Niedenstein (Hessen)
Niedenstein - mit derzeit ca. 5.500 Einwohnern in fünf Ortsteilen, davon etwa 2.300 Einw. im Kernort - ist die nördlichste Stadt im heutigen hessischen Schwalm-Eder-Kreis, etwa 15 Kilometer südwestlich von Kassel bzw. nördlich von Fritzlar gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Niedenstein, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Schwalm-Eder-Kreis', NNW 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Neben Grebenau besaß Niedenstein zeitweise den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil unter den hessischen Ortschaften.
Ansicht von Niedenstein, 1591, in: Historische Ortsansichten, aus: lagis-hessen.de
Wenige jüdische Familien siedelten sich erstmals Mitte des 17.Jahrhunderts - kurz nach Ende des Dreißigjährigen Krieges - in Niedenstein an. Ihren Höchststand erreichte die israelitische Gemeinde Mitte des 19.Jahrhunderts mit etwa 150 Angehörigen; damals war jeder fünfter Einwohner in Niedenstein mosaischen Glaubens. Gegen den steten Zuzug hatte es zeitweise Widerstand unter den angestammten christlichen Bewohnern gegeben, die die Behörden zu Einschränkungen aufforderten.
Die erste Synagoge in Niedenstein war ein privater Betraum; 1816 stiftete ein begüterter Jude, Calmann Heinemann Michaelis, in der Oberstraße ein massives Gebäude, in dem die Synagoge untergebracht werden sollte; für die Innenausstattung musste allerdings die Gemeinde aufkommen; die Finanzmittel dafür wurden u.a. durch den Verkauf der Plätze der Synagoge (zum damaligen Zeitpunkt: sog. Stände) aufgebracht. Als die Gemeinde um 1840 noch größer geworden war, wurde die Synagoge im Rahmen einer Renovierung durch eine Empore erweitert.
Synagogengebäude in Niedenstein (hist. Aufn., um 1925/1930, aus. Th. Altaras)
Auch eine jüdische Elementarschule bestand bereits seit den 1820er Jahren; sie war von der gesamten jüdischen Gemeinde finanziert worden. Um 1885/1890 besuchten ca. 45 jüdische Kinder diese Schule, ein Jahrzehnt später nur noch ca. 25.
In einem Beitrag der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 9. Mai 1901 hieß es über die damalige Schulsituation: "Niedenstein, im Mai. Hierorts sind zwei strengkonfessionell geschiedene öffentliche Volksschulen, eine israelitische und eine evangelische. An letzterer ist seit Ostern d.J. der Lehrer erkrankt. Damit der Unterricht in dessen Schule nicht leidet, hat auf Anregung des Königlichen Kreisschulinspektors, Herrn Metropolitan Braunhof zu Gudensberg, die Königliche Regierung zu Kassel angeordnet, daß der königliche Lokalschulinspektor, Ortsgeistlicher Herr Pfarrer Eisenberg, wöchentlich drei Stunden Religionsunterricht für den erkrankten Lehrer zu ertheilen habe, während die weltlichen Unterrichtsfächer, als Deutsch, Realien, Rechnen, Turnen etc. dem israelitischen Lehrer, Herrn Heiser zu übertragen sind, was übrigens bei einer Vakanz vom 1. Februar bis 15. April 1884 schon einmal der Fall war."
Ende der 1920er Jahre wurde die jüdische Schule wegen Schülermangels - damals nur noch von sechs Kindern besucht - geschlossen.
Die Lokalberühmtheit Niedensteins war Nathan Keiser, das “Kaiserche von Niedenstein“; er stammte aus dem im Sauerland (geb. 1847) und lebte seit seinem 13.Lebensjahr in Niedenstein. Der auch „Reb Mausche“ genannte Nathan Keiser war „ein armer Jude, der in einem schäbigen glänzenden Gehrock und einem großen schwarzen Hut durch die Lande zog und bettelte. Er ließ sich aber nichts schenken, sondern hatte immer eine kleine Gegengabe bereit, wenn es auch nur ein kleiner Kalender oder ein Stückchen Seife war. Überall war er bekannt, und er galt als Respekts- und vor allem aus Auskunftsperson. Wenn jemand seine Tochter in die Fremde verheiraten wollte, wandte er sich an das 'Kaiserche', der entweder den Freier kannte oder aber sehr bald Auskünfte über ihn beschaffen konnte, da er auf seinen Touren bis nach Bremen hinauf und nach Stuttgart hinunter kam. Er gab jedoch niemals eine schlechte Auskunft, in einem solchen Falle sagte er höchstens: 'Ich kenn de Leut net!' - Man wusste dann Bescheid, und aus der Hochzeit wurde nichts. ...“ (aus: P. Arnsberg)
Ein jüdischer Friedhof wurde in Niedenstein erst um 1830 angelegt, als die Judenschaft ein Stück Land hier erworben hatte; zuvor waren Verstorbene auf dem jüdischen Friedhof in Obervorschütz (Gemeinde Gudensberg) beerdigt worden.
Die Gemeinde gehörte zum Rabbinatsbezirk Niederhessen mit Sitz in Kassel.
Juden in Niedenstein:
--- 1664 .......................... 2 jüdische Familien,
--- 1676 .......................... 3 " " ,
--- 1731 .......................... 5 “ “ ,
--- 1766 .......................... 10 “ “ ,
--- um 1800 ....................... 20 “ “ ,
--- 1815 .......................... 22 “ “ ,
--- 1835 .......................... 120 Juden (ca. 20% d. Bevölk.),
--- 1842 .......................... 138 “ ,
--- 1855 .......................... 110 “ ,
--- 1861 .......................... 147 " (ca. 23% d. Bevölk.)
--- 1880 .......................... 132 “ (ca. 22% d. Bevölk.),
--- 1895 .......................... 119 “ ,
--- 1905 .......................... 101 “ (ca. 17% d. Bevölk.),
--- 1914 .......................... 20 jüdische Familien,
--- 1925 ...................... ca. 85 Juden,
--- 1932 .......................... 70 " (ca. 10% d. Bevölk.),
--- 1933 .......................... 63 “ ,
--- 1939 .......................... 38 “ ,
--- 1942 (Dez.) ................... keine.
Angaben aus: Kurt Prior, Niedenstein - Eine geschichtliche Betrachtung, Die jüdische Gemeinde Niedenstein, S. 39
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts waren von den jüdischen Erwerbspersonen zwölf als Händler tätig; daneben gab es jüngere Männer, die ein Handwerk ausübten. Nach 1850/1860 eröffneten mehrere Juden Handlungen bzw. Läden am Ort, die von wirtschaftlicher Bedeutung für Niedenstein und die unmittelbare Region waren.
Insgesamt lebten die Angehörigen der jüdischen Gemeinde in Niedenstein zurückgezogen und fast nur unter sich; engere persönliche oder gesellschaftliche Kontakte zur christlichen Bevölkerung waren eher die Ausnahme. Das Gemeindeleben der Judenschaft spielte sich kaum in der Öffentlichkeit ab. Noch in den 1920er Jahren hielten die meisten Juden Niedensteins die religiösen Vorschriften strikt ein. Neben einigen Handwerkern arbeiteten die jüdischen Bewohner vor allem als Händler. Bereits in den 1920er Jahren hatte sich der jüdische Bevölkerungsanteil durch Abwanderung stark verringert; nach 1933 beschleunigte sich der Prozess noch.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurde die Inneneinrichtung der Niedensteiner Synagoge von Nationalsozialisten zerstört.
Mindestens 14 jüdische Bewohner Niedensteins wurden 1942 von ihrem Wohnort aus deportiert.
Von den aus Niedenstein stammenden und/oder längere Zeit am Ort ansässig gewesenen jüdischen Bewohnern sind nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ in der NS-Zeit insgesamt 61 Personen umgekommen (siehe namentliche Nennung der Personen in: alemannia-judaica.de/niedenstein_synagoge.htm).
Nach Kriegsende wurde das 1939 in kommunale Hand übergegangene Gebäude an einen Privatmann verkauft, der es zu einem Wohnhaus umbaute.
Eine Gedenktafel am ehemaligen Synagogengebäude erinnert seit 1988 an dessen einstige Bestimmung.
Gedenktafel (Aufn. J. Hahn, 2008)
"Ehemalige Synagoge der Jüdischen Gemeinde Niedenstein. Erbaut im Jahre 1816 von Calmann Heinemann Michaelis.
Gestiftet aus Anlaß des 50.Jahrestages des unheilvollen Geschehensin der Nacht des 9./10.November 1938
Zur Erinnerung und Mahnung. Stadt Niedenstein"
Der jüdische Friedhof an der Friedensstraße - er besitzt eine Fläche von ca. 2.600 m² - wird von der Kommune gepflegt. Vor Betreten des Begräbnisgeländes wird man der beiden Torpfeiler mit der gleichlautenden deutschen und hebräischen Inschrift „Diese Welt gleicht einer Vorhalle für die zukünftige Welt“ gewahr.
Eingang zum Friedhofsgelände mit den beiden beschrifteten Torpfeilern (Aufn. Cosal, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0 und J. Hahn, 2008)
Gesamt- u. Teilansicht des jüdischen Friedhofs (Aufn. B. + W. Koehler, 2021 und J. Hahn, 2008, ais: alemannia.judaica.de)
2018 wurden im Niedensteiner Altenburg-Museum zwei Gedenktafeln enthüllt, die das ungewöhnliche Leben und Wirken von David Silberberg* (geb. 1921 in Niedenstein, gest. 2007 in Memphis/Tennessee) würdigen. Als 15jähriger emigrierte er mit seinen Eltern in die USA, kam während des Krieges als US-Soldat nach Europa zurück; als Hauptmann der US-Army war er 1945/46 "Stellvertr. Militärgouverneur von Schwaben", kehrte dann in seine Wahlheimat Memphis zurück, schloss dort ein Jura-Studium ab und eröffnete eine eiegene Kanzlei in Memphis. Von 1966 bis 1993 bekleidete er in Deutschland die Position eines Honorarkonsuls des Staates Tennessee. Wegen seines Engagements und seines Eintretens für die deutsch-amerikanische Freundschaft wurde David Silberberg mehrfach ausgezeichnet. Seinem Geburtsort Niedenstein war er stets verbunden. David Silberberg starb im Alter von 86 Jahren in Memphis.
* Anm. Ein direkter Vorfahr von David S. war Seligmann Heinemann, der 1649 als erster Jude in Niedenstein ansässig wurde.
In Riede - heute kleinster Ortsteil von Bad Emstal, wenige Kilometer südwestlich von Niedenstein - existierte seit dem 18.Jahrhundert eine winzige jüdische Gemeinde, die sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts aus ca. 30 Angehörigen zusammensetzte. Auf einem Privatgrundstück in der Elbenberger Straße befand sich der in einem unscheinbaren Gebäude der dort untergebrachte Betraum; dieser wurde bis ca. 1910 genutzt. Ein Schulraum diente der Unterrchtung der wenigen Kinder. Nach Abwanderung der meisten Familien wurden die verbliebenen Rieder Juden von der jüdischen Gemeinde Naumburg betreut; der Rieder Betraum als Lagerraum benutzt.
Zu Beginn der 1930er Jahre lebten nur noch drei jüdische Einwohner in Riede. Mindestens acht aus Riede stammende jüdische Bewohner Riedes wurden Opfer der „Endlösung“ (vgl. namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/riede_synagoge.htm)
Auf einer Gedenktafel in der Dorfmitte sind die Namen der aus Riede stammenden jüdischen NS-Opfer aufgeführt.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. F., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, FrankfurtM. 1971, Bd. 2, S. 129 f.
Karl E. Demand, Bevölkerungs- und Sozialgeschichte der jüdischen Gemeinde Niedenstein 1653 - 1866. Ein Beitrag zur Geschichte des Judentums in Kurhessen . Darstellung und Dokumente, in: Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen V, Wiesbaden 1980
Karl E. Demandt, Das “Kaiserchen von Niedenstein” im Gemeindeleben seiner Zeit, in: "Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde", Band 88 /1980/81 im Selbstverlag des Vereins, S. 195 ff.
Thea Altaras, Synagogen in Hessen - was geschah seit 1945? Verlag K.R. Langewiesche Nachfolger Hans Köster Verlagsbuchhandlung, Königstein (Taunus) 1988, S. 56
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II - Reg.bez. Gießen und Kassel, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 180/181
Kurt Prior, Niedenstein - Eine geschichtliche Betrachtung - Die jüdische Gemeinde Niedenstein, in: "Jahrbuch des Schwalm-Eder-Kreises 1997", S. 37 ff.
Niedenstein, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen, zumeist personenbezogenen Dokumenten aus der jüdischen Ortsgeschichte)
Riede (Hessen), in: alemannia-judaica.de
Die Synagoge und die jüdische Gemeinde von Riede, online abrufbar unzter: eco-pfade.de/eco-pfad-friedenspaedagogik-bad-emstal/ehemalige-synagoge-und-juedische-gemeinde-riede/
Jüdische Gemeinde Niedenstein, online abrufbar unter: regiowiki.hna.de/Jüdische_Gemeinde_Niedenstein
Ulrike Lange-Michael (Red.), Stadt Niedenstein ehrt den vertriebenen Juden David Silberberg, in: „HNA – Hessische Niedersächsische Allgemeine“ vom 25.4.2018
Theresa Lippe (Red.), Stadtrundgang in Niedenstein: Per App auf jüdischen Spuren, in: "HNA – Hessische Niedersächsische Allgemeine“ vom 7.6.2020