den Kreis Steinburg, S. 202 - 224
Regina König (Red.), „ … wohl nach Amerika oder Palästina ausgewandert. Der Exodus jüdischer Familien aus dem Kreis Steinburg nach 1933, online abrufbar unter: akens.org/akens/texte/info/29/3.html
Marianne Dwars/Alfred Heggen, Stadtgeschichte Neumünster, Neumünster 2012
Stadt Neumünster, Stolpersteine in Neumünster (mit Personendaten/Verlegeorten), online abrufbar unter: kulturraum-neumuenster.de
Stadt Neumünster, Stolpersteine in Neumünster - ein 36-seitiges Heft (mit Personendaten/Verlegeorten), online abrufbar unter: neumuenster.de/fileadmin/neumuenster.de/media/kultur_und_freizeit/stadtgeschichte/stolpersteine/Stolpersteine.pdf
Auflistung der in Neumünster verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Neumünster
Sabine Nitschke (Red.), Eine Stadt verschließt die Augen nicht, in: "Kieler Nachrichten“ vom 1.12.2015
Stadt Itzehoe (Red.), Stolpersteine gegen das Vergessen, aus: itzehoe.de
Auflistung der in Itzehoe verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Itzehoe
Michael Legband (Red.). Itzehoer Mahnmal für die Opfer des NS-Regimes: Erbaut, verdrängt, wiederentdeckt, in: „Norddeutsche Rundschau“ vom 27.10.2017
Manfred Jakubowski-Tiessen (Bearb.), Die ersten jüdischen Gemeinden in den Herzogtümern Schleswig und Holstein im 17.Jahrhundert, in: ders., Religiöse Weltsichten, Matthiesen-Verlag Husum 2020, S. 83 - 102
Delf Gravert (Red.), Gedenktage in Itzehoe. Erinnern an den Holocaust – drei Tage gegen rechten Hass, in: „Norddeutsche Rundschau“ vom 14.1.2020
Beate König (Red.), Fotostrecke: Neue Stolpersteine in Neumünster, in: „Kieler Nachrichten“ vom 3.2.2020
sat.1 (Red.), Holocaust-Mahnmal in Itzehoe – Erinnern an den Nationalsozialismus, aus: sat.1 – regional vom 24.2.2020
Hans-Jürgen Kühl (Red.), „Stolpersteine“ erinnern an das Schicksal der Nazi-Opfer Ernst und Cäcilie Bamberger, in: „Schlewig-Holsteinische Landeszeitung“ vom 29.6.2020
Ilke Rosenburg (Red.), Gegen das Vergessen. Gunter Demnig setzt Stolpersteine in Wilster, in: „Norddeutsche Rundschau“ vom 14.10.2020
Paul Niklaus Stahnke (Red.), Dreiunddreißig Stolpersteine erinnern in Neumünster an die Opfer des Nationalsozialismus, in: „Holsteinischer Kurier“ vom 9.11.2021
Joachim Möller (Red.), Erinnerung an NS-Opfer – Acht Stolpersteine gegen das Vergessen in Lägerdorf, in: „Norddeutsche Rundschau“ vom 24.3.2022
Werner Junge - Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte (Bearb.), Mahnmal Itzehoe, online abrufbar unter: geschichte-s-h.de/sh-von-a-bis-z/m/mahnmal-itzehoe/
Michael Legband, Das Mahnmal – 75 Jahre gegen das Vergessen,. Vom Umgang mit dem Nationalsozialismus in Itzehoe, Verlag Ludwig Kiel 2022 (darin: Regina König, Vertrieben, verfolgt, ermordet. Jüdische Familien aus Itzehoe und Krempe, S. 245 - 255)
Thorsten Geil (Red.), Bewegendes Gedenken an der Alice-Spitz-Straße in Neumünster, in: „Kieler Nachrichten“ vom 9.6.2023
Anneliese Smuda (Red.), Im KZ ermordet – Kaufhausbetreiberin Erna Gortakowski und Tochter Ilse, in: „Norddeutsche Rundschau – Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag“ vom 2.8.2023
Anneliese Smuda (Red.), Stolpersteine erinnern – Von Itzehoe über China in die USA: Das Schicksal der Familie Abraham, in: "Norddeutsche Rundschau – Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag“ vom 7.8.2023
Gunda Meyer (Red.), Erinnerung an Nazi-Verbrechen in Neumünster wird digital, in:: „Kiler Nachrichten“ vom 22.2.2024