Prag

Csehország.JPGJüdische Gemeinde - Kladno (Böhmen)Prag (tsch. Praha) ist die bevölkerungsreichste Stadt Tschechiens mit derzeit ca. 1,3 Mill. Einwohnern. Als historische Hauptstadt Böhmens war Prag über Jahrhunderte hinweg eine bedeutende königliche und kaiserliche Residenzstadt im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Um 1230 war die bewohnte Siedlung zur königlichen Stadt erhoben worden und entwickelte sich im 14. Jahrhundert unter der Regentschaft Karls IV. zu einem politisch-kulturellen Zentrum in Europa (Ausschnitte aus hist. Landkarten von Böhmen, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei).

 

Die jüdische Gemeinde in Prag war eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Europas. Sie besteht kontinuierlich vom 10. Jahrhundert bis in die Gegenwart. In voller Blüte stand die Prager Gemeinde im 16.Jahrhundert, was sich vor allem in Synagogenbauten und im geistigen Schaffen jüdischer Gelehrter manifestierte.

 

Seit dem 10.Jahrhundert sind Juden nachweislich in Böhmen ansässig geworden; vermutlich setzte sich die hiesige Judenschaft zunächst aus sephardischen Juden zusammen; ab dem 12.Jahrhundert wanderten verstärkt aschkenasische Juden zu. Eines der ältesten Zeugnisse von der Existenz von Juden in Prag ist ein Bericht des jüdischen Arztes Ibrahim Ibn Jakuv aus Tortosa, der um 970 in der Stadt weilte; er schrieb u.a.:

„ ... Die Stadt Fraga ist aus Stein und Kalk erbaut und ist, was den Handel anbelangt, die größte der Städte. Hierher kommen aus der Königstadt Russen und Slawen mit ihren Waren; und aus der Gegend der Türken Muselmänner, Juden und Türken ebenfalls mit Waren und Handelsmünzen. ...“

 

Die jüdischen Kaufleute von Prag waren den christlichen gleichgestellt; sie konnten ohne Einschränkungen Handel treiben bzw. ein Handwerk ausüben. Der erste Synagogenbau in der „kleineren Stadt Prag”, der sog. „Kleinseite“, geht auf die Zeit um 1000 zurück.

Vom Ende des 11.Jahrhunderts stammen die ersten Berichte über Verfolgungen: Kreuzfahrerhorden, die 1096 über Prag ins Heilige Land zogen, überfielen die Juden und versuchten sie zur Taufe zu zwingen; wer sich wehrte, wurde ermordet. Viele Juden flüchteten aus Prag nach Polen und Ungarn. Vermutlich Mitte des 12. Jahrhunderts verließen die in Prag wohnenden Juden die Kleinseite; ihr neues Wohngebiet lag fortan nahe der Altstadt.

Die Beschlüsse der Lateransynode von 1215 verschlechterten allgemein die rechtliche Stellung der Juden; ihnen war nun untersagt, Grund und Boden zu besitzen, Landwirtschaft oder Handwerke zu betreiben. Auch sollten Kontakte zwischen der jüdischen und christlichen Bevölkerung auf ein Minimum eingeschränkt und Juden in speziellen Vierteln angesiedelt werden; so entstand im Laufe des 13.Jahrhunderts in Prag das jüdische Ghetto. Die relativ lange Regierungszeit Karls IV. von 1348 bis 1378 bedeutete für die jüdischen Gemeinden in Böhmen - und damit auch für die Prager Juden - eine Zeit der Ruhe und Prosperität. Bei der Gründung der Prager Neustadt gestattete der Kaiser den Juden, sich dort mit ihren Familien innerhalb der Mauern niederzulassen; die Juden standen als ‚Kammerknechte’ ausdrücklich unter seinem Schutz. Während der Regentschaft von Wenzel IV., dem Sohn Karls IV., verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Juden wieder; zu einem ersten Pogrom kam es während der Ostertage des Jahres 1389, als katholische Priester den Pöbel aufwiegelten; dieser drang in die Judenstadt und plünderte und mordete. Wenzel IV. verlieh 1393 den Juden noch kurzzeitig das Sonderrecht, allein der königlichen Gerichtsbarkeit zu unterstehen. Doch gewannen die Prager Stadträte immer mehr Einfluss und beschnitten die königlichen Privilegien der Juden - besonders dann, wenn es um eigene ökonomische Interessen ging. Bis in die Zeit der Hussitenkriege blieb die Rechtsstellung der Juden recht unsicher.

Ansicht von Prag (um 1495) in der Schedel'schen Welthronik (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Ende des 15.Jahrhunderts siedelten sich Juden nicht nur im Judenviertel an; in der Prager Neustadt befand sich kurzzeitig eine jüdische Kolonie; auch auf der Kleinseite gab es einzelne von Juden bewohnte Häuser.

Als Böhmen 1526 an das Habsburgerreich fiel, blieben die meisten Juden weiter rechtlos und mussten zudem eine hohe Kopfsteuer entrichten. 1541 wurden - auf Beschluss des böhmischen Landtages - die meisten Prager Juden von Ferdinand I. aus der Stadt ausgewiesen. Diese mussten zeitweilig im Exil, vor allem in Polen, leben. 1551 war ein Erlass in Kraft getreten, wonach „... alle Juden ... an ihrer Kleidung ein Zeichen tragen, mittels dessen sie von den Christen unterschieden werden könnten”. Wenige Jahre später wurde der Ausweisungsbeschluss rückgängig gemacht.

Während der Regierungszeit Maximilians II. (1564-1576) endete für die Juden die Periode der Unsicherheit; den Juden wurde nun ungestörter Aufenthalt „auf ewige Zeiten” zugesagt und zusätzlich Zugeständnisse in Handelsfragen gemacht. Die Juden Prags wurden wohlhabend, was sich auch in der gesteigerten Bautätigkeit im Ghetto zeigte. Gegen Ende des 16.Jahrhunderts lebte etwa die Hälfte aller böhmischen Juden in Prag. Maximilians Nachfolger, Rudolf II., erließ während seiner Regentschaft (1576-1612) mehrere Anordnungen, die die Lebensbedingungen der in Böhmen lebenden Juden verbesserten. Die Jahre von 1570 bis 1620 gingen als das „goldene Zeitalter“ der Prager Juden in die Geschichte ein.

Etwa in dieser Zeit lebte der jüdische Gelehrte Juda ben Bezalel Liwa, genannt Rabbi Löw, auf den die Golem-Saga Bezug nimmt. Der vermutlich in Posen geborene Löw war zunächst Landesrabbiner von Mähren, ehe er nach Prag ging und hier eine Jeschiwa gründete. Er reformierte grundlegend den Talmudunterricht und war einer der bedeutendsten Pädagogen seiner Zeit. Rabbi Löw verstarb 1609.

Den Dreißigjährigen Krieg überstanden die Prager Juden relativ unbeschadet, mit Ausnahme des Jahres 1618, als die Judenstadt durch den heimischen Mob geplündert wurde. Die Herrschenden waren auf die Wirtschaftskraft der Juden angewiesen und liehen sich bei ihnen große finanzielle Mittel. Kaiser Ferdinand II. gestand den Prager Juden Schutz vor Plünderungen und Militäreinquartierungen zu; gleichzeitig bewilligte er ihnen den Ankauf von zahlreichen ‚Christenhäusern’ nahe der Judenstadt; damit wurde die Judenstadt erheblich vergrößert. Zudem wurden 1623 die Erwerbsmöglichkeiten der Prager Juden durch Senkung der Zoll- und Mautgebühren erweitert. Als Gegenleistung übernahmen die Juden einen namhaften Teil der Kriegskosten. Dass die jüdische Bevölkerung Prags vor den Übergriffen der Soldateska weitestgehend bewahrt wurde, hatte sie vornehmlich ihrem Gemeindevorsteher, dem erfolgreichen Kaufmann Jacov Baschewi (1570-1634) zu verdanken, der dank zahlreicher kaiserlicher Privilegien seinen Einfluss als Hoffaktor geltend machen konnte.

1648 erteilte Ferdinand III. den Prager Juden das Recht auf einen eigenen Markt, den Tandlmarkt. Für ihre Hilfe bei der Verteidigung Prags vor schwedischen Truppen wurde den Juden ein eigenes Wappen in Form eines Davidsterns mit einem schwedischen Hut zugestanden. Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges war die Prager Judengemeinde verarmt, verschuldet und dezimiert. Im Ghetto lebten damals 2.090 Menschen.

Titelblatt der Prager Haggada

Bild Historischer Stadtplan des Prager Judenviertels von 1665

Judenviertel in Prag - Historischer Stadtplan von 1655 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)

Eine Pestepidemie im übervölkerten Ghetto (1680) und ein verheerender Großbrand (1689) vernichteten nahezu die gesamte Judenstadt. Pläne für die Neuerrichtung eines jüdischen Ghettos an anderer Stelle zerschlugen sich, so wurde das jüdische Viertel an gleicher Stelle wieder aufgebaut. Beim Wiederaufbau des Ghettos, der auch durch Zuwendungen ausländischer Juden ermöglicht wurde, durften von den ehemals zwölf Synagogen Prags nur noch sechs neu erstellt werden. 1703 wohnten im Ghetto mehr als 11.500 Personen; im Laufe nur eines halben Jahrhunderts war die Bevölkerung der Prager Judenstadt um das Fünffache angestiegen und war damit zu einer der größten Judengemeinden Europas der damaligen Zeit geworden. Selbstverwaltung - mit eigenem Rathaus und Bürgermeister (Primas) und sogar eigenen Nachtwächtern - charakterisieren die damalige Situation der Prager jüdischen Gemeinde.

Auch eine erneute Pestepidemie 1713 konnte das Bevölkerungswachstum nicht entscheidend stoppen. Um eine Verminderung des jüdischen Bevölkerungsanteiles zu erreichen, setzte Kaiser Karl VI. eine „Reduktionskommission” ein, deren Aufgabe es war, Verordnungen zu erarbeiten, die ein weiteres Anwachsen der Ghettobevölkerung verhinderten; so wurde nach erfolgter Registrierung aller jüdischen Gemeinden des Landes (1723) u.a. in den sog. „Familiantengesetzen“ von 1726 streng untersagt, dass sich „Landjuden“ in Prag ansiedelten; weiterhin wurde lediglich dem ältesten Sohne einer jüdischen Familie die Eheschließung bewilligt; die jüngeren Söhnen mussten zwischen Zölibat und Exil wählen.

Ein Dekret Kaiserin Maria Theresias vom 18. Dezember 1744 ordnete die Ausweisung der Prager und danach der böhmischen Juden an; innerhalb festgesetzter Fristen mussten sie die Stadt bzw. das Land verlassen. Ob politische, finanzielle oder religiöse Motive Maria Theresia zu diesem Schritte veranlasst hatten, ist umstritten.

„ Ihre königliche unsere allergnädigste Frau (Anm. Maria Theresia) unterm dato den 18. und Heutigen praesentate den 22.Dez. dieses zu Ende eilenden 1744 Jahre ... Allerhöchst dieselbe hätten aus mehrerley bewegenden höchst triftigen Ursachen den allerhöchsten Entschluß gefaßt, daß künftighin kein Jud mehr in dem Erbkönigreich Böhmen geduldet werden soll. Primo, An dem letzten Monatstag Januari des bevorstehenden 1745 Jahres soll kein Jude mehr inner derer wo k. Prager Städten sich befinden, wo in widrigen dieselben mit militärischer Hand hinausgeschafft werden sollen. ... “

Mehr als 13.000 Juden verließen nun Prag; in der Judenstadt blieben nur sehr wenige kranke und alte Leute zurück. Ein Teil der Ausgewiesenen zog nach Sachsen und Brandenburg, aber auch nach Hamburg, ins Rheinland und in die Niederlande. Die wohlhabenderen Juden verblieben in der nahen Umgebung von Prag. Die Vorstadt Lieben/Libeň nahm zahlreiche Juden auf und entwickelte sich in der Folgezeit zu einer der größten Gemeinden Böhmens. Lieben war lange Zeit Domizil verfolgter Prager Juden; deshalb trug die Ortschaft im Volksmund den Namen „Judendorf“. Die aus dem Jahre 1858 stammende sog. Neue Synagoge in Libeň, ein Bauwerk im romanischen Stil mit orientalischen Elementen, ist bis auf den heutigen Tag erhalten.

 Synagoge in Lieben/Libeň (links: Aufn. um 1900, rechts: Aufn. radio.cz um 2010)

 Liben synagogue interior aron.jpg Synagogeninnenraum (Aufn. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)

Da sich aber die vollständige Ausweisung der Juden aus Böhmen als nicht realisierbar erwies, gestattete ihnen Maria Theresia im Frühjahr 1745, vorläufig unbefristet im Land zu bleiben; doch die kaiserliche Armeeführung setzte zunächst durch, dass die jüdische Bevölkerung die Region rund um Prag zu verlassen hatte. Drei Jahre später (1748) wurde das kaiserliche Dekret rückgängig gemacht, so dass eine Rückkehr der Juden nach Prag erfolgen konnte. Allerdings hatten sie der kaiserlichen Kasse erhebliche finanzielle Mehrabgaben zu leisten, so die sog. „Toleranzsteuer“. Die Rückkehrer fanden ausgeplünderte Häuser vor; kaum waren die Behausungen wieder erstellt, zerstörte 1754 ein Großbrand fast 200 Häuser in der "Judenstadt". Der Wiederaufbau konnte nicht aus eigenen Mitteln finanziert werden, so dass große Geldbeträge geliehen werden mussten. Der Wiederaufbau des Ghettos verschlechterte die Wohnqualität, weil durch immer neue Anbauten der verfügbare Raum eingeengt wurde.

Die beiden von Maria Theresia erlassenen „Judenordnungen“ (1753 bzw. 1764) führten fortan zu Diskriminierung und Ausgrenzung der böhmischen Juden: So mussten die unverheirateten jüdischen Männer und Frauen ein gelbes Rechteck sichtbar an der Kleidung tragen. Zudem waren die Männer verpflichtet, einen Bart zu tragen; bei Nichtbefolgung mussten sie eine Strafzahlung leisten oder wurden „am Leibe gestrafet", im Wiederholungsfalle drohte ihnen sogar die Ausweisung.

Trotz dieser bedrohlichen sozialen und wirtschaftlichen Situation war Prag im 17. und 18.Jahrhundert ein Zentrum der jüdischen Wissenschaft und zog seine Jeschiwot jüdische Studenten aus ganz Europa an; zu den berühmten Gelehrten dieser Zeit zählten Jomtow Lipmann Heller (1578-1654), Jonathan Eybeschütz (1690-1764), Ezchiel Landau (1713-1793) und andere.

Der um 1690 in Krakau geborene Jonathan ben Nathan Eybeschütz wirkte nach seiner Ausbildung an verschiedenen Orten Osteuropas - zunächst als Rabbiner in Prag wirkte, ab 1741 in Metz und ab 1750 in Altona lehrte. Hier entspann sich um Eybeschütz eine lange heftige Kontroverse, wobei der Rabbiner Jacob Emden zu ihm in Gegnerschaft stand; dabei ging es um Eybeschütz‘ Nähe zu der Lehre von Schabbtai Zvi (Sabbatianismus). Eybeschütz galt nicht nur als einer der größten Prediger seiner Zeit, sondern auch als einer der bedeutendsten talmudischen Gelehrten. Eybeschütz starb 1764; begraben wurde er auf dem jüdischen Friedhof in Altona (vgl. Altona/Schleswig-Holstein).

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/f/f4/David_Oppenheim.jpg/220px-David_Oppenheim.jpg Ein anderer einflussreicher jüdischer Gelehrter war David ben Abraham Oppenheimer (geb. 1664 in Worms), der 1690 mit 26 Jahren Rabbiner von Mähren wurde; etwa ein Jahrzehnt später wurde er zum Oberrabbiner von Prag und 1718 mit kaiserlichem Dekret zum Landesrabbiner von Mähren und Böhmen erhoben. Berühmtheit erlangte seine große wertvolle Bibliothek, die nach seinem Tode verkauft werden sollte; doch der hohe Kaufpreis schreckte die daran interessierten Personen ab; so wurden die mehr als 7.000 Bände in Kisten verpackt; erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts erwarb die Universität Oxford den gesamten Bestand.

 Mit den Josephinischen Reformen wurde der Emanzipationsprozess in Gang gesetzt, der aber nicht bei allen jüdischen Gelehrten auf Zustimmung stieß; so z.B. bei Ezechiel ben Jehuda Landau (geb. 1713 in Polen, gest. 1793 in Prag), der seit 1755 Oberrabbiner in Prag war. Der „Prager Judenpapst“ stand den sozialen und politischen Auswirkungen des Josephinismus nach dem Erlass des Toleranzpatents sehr kritisch gegenüber und wehrte sich auch gegen alle Änderungen der traditionellen jüdischen Lehre, indem er jeglichen Einfluss der Aufklärung auf religiöse Belange ablehnte.

 

Mit Ausnahme einiger Patrizierhäuser existierten im Ghettobezirk nur minderwertige Gebäude mit überfüllten Wohnungen und ungenügenden hygienischen Bedingungen. Die Judenstadt entwickelte sich zunehmend zu einem Armenviertel mit jüdischer und nicht-jüdischer Bevölkerung. Die neue jüdische Wirtschaftselite, die im Großhandel, im Kreditgeschäft und in der Textilproduktion zu Wohlstand gekommen war, hatte sich seit Anfang des 19.Jahrhunderts mehrheitlich außerhalb des Ghettos niedergelassen; offiziell war dies aber erst seit 1849 erlaubt. Ihr Lebensstil orientierte sich dabei immer mehr an der wohlhabenden deutsch-christlichen Umgebung; das rief verstärkt den Widerstand des tschechischen Prags, vor allem des Industrieproletariats, hervor. 1844 kam es Prag innerhalb der unzufriedenen Industriearbeiterschaft zu gewalttätigen antijüdischen Ausschreitungen: Zielscheibe der massiven, zunächst rein wirtschaftlich bedingten Proteste waren anfänglich jüdische Händler und Industrielle, die sich in Folge aber zu Gewalttätigkeiten gegen Juden im allgemeinen ausweiteten. Zum Schutz jüdischen Lebens und Eigentums musste Militär aufgeboten werden. 1861 wurde das Ghetto in den Verband der Prager Städte eingegliedert; die Judenstadt wurde zum V. Viertel. Zur Erinnerung an die Josephinischen Reformen und den Besuch des Kaisers im Ghetto nannte man den Bezirk fortan „Josefstadt“. Da die Bausubstanz dort immer mehr verfiel, dachte der Prager Stadtrat seit den 1880er Jahren an eine Totalsanierung, die dem am dichtest besiedelten Stadtteil Prags eine neue Zukunft geben sollte. Das sog. „Assanierungsgesetz“ vom Februar 1893 sah vor, dass das Prager Ghetto einem modernen Stadtteil Platz machen sollte.

Jüdische Gemeinde - Prag

Impressionen aus der "Judenstadt" um 1905 (hist. Aufn. aus: digital-guide.cz bzw. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)

                                                                Assanierung des Prager Judenviertels (hist. Aufn., Stadtarchiv)

1897 wurde mit den Abrissarbeiten begonnen; zehn Jahre später entstanden an gleicher Stelle großzügige Straßenzüge mit repräsentativer Bebauung. 1917 war der Ghettobezirk von Prag dann völlig verschwunden. Nur wenige historische Gebäude blieben erhalten: fünf Synagogen, das jüdische Rathaus und der Alte jüdische Friedhof*.

* Kaum bekannt ist die Tatsache, dass es im hohen Mittelalter in Prag einen jüdischen Friedhof gab, der zwischen den heutigen Straßenzügen Spálená und Jungmannova gelegen war; dieser Friedhof wurde 1486 geschlossen. Seit 2016 erinnert hier ein Denkmal daran, dass unter der Erde die sterblichen Relikte von Generationen Prager Juden sich befinden.

Jüdische Friedhöfe von Prag

Der Alte jüdische Friedhof ist das letzte größere Relikt des Ghettos von Prag. Vermutlich war dieser Mitte des 15.Jahrhunderts angelegt worden; der älteste Grabstein stammt aus dem Jahre 1439. Durch den Ankauf umliegender Flächen wurde das Friedhofsgelände im Laufe der Jahrhunderte mehrfach erweitert; auf dem Areal befinden sich heute fast 12.000 Grabsteine. Da die Friedhofsfläche nicht unbegrenzt ausgedehnt werden konnte, musste man immer mehr Erde aufschütten, um neue Gräber anlegen zu können. Aus diesem Grunde erhebt sich der Alte jüdische Friedhof - wie eine Insel - einige Meter über die unmittelbare Umgebung. Dieser wurde bis 1787 belegt; denn nach einem Erlass Joseph II. durften innerhalb der Stadt keine Begräbnisse mehr stattfinden. Der Prager Judenfriedhof gilt heute als die größte und besterhaltenste jüdische Beerdigungsstätte in ganz Europa.

Aufn. Thomas Ledl, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0

   

Blick auf den Alten Prager Judenfriedhof - Grabstein von Rabbi Löw (Aufn. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Beerdigungsbruderschaft (Chewra Kadischa) um 1775, Jüdisches Museum Prag (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Hinweis: Der älteste bekannte jüdische Friedhof in Prag lag jedoch an einer anderen Stelle, nämlich zwischen den heutigen Straßen Spálená und Jungmannova. Der vermutlich aus dem 13.Jahrhundert stammende Begräbnisplatz (bis ca. 1480 genutzt) wurde zufällig bei archäologischen Grabungen vor ca. 20 Jahren aufgefunden. Seit 2016 erinnert an dieser Stelle ein Denkmal daran, dass dort die sterblichen Überreste einiger Generationen von Prager Juden liegen.

1680 wurde in Wolschan der Prager Pestfriedhof angelegt; dieser „mittlere“ Friedhof war nach Schließung des Alten Friedhofs bis 1890 als Begräbnisstätte der Prager Judenschaft in Nutzung. Der Neue jüdische Friedhof wurde im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts angelegt, als das Begräbnisareal in Prag-Zizkov nahezu belegt war; das hier meist besuchte Grab ist das des Prager Schriftstellers Franz Kafka.

 

Die Synagogen der „Judenstadt“:

Die Altneu-Synagoge:

 

Altneu-Synagoge links: colorierte Radierung um 1835, rechts: hist. Postkarte

Diese Synagoge, einst „Neue Schule“ genannt, ist der früheste Prager Synagogenbau; er wurde bereits Ende des 13.Jahrhunderts errichtet und zählt zu den ältesterhaltenen jüdischen Gotteshäusern nördlich der Alpen.

Die Pinkas-Synagoge:                    

Ursprünglich war das Ende des 15.Jahrhunderts errichtete Gebäude (benannt nach dem ehemaligen jüdischen Hausbesitzer Israel Pinkas) ein privates Bethaus, das in den folgenden Jahrhunderten mehrfach umgebaut wurde.

Zikmund Reach Prague Czechoslovakia Synagogue 004.jpg Pinkas-Synagoge, hist. Aufn, um 1905 (aus: wikipedia.org, CCO)

Heute beherbergt die Pinkas-Synagoge eine Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust; mehr als 77.000 böhmische und mährischen Juden sind namentlich im Innern an den Wänden verewigt.

  (Ausschnitt der Wandbeschriftung, aus: commons-wikimedia.org)

Die Hohe Synagoge:

  Die um 1570 erbaute Hohe Synagoge (links: Skizze und rechts: Aufn. Ch., 2007, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) liegt in unmittelbarer Nähe des jüdischen Rathauses; der Betsaal befand sich im Obergeschoss und war ursprünglich mit dem Sitzungssaal des Rathauses verbunden. Mehrere Brände führten zu umfangreichen Umbauten. Seit 1980 befindet sich in den Räumen der Hohen Synagoge die Sammlung der synagogalen Textilien des Jüdischen Museums.        

Die Maiselsynagoge:

Die Maisel-Synagoge wurde Ende des 16.Jahrhunderts gebaut; das 1592 eingeweihte Gebäude ging auf den Bankier (und Oberhaupt der jüdischen Gemeinde) Mordechai Maisel zurück, de vom Kaiser Rudolf II. das erforderliche Privileg erteilt worden war. Zur damaligen Zeit war die Maisel-Synagoge die größte in Prag. Von dem ehemaligen Renaissance-Stil ist heute nur noch wenig zu sehen; notwendige Baumaßnahmen haben diese alten Elemente überdeckt. Ihr heutiges neugotisches Aussehen erhielt die Synagoge nach Umbauten um 1895/1900.

Der Synagogeninnenraum beherbergt heute eine wertvolle Sammlung von Ritualgegenständen.

 Maiselova synagoga (Josefov), Praha 1, Maiselova 10, Josefov.jpg Maiselsynagoge,Ausstellg318.jpg

Maisel-Synagoge (Aufn. M. Kminek, 2012 und Geof, 2007, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

Die Klausensynagoge:

   

links: Innenraum (um 1850), rechts: Synagogengebäude direkt neben dem Friedhof (Aufn. Elke Ondrusch)

Die früh-barocke Klausen-Synagoge liegt direkt am Alten jüdischen Friedhof; ihr Name erinnert an Mordechai Maisel, der Ende des 16.Jahrhunderts lebte und auf dem Grundstück mehrere ‚Klausen’ errichten ließ, in denen Studenten Unterricht erhielten. Nach einem Brand wurde an gleicher Stelle um 1694 die Synagoge erbaut.

Die Spanische Synagoge:

An Stelle der niedergerissenen Alten Schule wurde 1867/1868 eine neue Synagoge gebaut, die wegen ihrer maurischen Stilelemente ‚Spanische Synagoge’ genannt wird. Sie ist das jüngste Gotteshaus auf dem Gebiet der ehemaligen Prager Judenstadt.

  

Spanische Synagoge (Aufn. Thomas Ledl, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Die Jubiläums-Synagoge:

In der Prager Neustadt wurde Anfang des 20.Jahrhunderts die sog. Jubiläums-Synagoge (auch Jerusalem-Synagoge) errichtet, die Elemente des Jugendstils mit maurischen Bauformen verbindet. Ihr Bau sollte als Ersatz für drei in der Altstadt abgerissene Synagogen dienen. Bis auf den heutigen Tag wird dieses jüdische Gotteshaus genutzt.

  Jubilee synagogue old postcard (cropped).jpg    Jeruzalémská synagoga z ulice.JPG

 Jubiläums-Synagoge (links: hist. Postkarte  -  rechts: Aufn. V., 2012, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)   

             

Juden in Prag (samt Vorstädte):

    --- um 1390 ....................... ca.  1.000 Juden,

--- um 1545 ....................... ca.     30 jüdische Familien,

--- um 1560/70 .................... ca.  1.000 Juden,

--- um 1600 ....................... ca.  6.000   “  ,

    --- um 1640 ....................... ca.  8.000   “  ,

    --- um 1680 ....................... ca.  7.100   "  ,

    --- um 1710/20 .................... ca. 12.000   “   (ca. 28% d. Bevölk.),

    --- um 1730 ....................... ca. 14.000   “  ,

    --- um 1750 ....................... ca.  6.100   “  ,

    --- um 1770 ....................... ca.  6.800   “  ,

    --- um 1790 ....................... ca.  8.100   “   (ca. 11% d. Bevölk.),

    --- um 1805 ....................... ca.  7.600   “  ,

    --- um 1820 ....................... ca.  7.800   “  ,

    --- um 1850 ....................... ca.  8.500   “  ,

    --- um 1860 ....................... ca.  6.500   "  ,

    --- um 1870 ....................... ca. 13.000   “  ,

    --- um 1880 ....................... ca. 20.000   “  ,

    --- um 1890 ....................... ca. 23.500   "  ,

    --- um 1900 ....................... ca. 27.000   “  ,

    --- um 1910 ....................... ca. 29.000   “  ,

    --- um 1925 ....................... ca. 35.000   “  ,

    --- 1937/38 ....................... ca. 45.000   “  ,

    --- 1939/40 ....................... ca. 55.000   “  ,*    *incl. Flüchtlinge

    --- 1946/47 ....................... ca. 11.000   “  ,

    --- 1997 .......................... ca.  4.000   "  .

       Fast alle Angaben beruhen auf Schätzungen, die z.T. deutlich voneinander differieren.

Angaben aus: Wilfried Brosche, Das Ghetto von Prag, in: F. Seibt (Hrg.), Die Juden in den böhmischen Ländern – Vorträge ..., S. 117/119

und                 J. H. Schoeps, Neues Lexikon des Judentums, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2000, S. 669/670

 

... Die Juden in Prag wurden schon aus sprachlichen Gründen als Bestandteil des deutschen Sektors betrachtet, sie waren in ihrer Mehrheit tatsächlich im liberalen Deutschtum, das seine Wurzeln von 1848 herleitete, integriert, obwohl eine große Anzahl sich statistisch zur tschechischen Muttersprache bekannte. Da sie überwiegend dem gehobenen und gebildeten Mittelstand angehörten, waren sie wirtschaftlich und intellektuell ein bedeutender Faktor. In politischer Hinsicht waren sie eine Stärkung des Deutschtums, daher von den Tschechen angefeindet, wurden aber auch von dem Großteil der völkisch und antisemitisch eingestellten Deutschen (vorwiegend der Studentenschaft) als rassenfremd scharf abgelehnt.” (Robert Weltsch)

Die Neigung vieler Prager Juden zum Deutschtum, vor allem aus der Ober- und Mittelschicht, war nicht allein Ausdruck ihrer positiven Einstellung zur deutschen Kultur, sondern auch Reaktion auf den weit verbreiteten Antisemitismus innerhalb der tschechischen Bevölkerung. Zudem wurden die „germanisierten“ Juden in den Konflikt zwischen der tschechischen und deutschen Volksgruppe hineingezogen. Allein zwischen 1844 und 1921 fanden in Prag acht antisemitische Ausschreitungen statt, so 1844, 1848, 1863, 1897, 1904, 1905, 1920 und 1921. Diese oft antijüdische Grundhaltung trug nun auch dazu bei, dass sich Prag - neben Wien - zu dem bedeutendsten Zentrum der zionistischen Bewegung entwickelte.

Auf der anderen Seite verstärkte sich ab Ende des 19.Jahrhunderts auch eine tschechisch-jüdische Bewegung, die eine Antwort auf den deutsch-völkischen Antisemitismus war und zu einer nationalen Neuorientierung vieler Prager Juden führte; so wurden seit etwa 1900 u.a. deutsch-jüdische Schulen geschlossen. Folge war wachsendes Misstrauen und Verachtung unter Tschechen und Deutschen.

Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, in denen Handel und Industrie boomten, machten auch einen Teil der Prager Juden wohlhabender und führte zu intensiver Beschäftigung mit Kultur und Politik. Diese Entwicklung lockerte das jüdische Bewusstsein so sehr, dass das Gemeindeleben immer mehr an Bedeutung verlor; so waren die meisten Juden bald nur noch sog. „Drei-Tage-Juden”; d.h. Jom Kippur und die beiden Tage des Rosch Haschana wurden nur noch feierlich begangen.

Die Entstehung der selbstständigen Tschechoslowakischen Republik 1918 eröffnete den Prager Juden neue Möglichkeiten so erlangte der mit Sitz in Prag etablierte „Jüdische Nationalrat“ - die politische Vertretung nationalbewusster Juden Böhmens - die Anerkennung der jüdischen Nationalität in der Verfassungsurkunde; doch den in einigen Bevölkerungsschichten fest verankerten Antisemitismus konnte er nicht beseitigen. Dies zeigte sich in den sog. „Hungerkrawallen”, die sich vorwiegend gegen die deutsch-jüdische Geschäftsleute richteten; mit Parolen wie „Hängt die Juden” zog auch in Prag der Mob durch die Straßen. Wochenlange Judenhetze bestimmte im November 1920 den Prager Alltag; der radikale tschechische Pöbel stürmte das Jüdische Rathaus und zertrampelte Thora-Rollen. Erst im Frühjahr 1921 normalisierte sich das Leben der Juden in Prag wieder. Bei der Volkszählung von 1921 erhielten auch die Prager Juden erstmalig die Gelegenheit, sich zur jüdischen Nationalität zu bekennen; dies nutzte nur etwa ein Drittel; die übrigen bekannten sich entweder zur deutschen oder tschechischen Nationalität. Als Reaktion auf den verstärkten Antisemitismus in Deutschland war die Zahl der deutschen Juden Prags seitdem kontinuierlich rückläufig.

Nach der Machtübernahme Hitlers flohen vermehrt deutsche und österreichische Juden, später auch Juden aus dem Sudetenland nach Prag. Am 15.März 1939, dem Tag der deutschen Besetzung, lebten in Prag - einschließlich der Flüchtlinge - etwa 55.000 Juden. Bereits in den ersten Tagen der deutschen Besetzung kam es zu antijüdischen Ausschreitungen: Einige Synagogen wurden niedergebrannt, Juden auf offener Straße angegriffen.

Anmerkungen:

Die Erfassung der Juden im Protektorat begann bereits im März 1939; eine wichtige Informationsquelle waren dabei auch die jüdischen Matrikeln. Zunächst wurden die Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinden registriert. Erst ab Ende Juni 1939 wurde der betroffene Personenkreis erweitert.

1939 wurde in Prag die „Zentralstelle für Jüdische Auswanderung in Böhmen und Mähren” geschaffen, um die massenhafte Auswanderung der tschechischen Juden zu fördern. Diese Behörde war auf Erlass des Reichsprotektors v. Neurath geschaffen worden; sie wurde von SS-Oberführer Dr. Franz Stahlecker und SS-Sturmbannführer Hans Günther geleitet.  Etwa knapp 27.000 Juden verließen bis Ende 1941 das Protektorat. Darunter befanden sich auch etwa 2.500 Personen, die auf Grund des „HAAVARA-Abkommens” in drei Gruppen nach Palästina ausreisen konnten. Im August 1933 war zwischen der deutschen Regierung, Vertretern des ZVfD und der Anglo-Palestine-Bank das HAAVARA-Abkommen geschlossen worden; danach war ausreisewilligen Juden gestattet, einen bestimmten Teil ihres Vermögens in Form deutscher Waren mitzunehmen. Die Nationalsozialisten hatten diesem Transfer-Abkommen deshalb zugestimmt, weil sie sich einerseits eine Steigerung der jüdischen Auswanderung und andererseits eine Erhöhung des deutschen Exports erhofften.

Die Jüdische Religiöse Congregation (JRC) in Prag wurde zum unfreiwilligen Handlanger der deutschen Behörden; zu ihrer Aufgabe gehörte u.a. die Abstellung von Juden zur Zwangsarbeit und die Bestimmung der Juden für Deportationen. Im September 1941 waren nach einer Zählung durch den JRC insgesamt noch 88.105 Juden im Protektorat ansässig.

                 Aus dem Bericht der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung” Prag über die Lage der Juden im Protektorat vom 2.10.1941:

Seit Eingliederung der Gebietes Böhmen und Mähren in den Großdeutschen Raum vollzieht sich eine Entwicklung, die durch die völlige Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben gekennzeichnet ist. ...  Abgesehen von geringen Ausnahmen, die aus volkswirtschaftlichen Gründen notwendig waren, gibt es heute kein jüdisches Berufsleben mehr. Die beschäftigungs- und existenzlos gewordenen Juden werden in immer steigenderem Maße in den Arbeitseinsatz eingegliedert, besonders bei Hoch-, Tief- und Bahnbau, Regulierungsarbeiten, allen Arten von Hilfsarbeiten in Bauten und Betrieben sowie in der Land- und Forstwirtschaft. ... Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung Prag hat ... bereits die meisten jüdischen Organisationen ausgelöst. Die endgültige Liquidierung ist im Zuge. Sie hat auch durch ihren Vermögensträger, den Auswanderungsfonds für Böhmen und Mähren, ungefähr 1.500 jüdische Liegenschaften in Prag und in der Provinz erworben. Außerdem hebt die Zentralstelle ... von jedem Juden, der auswandert, eine Auswanderungsumlage ein, die nach dem Vermögen gestaffelt ist.

... Als Anlage ist eine statistische Übersicht über den zahlenmäßigen Stand sowie die Veränderungen der jüdischen Bevölkerung im Protektorat seit 15.3.1939 beigeschlossen. ...

Tafel 1

                                                                                                 STAND der JÜDISCHEN BEVÖLKERUNG am 15.3.1939

(nach Alter und Geschlecht)

                                                      A l t e r          Männer                 Frauen

   - 18            9.305                   8.728

18 - 45           25.458                  24.024

45 - 60           14.467                  14.404

60 -               9.912                  12.012

Gesamtzahl der Juden 15.3.1939 .......... 118.310

 

                                                                                             AUSWANDERUNG der JUDEN vom 15.3.1939 bis 1.10.1941

     (nach Weltteilen und Altersstufen)  

Weltteil            - 18     18 - 45      45 - 60     60 -

------------------------------------------------------------

Nordamerika         250         820         293       119

Südamerika          925       3.172         496        80

Mittelamerika        80         464          93        32

Afrika               21         112          29         5

Asien (o.Palästina) 531       2.630         789        92

Europa            3.332       7.566       1.843       612

Australien           16         114         33         13

Palästina           799         885         362        71

 

                                                                                             STAND der JÜDISCHEN BEVÖLKERUNG am 1.10.1941

(nach Geschlecht und Alter)    

Alter         Männer         Frauen

------------------------------------

- 18         5.536           5.418

18 - 45     15.304          16.844

45 - 60     11.514          12.927

60 -         9.068          11.494

   Gesamtzahl d. Juden 1.10.1941 88.105

(aus: Dokumentation zur Errichtung des Theresienstädter Ghettos 1941, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 1996,  S. 267/268)

Mit der Ernennung Reinhard Heydrichs zum stellvertretenden Reichsprotektor am 27.September 1941 begann die „Lösung der Judenfrage” in Böhmen und Mähren. Es wurde beschlossen, zunächst die Juden des Protektorats in Theresienstadt zu sammeln und sie anschließend „in den Osten“ zu deportieren - nach Lodz, Minsk und Riga.

                 Aus Protokollnotizen über eine SD-Besprechung in Prag über die „Lösung der Judenfrage” im Protektorat vom 10.10.1941:

... Die Besprechung war angesetzt, um Maßnahmen zu erörtern, die zunächst für Lösung der Judenfragen im Protektorat und teilweise im Altreich notwendig wurden, ... Im ganzen Protektorat leben z.Zt. etwa 88.000 Juden, davon sind in Prag 48.000. Der Schwerpunkt liegt außerdem noch in Brünn mit 10.000 und Mährisch-Ostrau mit 10.000   ...Es sollen die lästigsten Juden herausgesucht werden. Minsk und Riga sollen 50.000 bekommen. ...Es soll keine Rücksicht auf Juden mit Kriegsauszeichnungen genommen werden. ...... In den nächsten Wochen sollen die 5.000 Juden aus Prag nun evakuiert werden. ....Über die Möglichkeit der Ghettoisierung im Protektorat. In Frage kommt nur ein etwas abgelegener Vorort (...) oder ein kleines Dorf ... sollen nur zwei Ghettos eingerichtet werden: ein Ghetto in Böhmen, eines in Mähren ... Die Juden können gut mit Arbeitsmöglichkeiten versorgt werden. ... In Böhmen käme in Frage: eventuell die alte Hussitenburg Alt-Ratibor, aber am besten wäre die Übernahme von Theresienstadt durch die Zentralstelle für jüdische Auswanderung. ...... Es wäre zu überlegen, ob der Wegzug der tschechischen Bevölkerung aus Theresienstadt nicht durch teilweise Übernahme der Umzugskosten gefördert werden könnte. Das Geld ließe sich aus dem zu verkaufenden überflüssigen Hausrat der Juden jederzeit reichlich aufbringen. ....

Durchführung der Ghettoisierung.

Kurz vor dem Transport wird eine Razzia auf Kleidungsstücke usw., eine regelrechte “Spinnstoffsammlung” durchzuführen sein, da vor allem die Prager Juden stets tadellos gekleidet waren. ... Der Transport ins Ghetto würde keine lange Zeit in Anspruch nehmen; jeden Tag könnten 2 - 3 Züge nach Theresienstadt gehen mit je 1.000 Personen. ... Nach bewährter Methode kann der Jude bis zu 50 kg nicht sperrendes Gepäck mitnehmen und ... Lebensmittel für 14 Tage bis 4 Wochen. ...

Es ist Vorsorge zu treffen, daß im Ghetto entstehende Seuchen nicht den Umkreis gefährden. ... Die Juden dürfen auf keinen Fall beerdigt werden, sondern es ist örtlich eine Verbrennung in einem Krematorium kleinsten Stils im Ghetto vorzunehmen, das der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Die Bewachung könnte von Protektoratspolizei, also Tschechen, unter sicherheitspolizeilicher Kontrolle, übernommen werden. .... Es müssen auch jüdische Ärzte beigegeben werden.

Die zu evakuierenden Zigeuner könnten nach Riga zu Stahlecker gebracht werden, dessen Lager nach dem Muster von Sachsenhausen eingerichtet ist.

Da der Führer wünscht, daß noch Ende d.J. möglichst die Juden aus dem deutschen Raum herausgebracht sind, müssen die schwebenden Fragen umgehend gelöst werden. ... (aus: Staatliches Zentralarchiv Prag I 3b 5860, Karton 390)

Zwischen Ende November 1941 und März 1945 gingen aus dem Protektorat 122 Züge mit mehr als 73.000 Menschen nach Theresienstadt. Die Mehrzahl dieser Menschen wurde in den Jahren 1942/1944 nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager deportiert. Nur etwas mehr als 3.000 von diesen überlebten. Allein aus dem Gebiet Groß-Prag wurden etwa 45.000 Juden nach Theresienstadt und andere Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert; 38.000 von ihnen kehrten nicht zurück.

Den Holocaust überlebten kaum 20.000 der einst 120.000 tschechischen Juden; die Rückkehrer waren in ihrer Heimat oft mit einer judenfeindlichen Stimmung konfrontiert. Dieser Antisemitismus gründete sich u.a. auch darauf, dass jüdische Überlebende Rückübertragungen von Vermögenswerten einforderten.

 

 

Im April 1945 bildeten Überlebende der KZs und Ghetto-Lager wieder eine kleine jüdische Gemeinde in Prag; doch viele Holocaust-Überlebende traten dieser nicht mehr bei, sondern wollten sich völlig assimilieren. Doch mit dem Antritt des kommunistischen Regimes in der CSSR 1948 und der Gründung des Staates Israel emigrierten die meisten der wenigen tausend Prager Juden. Unter dem Einfluss der UdSSR ging über die Tschechoslowakei eine antisemitische Welle hinweg: Juden wurden aus dem politischen und kulturellen Leben ausgeschlossen. Höhepunkt waren politische Schauprozesse gegen ehemals führende Kommunisten jüdischer Abstammung; so wurde Slansky 1952 hingerichtet.

Der sog. „Prager Frühling“ 1968 ließ kurzzeitig das jüdische Leben wieder auferstehen; doch nach dem Einmarsch sowjetischer Panzer setzte 1968/1969 eine letzten größere Emigrationswelle ein. Mit dem Fall des kommunistischen Systems und der Öffnung des Eisernen Vorhangs kam es zu einem Neuanfang jüdischen Lebens in der Tschechoslowakei.

Derzeit zählt die Prager Judengemeinde ca. 1.500 Angehörige (Stand 2020); dies sind etwa 80% aller in Tschechien lebenden Juden. Ende der 1990er Jahren setzte sich die Judenschaft Tschechiens aus ca. 5.000 Personen zusammen. Die ca. zehn Gemeinden sind in einer Dachorganisation (FZO) zusammengeschlossen.

Auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettobezirks ist seit 1945/1946 das Staatliche Jüdische Museum untergebracht, das größte Museum der Welt für jüdische Kultur. Das Museum war 1906 gegründet worden, um Ritualgeräte und Kunstwerke der jüdischen Gemeinden aufzubewahren. Nach der Okkupation der „Rest-Tschechei“ durch die deutsche Wehrmacht Mitte März 1939 wurde das Museum für die Öffentlichkeit geschlossen. Im Jahr 1942 richteten die Nazis das Jüdische Zentralmuseum ein, in dem Kunstgegenstände aus allen aufgelösten Synagogen Böhmens und Mährens gehortet wurden. Dabei stammen merkwürdigerweise die meisten Exponate aus dem Fundus der 1941 von den NS-Behörden gegründeten ‚Treuhandstelle’ für Zeugnisse jüdischen Lebens aus ganz Böhmen und Mähren. Bis 1944/1945 kamen insgesamt etwa 200.000 Gegenstände zusammen. Bei Kriegsende gehörten etwa 1.800 Thorarollen zum Bestand des Museums, das nach 1950 in staatliche Hand kam. Man erkannte den Wert der Ritualien und trieb deren Verkauf ins westliche Ausland voran. Die einst vom tschechoslowakischen Staat verkauften Thora-Rollen findet man heute fast auf jedem Kontinent. Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes 1989 wurden die Sammlungen an die Föderation jüdischer Gemeinden in der ČR zurückgegeben, gleichzeitig entstand das Jüdische Museum in Prag als eine nicht-staatliche Institution. Das Jüdische Museum verfügt heute mit seinen 40.000 Gegenständen und 100.000 Büchern über eine der umfangreichsten Judaica-Sammlungen der Welt. Die Objekte des Prager Jüdischen Museums werden jährlich von ca. 600.000 Menschen besucht; damit ist dieses Museum die meistbesuchte Institution dieser Art in der Tschechischen Republik.

Die Idee, sog. "Stolpersteine" auch in Tschechien zu realisieren, hatten jüdische Jugendliche. Die ersten "Steine der Verschwundenen" wurden in Prag und in der mittelböhmischen Stadt Kolín im Jahr 2008 verlegt. In der Hauptstadt sind derzeit ca. 300 "Stolpersteine" in die Gehwegpflasterung eingefügt (Stand 2020); jährlich kommen etwa 50 Steine hinzu.

https://d38ls2kcjnhfdj.cloudfront.net/efc2898e-014b-4e70-903f-1322494c2b37_d.JPG Datei:Prag stolperstein namesti franze kafky 2.jpg Datei:Prag stolperstein panzska 28-131.jpg Datei:Prag stolperstein pariszka 1068-10.jpg Datei:Prag stolperstein maiselova 60-3.jpg
 Einige "Stolpersteine" in den Straßen von Prag (Aufn. aus: waymarking.com bzw. Aufn. Peter Gaßner, in: wiki-de.genealogy.net)

Stolperstein für Arnost Grosslicht.jpgStolperstein für Oskar Schwarzkopf.jpgStolperstein für Rudolf Lasch.jpgStolperstein für Robert Katz.jpgStolperstein für Maximilian Lasch.jpgStolperstein für Karel Mautner.jpg

(Aufn. Chr. Michelides, 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

Seit 2017 erinnert ein Denkmal im Prager Hauptbahnhof an die Transporte, die jüdische Kinder aus der damaligen Tschechoslowakei nach England in Sicherheit brachten; so konnten wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ca. 670 Jungen u. Mädchen vor dem Holocaust gerettet werden; die allermeisten sahen ihre Eltern nie wieder.

    Denkmal für die geretteten Kinder (Aufn. Gerald Schubert)

Jüngst wurden bei Straßenbaumaßnahmen am Wenzelsplatz Hunderte jüdischer Grabsteinrelikte unter dem Straßenbelag entdeckt (2020). Zwei Jahre später wurde dann auf dem alten jüdischen Friedhof im Prager Stadtteil Žižkov ein Mahnmal eingeweiht, das aus einem Teil der aufgefundenen Grabsteinreste besteht, zu einer Art Linse geformt ist und nun den Namen „Návrat kamenů“ ("Rückkehr der Steine") trägt.

             Aufn. Hertzmann, 2022

 

 

 

In den Vorstädten Prags - sie wurden Anfang der 1920er Jahre nach Groß-Prag eingemeindet - bestanden einst auch jüdische Gemeinden. Neben der seit dem 17.Jahrhundert bestehenden Gemeinde in Lieben/Libeň  waren dies: Karolinenthal/Karlín, Michl /Michle, Smichow/Smichov, Königliche Weinberge/Královské Vinohrady und Zischkaberg/ Žižkow.

    Vinohradská synagoga, pohled z Moravské ul., dobová pohlednice, cca 1910  Synagoga karlin vintage photo.jpg Michelská synagoga Praha (Židovská památka) • Mapy.cz

Ehem. Synagogen in Královské Vinohrady und in Karlín (Abb. aus: wikipedia.org, CC-BY-SA 3.0 bzw. CCO)  und in Michle (Aufn. aus: mapy.cz)

 

In der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts entwickelte sich in den Vororten - so vor allem in Královské Vinohrady (Königliche Weinberge) -  jüdische Subzentren Prags für zumeist diejenigen Familien, die im Ghettobezirk ihr Zuhause gehabt hatten und nun als Angehörige der sich bildenden jüdischen Mittelschicht auf mehr soziale Anerkennung hofften. Um 1900 setzte sich die israelitische Gemeinde Královské Vinohrady aus ca. 3.500 Mitgliedern zusammen (und war damals zweitgrößte jüdische Gemeinde Böhmens). Als sichtbares Zeichen ihres ökonomischen Aufstiegs und der zunehmenden gesellschaftlichen Integration kann der Neubau der Synagoge verstanden werden (siehe Abb. oben).

 

 

 

Weitere Informationen:

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Samuel Steinherz (Hrg.), Die Juden in Prag. Bilder aus ihrer tausendjährigen Geschichte, Prag 1927

S. H. Lieben, Der hebräische Buchdruck in Prag im 16. Jahrhundert, in: Samuel Steinherz (Hrg.), Die Juden in Prag. Bilder aus ihrer tausendjährigen Geschichte. Prag 1927, S. 88 – 106

Karl Baum, Das jüdische Prag der Gegenwart in Zahlen, in: "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 73" [Neue Folge 37] (1929), S. 349 – 365

Ludwig Kollmann, Der alte Judenfriedhof in Prag, Verlag der Israelitischen Beerdigungs-Brüderschaft, Prag 1930

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Ruth Kestenberg-Gladstein, Neuere Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern, Tübingen 1969

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Lothar Martin (Red.), In Prags Stadtzentrum wurden Hunderte jüdischer Grabsteine entdeckt, in: "Czech Radio Prag" vom 5.5.2020

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Till Janzer/Ruth Francová (Red.), Mahnmal erinnert an jüdische Grabsteine, die für Prager Straßenpflaster missbraucht wurden, in: "Radio Prag International" vom 27.9.2022

Martina Schneibergová (Red.), Neue Stolpersteine erinnern an ehemalige jüdische Bewohner des Prager Stadtteils Čakovice, in: deutsch.radio.cz vom 14.11.2022