Rauschenberg (Hessen)
Rauschenberg ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 4.500 Einwohnern im Norden des hessischen Landkreises Marburg-Biedenkopf - ca. 15 Kilometer nordöstlich von Marburg gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Marburg-Biedenkopf', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).
aus: Topographia Hassiae, Merian-Stich, um 1655 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Zu Beginn des 17.Jahrhunderts sind erstmals jüdische Bewohner in Rauschenberg urkundlich nachgewiesen; die Zahl der hier ansässigen Familien war zunächst aber stets nur gering. Erst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts war ein deutlicher Anstieg der jüdischen Bewohner festzustellen; um 1905 erreichte die Gemeinde mit knapp 100 Angehörigen ihren zahlenmäßigen Höchststand.
Gegen Ende der 1850er Jahre errichtete die Gemeinde ein Synagogengebäude; es konnte nur durch eine in ganz Oberhessen durchgeführte Kollekte finanziert werden. Wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg war ein Synagogenneubau geplant; doch blieb es bei einer Renovierung des alten Bethauses.
Synagoge – zweites Haus rechts im Bild (hist. Aufn., aus: Gassenschrift)
In Rauschenberg existierte auch über mehrere Jahrzehnte eine winzige jüdische Elementarschule (eingerichtet 1873), die dann Mitte der 1920er Jahre aufgelöst wurde.
Religiöse Aufgaben der Gemeinde wurden von einem angestellten jüdischen Lehrer verrichtet. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Gemeinden war die Lehrerstelle hier kaum einem Wechsel unterworfen; die hier tätigen Personen übten dieses Amt jeweils über mehrere Jahrzehnte hinweg aus; so waren z.B. von 1839 bis 1876 Aron Luhs und von 1895 bis 1925 Menko Schirling als Religions- bzw. Elementarlehrer tätig.
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 20.4.1893
Für die verstorbenen Gemeindeangehörigen soll erst seit der Jahrhundertwende ein kleines Begräbnisareal „Auf der Wilden Struth“ zur Verfügung gestanden haben; bis ca. 1900 wurden die Toten auf dem "Judenfriedhof" in Hatzbach beerdigt.
Bis in die 1880er Jahre zählten auch die wenigen Juden aus Betziesdorf, Bürgeln und Schönstadt zur Rauschenberger Gemeinde.
Die Gemeinde gehörte zum Provinzialrabbinat Marburg (Oberhessen).
Juden in Rauschenberg:
--- um 1660 ...................... 16 Juden,
--- 1723 ......................... 4 jüdische Familien,
--- 1812 ......................... 22 Juden,
--- 1835 ......................... 34 “ ,
--- 1861 ......................... 66 “ ,
--- 1871 ......................... 50 " (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1885 ......................... 48 “ ,
--- 1895 ......................... 73 “ ,
--- 1905 ......................... 98 “ (ca. 7% d. Bevölk.),
--- um 1930/33 ............... ca. 35 “ (in ca. 10 Familien),
--- 1942 ......................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 208
Über die Zeit nach 1933 liegen kaum bzw. nur wenige Unterlagen über die jüdische Gemeinde vor; diese sollen durch Kriegsereignisse vernichtet worden sein.
Im September 1935 erließ der Gemeinderat eine sog. „Judenordnung“.
„Judenordnung in Rauschenberg. Rauschenberg, 11. Sept. Die hiesigen Gemeinderäte haben in der Judenfrage folgendes beschlossen: Alle städtischen Einwohner, welche nach dem 20. August d. Js. noch Geschäfte irgend welcher Art mit Juden tätigen, werden von allen städtischen Arbeiten, Leistungen und Unterstützungen ausgeschlossen.“ (aus: „Hessische Rundschau“ vom 13.9.1935)
Über Vorgänge während des Novemberpogroms ist deshalb kaum etwas bekannt. Das Synagogengebäude ging 1939 für einen Kaufpreis von 400 RM in Privathand über und wurde anschließend zu Wohnzwecken genutzt. Der jüdische Friedhof sollte nach dem Willen des damaligen Bürgermeisters Moll eingeebnet und andersweitigen Zwecken zugeführt werden.
Ende August 1941 wurde dem Marburger Landrat gemeldet, dass Rauschenberg nun „judenfrei“ sei.
Während ein Teil der jüdischen Bewohner (insgesamt 27 Pers.) noch rechtzeitig emigrieren konnte, fiel der andere Teil der NS-Gewaltherrschaft zum Opfer.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sollen insgesamt 38 ehemalige Angehörige der jüdischen Kultusgemeinde Rauschenberg der „Endlösung“ zum Opfer gefallen sein - davon 22 Personen aus Rauschenbach, jeweils fünf aus Betziesdorf und Bürgeln und sechs aus Schönstadt (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/rauschenbach _synagoge.htm).
Das Synagogengebäude, das gegen Ende des Krieges als Unterkunft für französische Kriegsgefangene und nach 1945 für einige Jahre als Flüchtlingswohnung gedient hatte, wurde in den Nachkriegsjahren abgerissen. Eine Hinweis- bzw. Gedenktafel vermisst man dort.
1990 wurde nach kontroversen Diskussionen auf Beschluss der Stadtverordneten an der Stadtmauer neben dem Eingang zum Friedhof eine Gedenktafel angebracht mit dem Wortlaut: "Zum Gedenken an alle Verfolgten, Vertriebenen und Ermordeten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Zur Mahnung für uns alle." Auf dem jüdischen Friedhof findet man heute 27 Grabsteine aus der Belegungszeit von 1903 bis 1938.
jüdischer Friedhof in Rauschenberg (Aufn. J. Hahn, 2008)
In Josbach – seit 1971 einer von sechs Ortsteilen von Rauschenberg - lebten um 1900 ca. 40 jüdische Bewohner, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend durch Viehhandel bestritten. Seit Mitte der 1850er Jahre gab es im Ort die Mazzot-Fabrik von Isaak Steinfeld, deren Fabrikate weit über die Region hinaus versandt wurden.
Anzeige aus dem Jahre 1925
Seit 2002 befindet sich an der Kirche ein Gedenkstein, der die folgenden Worte trägt: "Die Gemeinde Josbach gedenkt ihrer Einwohner, die durch die Gewaltherrschaft des Nationalsozialistischen Regimes zwischen 1933 und 1945 wegen ihrer Volkszugehörigkeit, ihres Glaubens, ihrer Überzeugung oder ihres Widerstandes verfolgt, verschleppt, vertrieben, gefoltert oder ermordet wurden. Auch alle jüdischen Familien Josbachs waren betroffen. DIE OPFER MAHNEN UNS - WEHRET DEN ANFÄNGEN."
2015/2016 wurden in Josbach sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an ehemalige jüdische Dorfbewohner erinnern; insgesamt findet man im Ort an acht Standorten ca. 30 Steine
Seit 2016 findet man an drei Standorten in Bürgeln (Ortsteil von Cölbe) insgesamt 13 „Stolpersteine“, die an Angehörige jüdischer Familien erinnern, die in die Emigration getrieben oder ermordet wurden.
In Cölbe wurden 2019 für drei Angehörige der jüdischen Familie Stern "Stolpersteine" verlegt; bereits ein Jahr zuvor waren vier messingfarbene Steinquader in Erinnerung an Familie Buchheim in die Gehwegpflasterung eingefügt worden.
Aufn. G. 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 208/209
Barbara Händler-Lachmann/Ulrich Schütt, "unbekannt verzogen" oder "weggemacht". Schicksale der Juden im alten Landkreis Marburg 1933 - 1945, Marburg 1992
Gerhard Trost, Historische Zeittafel von Rauschenberg, in: "Rauschenberger Museumsschriften - Beiträge und Mitteilungen des Rauschenberger Museums zur Geschichte, Landschaft u. Volkskunde", Heft 1/1994
B.Händler-Lachmann/H.Händler, U.Schütt, Purim, Purim, ihr liebe Leut, wißt ihr was Purim bedeut ? - Jüdisches Leben im Landkreis Marburg im 20.Jahrhundert, Hitzeroth Verlag, Marburg 1995, S. 25/26
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 160
Wilhelm Wissemann, Jüdische Spuren in Rauschenberg, in: "Rauschenberger Museumsschriften", Rauschenberg 2001
Alfred Schneider, Die jüdischen Familien im ehemaligen Kreise Kirchhain. Beiträge zur Geschichte und Genealogie der jüdischen Familien im Ostteil des heutigen Landkreises Marburg-Biedenkopf in Hessen, hrg. vom Museum Amöneburg, 2006
Rauschenberg mit Betziesdorf, Bürgeln und Schönstadt, in: alemannia-judaica.de
Gassenschrift: Straßen, Häuser und Menschen in der Kernstadt, in: "Rauschenberger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur", Band 2, Rauschenberg 2014 (darin hist. Aufnahme des Synagogengebäudes)
Ludwig Pigulla/Ulrich Stein (Red.), Auf den Spuren jüdischen Lebens in Rauschenberg, in: „Rauschenberger Nachrichten“ vom 7.11.2015
Matthias Mayer (Red.), Jüdisches Leben wird gegenwärtig, in: „Oberhessische Presse“ vom 5.10.2015
Josbach hat seine ersten „Stolpersteine“, online abrufbar unter: rauschenberg.de
Kommune Josbach (Hrg.), Stolpersteine in Josbach, in: josbach.de/de/index.php/de/dies-und-das/stolpersteine
Götz Schaub (Red.), Gedenken an jüdische Mitbürger. 13 Stolpersteine gegen das Vergessen, in: „Oberhessische Presse“ vom 3.5.2016 (betr. Stolpersteine in Bürgeln)
Götz Schaub (Red.), Namen auf Stolpersteinen bekommen Gesichter, in: „Oberhessische Presse“ vom 29.12.2016 (betr. Bürgeln)
Willi Wolf, „Jüdische Bürger“ in Rauschenberg - Rückblicke bis 1900, in: "Rauschenberger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur", Band 3, hrg. vom Magistrat der Stadt Rauschenberg. Geschichtswerkstatt des Arbeitskreises "Wir alle in Rauschenberg", Rauschenberg 2017 (auch online abrufbar)
Matthias Mayer (Red.), Das Ende jüdischen Lebens in Rauschenberg. „Judenfrei“ am 27.August 1941, in: „Oberhessische Presse“ vom 5.5.2017
Stadtverwaltung Cölbe (Red.), Tag des Gedenkens in Cölbe – Stolpersteine und Gedenktafeln erinnern an die dunkle Zeit der Dorfgeschichte, online abrufbar unter: coelbe.de/rathaus-politik/erinnerungskultur/stolpersteine-coelbe/ vom 27.1.2021