Neustadt (Hessen)
Neustadt (Hessen) ist mit derzeit ca. 10.400 Einwohnern eine Kleinstadt im hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf - knapp 30 Kilometer östlich von Marburg gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, CCO und Kartenskizze 'Landkreis Marburg-Biedenkopf', Andreas Trepte, 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).
Neustadt - Kupferstich aus der Mitte des 17.Jahrhunderts (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Die Wurzeln der hiesigen jüdischen Gemeinde reichen zurück in die Zeit des 17.Jahrhunderts; so sollen um 1650 hier sieben „Schutzjuden“ mit ihren Familien gelebt haben. Erstmalige Nennung eines Juden in Neustadt erfolgte bereits in einer Urkunde des Jahres 1513. Spätestens seit dem 18.Jahrhundert lebten einzelne jüdische Familien dann dauerhaft in Neustadt und im nahen Momberg.
Bereits im 18. Jahrhundert war ein Betraum in einem jüdischen Privathaus vorhanden. Anfang der 1770er Jahre erwarb die Gemeinde eine Scheune in der Bogengasse, die zur Synagoge – mit Lehrerwohnung und Schulraum – ausgebaut wurde. Nach 1850/1860 war die bisherige Synagoge zu klein geworden, zudem auch baufällig; deshalb errichtete die jüdische Gemeinde Neustadt eine neue an der Marburger Straße; es war ein Fachwerkbau mit Rundbogenfenstern, der etwa 120 Personen Platz bot. Anfang September 1887 konnte das neuerstellte Gebäude eingeweiht werden.
Synagoge (links: hist. Aufn., Sammlung B. Händler-Lachmann, rechts: Federzeichnung von W. Sohn)
Neben einer Frauenempore gab es im Kelleraum auch eine Mikwe, die bis etwa 1900 benutzt wurde; aus hygienischen Gründen legte man wenige Jahre später ein neues Frauenbad an, das mit Brunnenwasser gespeist wurde. Das alte Synagogengebäude blieb auch nach Einweihung des Neubaues an der Marburger Straße im Besitz der israelitischen Gemeinde (bis 1901).
Zu einer Beschädigungen des neuen Synagogengebäudes kam es bereits ein Jahr nach dessen Einweihung im Zusammenhang des Auftretens des Antisemiten Dr. Böckel in Neustadt. Ein Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 6. September 1888 berichtete wir folgt darüber:
Über das 25-jährige Jubiläum der Synagogeneinweihung berichtete ein Artikel im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 9. August 1912:
„Neustadt in Hessen. Die hiesigen Juden begingen am 26., 27. und 28. Juli das 25-jährige Jubiläum ihrer Synagoge. Zu dieser Feier hatten sich auch eine große Anzahl auswärtiger Gäste eingefunden. In der ganz renovierten und geschmückten Synagoge wurde Freitag Nachmittag ein Festgottesdienst abgehalten, bei dem Provinzialrabbiner Dr. Munk - Marburg die Festpredigt hielt und Lehrer Markus der Gründer in einer Ansprache gedachte. Nach einem Zug durch die in Festesschmuck prangende Stadt fand im Saale des Deutschen Haus ein Kommers statt. Samstag Morgen sprach Lehrer Markus noch aus Anlass eines von einem Gemeindemitglied gestifteten Ner-Tomid [=Ewiges Licht]. Mit Konzert und Tanz fanden die Festlichkeiten ihren Abschluß.“
Für die Besorgung religiöser Aufgaben war seitens der Gemeinde ein Lehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war. Die jüdische Elementarschule muss in Neustadt um 1830 eingerichtet worden sein; deren Blütezeit war in den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts, als hier bis zu 50 Kinder unterrichtet wurden. Ein langjährig hier wirkender Lehrer war Wolf Plaut, der von 1839 bis zu seinem Tode (1874) hier seinen Wirkungskreis hatte. Ihm folgte für mehrere Jahrzehnte Moritz Marcus Plaut (von 1874 bis 1913) nach. Wegen Schülermangels wurde der Schulbetrieb 1933/1934 eingestellt und die Schule aufgelöst.
Der jüdische Friedhof der Neustadter Gemeinde lag nordöstlich der Stadt auf dem Simmeskopf, auf halben Wege zwischen Neustadt und Momberg; angelegt wurde dieser um 1830; zuvor waren die Verstorbenen auf dem israelitischen Friedhof in Hatzbach (heute Stadtteil von Stadtallendorf) begraben worden.
Juden in Neustadt (Hessen):
--- 1710 ......................... 33 Juden,
--- 1812 ......................... 24 jüdische Familien,
--- 1822 ......................... 70 Juden,
--- 1853 ......................... 94 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1861 ......................... 90 " ,
--- 1871 ......................... 126 “ ,
--- 1885 ......................... 160 “ (7,5% d. Bevölk.)
--- 1895 ......................... 134 “ ,* * einschl. Juden aus Momberg
--- 1905 ......................... 130 “ ,** ** andere Angabe: 108 Pers.
--- 1925 ......................... 101 “ ,
--- 1930 ......................... 97 “ , (in Momberg: 28 Juden)
--- 1933 ..................... ca. 100 “ (in 29 Familien),
--- 1939 ......................... 40 “ ,
--- 1941 (Mai) ................... keine (?) . * Zur Gemeinde gehörten auch die Juden aus Momberg.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 124
und B.Händler-Lachmann/H.Händler/U.Schütt, Purim, Purim, ihr liebe Leut, wißt ihr was Purim bedeutet ? S. 22
Im 19.Jahrhundert waren die Juden Neustadts und Mombergs hauptsächlich als Viehhändler, aber auch als Makler und Kleinhändler tätig. Neben den beiden Mazzenbäckereien existierten dann nach 1900 einige wenige Geschäfte in jüdischem Besitz.
zwei Anzeigen jüdischer Geschäftsinhaber von 1888/ 1901
Um die Jahrhundertwende erreichte die israelitische Kultusgemeinde Neustadts ihren zahlenmäßigen Höchststand. Bis zu Beginn der 1930er Jahre hielt sich die Zahl der Gemeindeangehörigen einschließlich Momberg bei etwa 120 Personen.
Nur wenige Monate vor der NS-Machtübernahme weihte die hiesige Judenschaft ihr renoviertes Synagogengebäude ein; darüber berichtete die Zeitschrift „Der Israelit“ vom 29.9.1932:
Neustadt (Kr. Kirchhain), 20. September. Am 18. September wurde unsere renovierte Synagoge im Beisein der Gemeindeangehörigen und vieler geladener Gäste dem G’ttesdienst übergeben. Nach einleitender Liturgie durch Herrn Lehrer Weil ergriff Herr Provinzialrabbiner Dr. Cohn, Marburg, das Wort zu einer Weiherede. Dann sprachen Bürgermeister a.D. Dr. Grün, Kirchhain, als Vertreter der Kreisverwaltung, Beigeordneter Reppler, Neustadt, der besonders auf die Tätigkeit des Gemeindeältesten Salli Levi, der in seiner fast 10jährigen Amtstätigkeit, neben der Synagogenrenovierung, den Bau einer Leichenhalle nebst Wirtschaftsraum für die Volksschule, die Instandsetzung des Friedhofs durchgeführt hat, ohne die Gemeinde zu belasten. Herr Bürgermeister Dr. Bicker, Neustadt, sprach, als Vertreter der Stadt, der jüdischen Gemeinde die besten Glückwünsche aus. Herr Gemeindeältester Salli Levi betonte in der Schlußansprache die Freigebigkeit der Gemeindemitglieder und sprach allen Teilnehmern der Feier seinen Dank aus. Mit dem Vortrag eines Liedes durch Herrn Lehrer Weil schloß die eindrucksvolle Feier in der prächtig hergerichteten Synagoge.
Am 1.Januar 1934 wurde die jüdische Schule aufgelöst; im Schuljahr 1932/1933 waren hier nur noch zwölf Kinder unterrichtet worden.
Während des Novemberpogroms von 1938 kam es auch in Neustadt zu Ausschreitungen, an denen sich viele Einwohner beteiligten; darüber gibt auszugsweise der folgende Bericht des Neustädter Bürgermeisters an den Landrat vom 9.11.1938 Auskunft: „ Am 8.November 1938 ... veranstaltete die SA und die HJ im Anschluß an die Übertragung des Rede des Führers von München einen Umzug durch die Straßen der Stadt. Hierbei ist es zu Ausschreitungen gegen die hier wohnenden Juden gekommen, wobei die Häuser und die Wohnungen der Juden von der sich angesammelten aufgeregten Volksmenge mit Steinen usw. beworfen und mehrere Fensterscheiben zertrümmert worden sind. Auch die Fenster und Türen sowie die Inneneinrichtung der Synagoge in der Marburgerstraße sind zertrümmert worden. ... Die Ausschreitungen haben sich am gestrigen Tage in der Hauptsache zwischen 22 1/2 und 23 1/2 Uhr abgespielt. ... Der städtische Polizeibeamte allein konnte gegen die aufgebrachte Menge - es waren etwa 250 bis 300 Personen - nichts ausrichten. ... Über die Täter konnte nichts ermittelt werden, weil es keine Neustädter gewesen sind. Auf wessen Anregung die Ausschreitungen vorgenommen worden sind, konnte nicht ermittelt werden.” Das völlig demolierte Synagogengebäude wurde im Mai 1939 vom neuen Eigentümer abgerissen. Die „Oberhessische Zeitung” vom 26.6.1939 berichtete darüber:
Ein Wahrzeichen ist verschwunden
Neustadt, 26.Juni. Die ehemalige Synagoge an der Straße nach Allendorf ist endlich aus dem Stadtbild verschwunden. Schon längere Zeit wurde sie nicht mehr benutzt, da der größte Teil der Juden ausgewandert ist. Die Stadt kaufte das Grundstück und hat jetzt das Gebäude abbrechen lassen. ...
In Jahren bis Kriegsbeginn ist ein Teil der jüdischen Gemeindeglieder auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts und der Repressalien in größere Städte innerhalb Deutschlands verzogen bzw. in überseeische Länder emigriert. Im Sept. 1940 vermeldete der Bürgermeister Neustadts an den Landrat: “Hier sind jüdische Gewerbebetriebe nicht mehr vorhanden.“
Die letzten Neustädter Juden wurden im Mai 1941 bei anderen jüdischen Familien in Roth und Fronhausen einquartiert; von hier aus wurden sie im Sommer 1942 deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind nachweislich 51 gebürtige bzw. längere Zeit in Neustadt lebende jüdische Bewohner Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/neustadt_hessen_synagoge.htm).
Die Installation einer Gedenktafel am früheren Synagogengebäude in Neustadt scheiterte zunächst am Einspruch der Eigentümer. 2021 konnte dann auf dem Neustädter Rathausplatz das Gedenken an die jüdischen NS-Opfer Neustadts und Mombergs mit einem Denkmal realisiert werden; dieses besteht aus einer Bank mit Lesepult, auf dem wechselnde „Erinnerungsbücher“ befestigt sind.
Auf dem ca. 2.400 m² großen Gelände des jüdischen Friedhofs – rechts der Straße Richtung Momberg - befinden sich heute ca. 140 Grabsteine, die aus der Belegungszeit von 1831 bis 1938 stammen.
Jüdischer Friedhof (Aufn. Sibbling 2019, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 4.0) und einzelne Grabsteine (Aufn. H. Nuhn, 2005)
Vor dem Eingang des jüdischen Friedhofs erinnert seit 1990 ein großer Gedenkstein an die NS-Opfer; ein weiterer Stein auf dem Friedhof ist den zehn jüdischen Deportationsopfern der Gemeinde Momberg gewidmet.
Gedenkblock zu Ehren der Opfer der Gewaltherrschaft 1933 - 1945
Im heutigen Ortsteil Momberg gab es auch eine kleine jüdische Gemeinschaft, deren Wurzeln ins beginnende 18.Jahrhundert zurückreichen und die später der Synagogengemeinde Neustadt angehörte; trotzdem existierte hier eine kleine, 1858 eingerichtete Synagoge mit ca. 40 Plätze für Männer und 20 für Frauen; zuvor waren Gottesdienste im nahen Neustadt besucht worden. Verstorbene fanden auf dem zwischen Momberg und Neustadt gelegenen jüdischen Friedhof ihre letzte Ruhe.
Juden in Momberg:
--- um 1750 ...................... 2 jüdische Familien,33 Juden,
--- 1801 ........................ 49 Juden,
--- 1861 .................... ca. 50 “ (in neun Familien),
--- 1905 ........................ 48 “ ,
--- 1925 ........................ 34 “ ,
--- 1930 ........................ 28 “ ,
--- 1940 ........................ 11 “ ,
--- 1942 (Dez.) ................. keine.
Angaben aus: Momberg, in: alemannia-judaica.de
Kleinanzeigen aus: "Der Israelit" von 1925/1922
Zu Beginn der 1930er Jahre lebten hier nur noch wenige jüdische Familien mit ca. 30 Personen. In der „Reichskristallnacht“ wurde das Innere des Synagogengebäudes völlig demoliert und das Inventar anschließend auf der Straße verbrannt. Das Gebäude ging anschließend in den Besitz eines Landwirts über, der es nach Umbauten als Scheune benutzte.
Die letzten elf jüdischen Bewohner wurden 1941/1942 aus Momberg deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind insgesamt 22 gebürtige bzw. längere Zeit in Momberg ansässig gewesene Juden Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/momberg_synagoge.htm).
Auf dem Friedhof von Momberg ließ eine überlebende Jüdin einen Gedenkstein für zehn deportierte frühere jüdische Einwohner Mombergs aufstellen.
1988 wurde am ehemaligen Synagogengebäude eine Gedenktafel angebracht, die folgende Inschrift besitzt:
Dieses umgestaltete Gebäude diente ehemals als Synagoge der Jüdischen Gemeinde Momberg
Stadt Neustadt (Hessen) im Jahre 1988
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 124 - 126
Dankward Sieburg, Der Friedhof der jüdischen Gemeinden Neustadt und Momberg, in: "Jahrbuch des Landkreises Marburg-Biedenkopf 1988", S. 45 - 67
Alexandra Daniel, Davidstern im Kornspeicher (Momberg), in: "Oberhessische Presse" vom 6.9.1988
Dankward Sieburg, Synagoge und Schule zu Neustadt, in: "Jahrbuch des Landkreises Marburg-Biedenkopf 1989", S. 85 - 170
Dankward Siegburg, Die Synagogengemeinde zu Neustadt. Beiträge zu ihrer Geschichte. Ermittlungen eines Wahlpflichtkurses der Gesamtschule Neustadt, Neustadt 1990
B.Händler-Lachmann/U.Schütt, “ unbekannt verzogen” oder “weggemacht”. Schicksale der Juden im alten Landkreis Marburg 1933 - 1945, Verlag Hitzeroth Druck u. Medien GmbH & Co.KG, Marburg 1992, S. 138 - 162
B.Händler-Lachmann/H.Händler/U.Schütt, Purim, Purim, ihr liebe Leut, wißt ihr was Purim bedeut ? Jüdisches Leben im Landkreis Marburg im 20.Jahrhundert, Hitzeroth Verlag Marburg 1995, S. 22/23 und S. 166 f.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II: Regierungsbezirke Gießen und Kassel, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 159/160
Gisela Spier-Cohen, Weggerissen - Erinnerungen an Theresienstadt, Jonas Verlag, Marburg 2005 (betr. Juden aus Momberg)
Alfred Schneider, Die jüdischen Familien im ehemaligen Kreise Kirchhain. Beiträge zur Geschichte und Genealogie der jüdischen Familien im Ostteil des heutigen Landkreises Marburg-Biedenkopf in Hessen, hrg. vom Museum Amöneburg, 2006
Neustadt (Hessen), in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Juden in Neustadt, in: wikipedia.org/wiki/Juden_in_Neustadt_(Hessen)
Momberg (Stadt Neustadt/Hessen), in: alemannia-judaica.de (mit einigen personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Lokalhistorie)
Florian Lerchbacher (Red.), Gedenken ja – die Frage ist nur: Wie?, in: „Oberhessische Presse“ vom 15.7.2016
Florian Lerchbacher (Red.), Neustadt: Gedenktafel oder Stolpersteine, in: „Oberhessische Presse“ vom 3.2.2018
Florian Lerchbacher/Annegrat Wenz-Haubfleisch (Red.), Gedenken an die Opfer des NS-Terrors, Stadt Neustadt, Jan. 2022