Rahden (Nordrhein-Westfalen)
Rahden ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 15.500 Einwohnern im Kreis Minden-Lübbecke in Ostwestfalen-Lippe – ca. 40 Kilometer nordöstlich von Osnabrück bzw. ca. 35 Kilometer nordwestlich von Minden gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: geoportal.kreis-herford und Kartenskizze 'Kreis Minden-Lübbecke', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).
Um 1690 lebten in der Ortschaft Rahden vier jüdische Familien; in den folgenden Jahrzehnten erhöhte sich ihre Anzahl nur unwesentlich. Erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts war eine deutliche Zunahme jüdischer Familien im gesamten Kreis Rahden zu verzeichnen.
Gottesdienste fanden bis Mitte des 19.Jahrhunderts in angemieteten Räumen statt; 1851/1852 wurde in der Langen Straße ein eingeschossiges Synagogengebäude neu errichtet, das etwa 70 Personen Platz bot; dessen Einweihung erfolgte am 10.September 1852. Der alte Betsaal war 1850 einem Stadtbrand zum Opfer gefallen. Der Neubau überstieg die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinde; nur durch eine Kollekte und eine freiwillige Spende konnte das Bauvorhaben realisiert werden.
Innenansicht der Synagoge in Rahden (hist. Aufn.)
Zur Synagogengemeinde Rahden gehörten alle Juden im gleichnamigen Amtsbezirk. Eine erste Synagogenordnung der jüdischen Gemeinde Rahden von 1835 beinhaltete die folgenden Regeln:
1. Wer plaudert bezahlt eine Geldgabe in der Armen Casse von 5 Sgr
2. Wer von einer Stelle zu andren sich begiebt 2 (Sgr) 6 d
3. Wenn sich merere auf einer Stelle versammeln jeder 2 (Sgr) 6 d
4. Wer sich entfernt weil (sic) die Thora vorgelesen wird 5 (Sgr)
5. Die ihre Geböte (sic) so hoch verrichten das man den vohr böhter nicht hören kann wird verhältnismäßig in einer Geldgabe verrechnet.
6. Haben die Eltern für Ruhe ihrer Kinder zu sorgen oder die auf ihnen zugerechnete Geldgabe von die Eltern gevordert und bezahlen müssen
7. ist von semtlicher Gemeinde solches alle dem vohr steher überlassen und hat hier über zu ordnen.
(aus: Stadtarchiv Rahden, A 415)
Etwa 20 Jahre galt in Rahden dann eine neu geschaffene Synagogenordnung, die den gottesdienstlichen Kultus regelte.
In der Synagoge untergebracht war auch die jüdische Schule, die von 1908 bis zu ihrer Auflösung 1928 den Status einer öffentlichen Schule besaß.
Die jüdische Begräbnisstätte von Rahden wurde vermutlich bereits um 1740 "Auf der Heide" in Alt-Espelkamp angelegt; ein urkundlicher Nachweis findet sich im Kataster von 1827.
Juden in Rahden:
--- um 1690 ........................ 4 jüdische Familien,
--- um 1765 ........................ 8 “ “ ,
--- 1820 ........................... 57 Juden (in 12 Familien),
--- 1837 ........................... 93 “ ,
--- 1858 ........................... 116 “ ,
--- 1871 ........................... 81 " ,
--- 1895 ........................... 59 “ ,
--- 1900 ........................... 71 “ ,
--- 1925 ........................... 48 " ,
--- 1932 ........................... 60 “ ,
--- 1933 (Okt.) .................... 49 “ ,
--- 1942 ........................... keine.
Angaben aus: Elfi Pracht,Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Reg.bez. Detmold, S. 419
und Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938, Anhang S. 645
Ortsmitte von Rahden - hist. Postkarte (Abb. aus: akpool.de)
Zu Beginn der 1930er Jahre lebten etwa 60 Juden in Rahden. Den reichsweit ausgerufenen Boykott jüdischer Geschäfte leitete am 31.3.1933 in Rahden folgende Anzeige des Aktionskomitees der NSDAP-Ortsgruppe im „Rahdener Wochenblatt” ein:
Deutsche wehrt Euch, Kampf dem Juden ! Kein Stück Tuch vom Juden ! Kein Vieh vom Juden ! Kein Handel mit den Juden überhaupt !
Wir werden streng kontrollieren, wer gegen unsere Maßnahmen handelt.
1935 verstärkte sich der Druck auf jüdische Geschäftsleute, besonders der Viehhändler, weiter; die Bauern, die weiterhin Wirtschaftsbeziehungen mit jüdischen Händlern unterhielten, wurden nun fotografiert; die Kontakte wurden daraufhin eingestellt.
In den Abendstunden des 10.November 1938 wurde die noch zu Beginn der NS-Zeit renovierte Synagoge in Brand gesetzt. Unter den Augen zahlreicher Einwohner und der Feuerwehr brannte das Gebäude bis auf die Grundmauern nieder; dieses wurden später niedergelegt. Während des Pogroms wurden auch Wohnungen jüdischer Familien verwüstet und geplündert, ihre Bewohner misshandelt.
Ende Juli 1942 wurden Dagobert und Sophie Haas als die beiden letzten Rahdener mosaischen Glaubens deportiert („verzogen nach Theresienstadt“). Elf von insgesamt 29 in Rahden gebürtigen Juden haben die Deportationen überlebt.
Seit 1980 erinnert eine unscheinbare Gedenkstele am Rathaus-Parkplatz an die einstige jüdische Kultusgemeinde von Rahden; unter einem Davidstern ist die folgende kurze Inschrift zu lesen: "Hier stand von 1852 bis 1938 die Rahder Synagoge".
Gedenkstein (Aufn. Bernd Rieke, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und Pröpper, 2012)
Zum 160.Jahrestag der Synagogeneinweihung wurde ein Gedenkplatz eingeweiht, der die Fläche der einstigen Synagoge nachzeichnet; die Eckpunkte des ehemaligen Gotteshauses sind mit Natursteinen markiert.
Schüler/innen der Freiherr-vom-Stein Realschule erstellten 2014 ein Modell der Rahdener Synagoge im Maßstab 1:20; seinen endgültigen Platz soll es im Rathaus finden. Anlässlich der Gedenkstunde zum 79.Jahrestag der Pogromnacht wurde der Rathaus-Platz in Rahden in „Platz der Synagoge“ umbenannt.
2015 wurden erstmals in Rahden sog. „Stolpersteine“ verlegt; die meisten der insgesamt 16 Steine sollen an Angehörige der jüdischen Familie Ginsberg erinnern, die in der Marktstraße 20/22 ihren letzten Wohnsitz hatte. Ein Jahr darauf wurden weitere 15 Steine ins Gehwegpflaster Rahdener Straßen eingefügt, so u.a. in der Bahnhofstraße, wo die beiden jüdischen Familien Heine und Weidenbaum gewohnt hatten. 2018 wurden zudem Stolpersteine für Angehörige zwei weiterer Familien (Goldstein und Vogel) verlegt. 2022 wurden acht messingfarbene Steinquader vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Frank in der Lemförder Straße in die Gehwegpflasterung eingefügt.
Aufn. F. Spreen-Ledebur
2024 erfolgte vermutlich letztmalig eine Verlegeaktion in der Langen Straße: fünf Gedenkquader erinnern hier an die Angeheörigen der Familie Oppenheim.
Als einziges "bauliches Relikt" hat der jüdische Friedhof in der Altgemeinde Espelkamp - dieser befindet sich ca. drei Kilometer vom Rahder Zentrum entfernt - die Zeiten überdauert; auf dem seit 1987 unter Denkmalschutz stehenden Gelände findet man noch ca. 80 Grabsteine. Eine Gedenktafel erinnert dort an die in den Jahren 1940/1942 deportierten und ermordeten Rahder Juden.
In Stemwede – einer in der 1970er Jahren geschaffenen neuen Kommune bestehend dem Zusammenschluss von 13 kleinen Orten, westlich von Rahden gelegen – erinnern Gräber und eine Gedenktafel auf dem jüdischen Friedhof an die ehemalige kleine jüdische Gemeinschaft. Das Anfang der 1860er Jahre angelegte Begräbnisgelände in Niedermehnen hatte mehr als sieben Jahrzehnte verstorbenen Angehörigen der Synagogengemeinde Levern-Wehdem gedient.
vgl. Levern (Nordrhein-Westfalen)
Weitere Informationen:
Verena Rüter, Juden - nationalsozialistische Vorgänge in Rahden und Umgebung, Maschinenmanuskript 1984 (im Rahder Stadtarchiv)
Werner Kirchhoff (Hrg.), Chronik der Gemeinde Rahden 1818 - 1888, in: "Quellen und Schrifttum zur Kultusgeschichte des Wiehengebirgsraums - Reihe A", Band 4, Espelkamp 1995
Ursula Ester-Hartke, Sie lebten mitten unter uns. Spurensuche. Juden in Rahden. Projekt der Geschichtswerkstatt der Hauptschule Rahden, 1997
Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Regierungsbezirk Detmold, J.P.Bachem Verlag, Köln 1998, S. 419 - 423
G. Birkmann/H. Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen u. Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 188
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 440/441
Volker Beckmann, Die jüdische Bevölkerung der Landkreise Lübbecke und Halle i.W. - Vom Vormärz bis zur Befreiung vom Faschismus (1815 - 1945), Dissertation Univ. Bielefeld 2000/2001 (2015 überarb. als PDF-Datei vorl. S. 86 - 91 u.a.)
Bernd-Wilhelm Linnemeier (Bearb.), Petershagen und Rahden. Zwei jüdische Landgemeinden des Fürstentums Minden im historisch-strukturellen Vergleich, in: Stefan Baumeier/Heinrich Stiewe (Hrg.), Die vergessenen Nachbarn. Juden auf dem Lande im östlichen Westfalen, "Schriften des Westfälischen Freilichtmuseums Detmold, Verlag für Regionalgeschichte", Bielefeld 2006, S. 217 – 236
Sonja Rohlfing (Red.), Das Schicksal der Familie Vogel – Nach der Reichspogromnacht 1938 nahm die Hetze gegen Juden auch in Rahden zu, in: „Zeitung für den Altkreis Lübbecke/Neue Westfälische“ vom 10.11.2009
Elke Bösch, Synagoge vor 160 Jahren eingeweiht …, in: „Espelkamper-Zeitung. Westfalenblatt“ vom 1.9.2012
mer (Red.), Auf den Spuren jüdischer Mitbürger gewandelt – historischer Rundgang, in: MK- kreiszeitung.de vom 13.9.2012
Bernd-Wilhelm Linnemeier (Bearb.), Rahden, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold, Ardey-Verlag, Münster 2013, S. 641 - 651
Anja Schubert (Red.), Rahden erinnert sích. Gedenkwoche zur Einweihung der Synagoge vor 160 Jahre mit zahlreichen Veranstaltungen, online abrufbar unter: kirchenkreis-luebecke.de
Joern Spreen-Ledebur (Red.), Stolpersteine erinnern an ermordete jüdische Mitbürger in Rahden, in: “NW - Neue Westfälische” vom 28.11.2015
Stolpersteine gegen das Vergessen: Spuren der Vergangenheit, in: MK-kreiszeitung.de vom 13.10.2016
Auflistung der in Rahden verlegtenStolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Rahden
Joern Spreen-Ledebur (Red.), Stolperstein-Verlegung führt Familien wieder zusammen, in: “NW - Neue Westfälische" vom 20.11.2016
Arbeitskreis Jüdisches Leben in Rahden (Hrg.), betr. Aktivitäten der Beteiligten in Bezug auf die jüdische Lokalgeschichte, online abrufbar unter: juedisches-leben-rahden.de
Joern Spreen-Ledebur (Red.), Gedenken an Synagoge – Platz in Rahdens Zentrum wird neu benannt, in: “NW - Neue Westfälische” vom 13.7.2017
Joern Spreen-Ledebur (Red.), Platz neben Rathaus heißt jetzt „Platz der Synagoge“, in: „NW - Neue Westfälische“ vom 13.11.2017
Elke Bösch (Red.), "Vergessen bringt keine Heilung" - Stolpersteinverlegung in Rahden, in: "Westfalen-Blatt" vom 17.9.2018
Sonja Rohlfing (Red.), Künstler setzt mit Stolpersteinen ein Zeichen gegen das Vergessen in Rahden, in: „NW - Neue Westfälische“ vom 18.9.2018
Mindener Geschichtsverein/Kreis Minden-Lübbecke (Hrg.), Orte erinnern – Spuren der NS-Zeit in Minden-Lübbecke, online abrufbar unter: minden-luebbecke.de/media/custom/2832_1688_1.PDF?1557728062, S. 36 - 39
Joern Spreen-Ledebur (Red.), Rahden. Gedenken an Pogromnacht: In Rahden brannte die Synagoge einen Tag später, in: „NW - Neue Westfälische“ vom 11.11.2019
Frank Hartmann (Red.), Espelkamper Stadträtsel: Bis in die Römerzeit zurück (betr. jüdischen Friedhof), in: „NW - Neue Westfälische“ vom 1.5.2021
Joern Spreen-Ledebur (Red.), Rahden. Gegen das Vergessen: Weitere Stolpersteine sollen verlegt werden, in: „NW – Neue Westfälische“ vom 25.1.2022
Anja Schubert (Red.), Aktion gegen das Vergessen – Acht Stolpersteine zum Gedenken an die Familie Frank in Rahden verlegt, in: „WB – Westfalen-Blatt“ vom 13.6.2022
Joern Spreen-Ledebur (Red.), Holocaust vor der Haustür: Vor 85 Jahren brannten die Nazis die Synagoge in Rahden nieder, in: „NW – Neue Westfälische“ vom 9.11.2023
N.N. (Red.), Jüdisches Leben war auch Teil der Kirchring-Historie. Neue Rahdener Stolpersteine werden am 12.Juni verlegt, in: „Westfalen-Blatt“ vom 5.6.2024
Joern Spreen-Ledebur (Red.), Stumme Mahnung an vertriebene und ermordete Rahdener, in: „NW – Neue Westfälische“ vom 11.6.2024
Arndt Hoppe (Red.), Fünf neue Stolpersteine an der Langen Straße verlegt – Erinnerung an Schicksal der Familie Oppenheim, in: „Westfalen-Blatt“ vom 12.6.2024