Reichenberg (Böhmen)
Reichenberg an der Görlitzer Neiße ist das heutige tschechische Liberec; neben Aussig (Ustí nad Labem) ist sie die größte Stadt Nordböhmens mit derzeit mehr als 100.000 Einwohnern (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 mit Eintrag der Reichenberg-Gablonz-Tannwalder Eisenbahnstrecke, aus: wikipedia.org, PD-alt-100 und Kartenskizze 'Tschechien' mit Liberec rot markiert, aus: wikipedia.org gemeinfrei).
Die Ortschaft Reichenberg entstand im 13.Jahrhundert und erhielt im 19.Jahrhundert Stadtrechte. Zwischen 1938 und 1945 war Reichenberg die Hauptstadt des Gaues ‘Sudetenland’ und bis zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung 1945/1946 mit etwa 70.000 deutschen und tschechischen Bewohnern auch die größte Stadt des Sudetenlandes.
Die ersten Juden lebten hier wahrscheinlich schon im 15. Jahrhundert. 1582 erreichten etwa 50 jüdische Familien die Stadt; sie waren aus Prag vor der Pest geflüchtet. Doch in der Folgezeit (?) wurde ihnen der dauerhafte Aufenthalt in der Stadt verwehrt.
In der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts begann sich Reichenberg zum Mittelpunkt des Tuchmachergewerbes und späterhin der Textilindustrie zu entwickeln. Auch jüdische Handwerker und Kaufleute verdienten in diesen Branchen ihren Lebensunterhalt; neben der Beschaffung von Rohstoffen übernahmen sie auch den Verkauf der Fertigprodukte, vor allem im böhmischen und mährischen Gebiet. Um die jüdische Konkurrenz einzudämmen, beschloss der Stadtrat 1776, dass nicht an allen Tagen Juden in der Stadt weilen durften. Da die Juden in Reichenberg also nicht das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt hatten, entstand hier auch keine Gemeinde, wie es sie in anderen böhmischen Städten gab. Noch 1850 hieß es in einem Schreiben der Stadtverordnetenversammlung: „ ... Hierorts bestehen keine jüdischen Kultus- oder Unterrichtsanstalten, da in der ganzen Stadtgemeinde keine Jude ansässig ist, den hier befindlichen Juden aber bezüglich ihres Gewerbes nur ein zeitlich für ihre Person gültiger Aufenthalt bewilligt war und ist. ...” Trotz mancher Restriktionen wurde Reichenberg immer mehr zum Handelstreff auswärtiger Juden; die gesetzlichen Bestimmungen wurden umgangen, und de facto siedelten sich Juden bereits ab etwa 1800/1810 in Reichenberg an; sie wurden allerdings zuweilen von den Behörden ausgewiesen; doch immer wieder neu ausgegebene Aufenthaltsscheine füllten die Stadtkasse.
Erst zu Beginn der 1860er Jahre wurde den Juden der dauerhafte Aufenthalt in Böhmen, somit auch in Reichenberg - der damals zweitgrößten Stadt Böhmens - gesetzlich erlaubt; zu dieser Zeit bestand die jüdische Gemeinschaft („religiöser Club“) aus etwa 30 Familien.
1863 konstituierte sich der jüdische Kultusverein, nachdem die Behörden die Statuten genehmigt hatten. An die Errichtung einer Synagoge konnte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht denken, da auf Grund der wenigen Mitglieder eine Finanzierung nicht gewährleistet war; deshalb mietete man einen Raum in der Röchlitzerstraße als Betlokal und Versammlungsraum an. Dieser Betsaal erwies sich angesichts des Wachstums der Gemeinde bald als zu klein, sodass man in größere Räumlichkeiten umzog; nahezu zwei Jahrzehnte wurden nun Gottesdienste hier abgehalten.
Mit dem ab Mitte des 19.Jahrhunderts einsetzenden rasanten Aufschwung der Tuchindustrie in Reichenberg war auch eine große Zuwanderung von Arbeitskräften aus der Region verbunden. In diesem Kontext zogen auch zahlreiche jüdische Familien zu, die in der boomenden Industriestadt, dem "böhmischen Manchester", gute wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektiven sahen.
Nach langen Planungen - eine erste „Denkschrift zum Tempelbau“ war bereits 1875 verfasst worden - wurde im September 1889 in Anwesenheit der staatlichen und städtischen Behörden, der evangelischen und katholischen Geistlichkeit, der Abordnungen der jüdischen Nachbargemeinden und zahlreicher Vereine die neue Reichenberger Synagoge eingeweiht; sie stand inmitten der Stadt; ihr hoher Turm überragte sogar das Rathaus. Der im Stile der Frührenaissance errichtete Kuppelbau war vom Wiener Hochschulprofessor und Architekten Karl König entworfen und zu einem Drittel von Spenden nichtjüdischer Bürger mitfinanziert worden. Die neue Synagoge hatte jeweils ca. 250 Plätze für Männer und für Frauen.
hist. Postkarte (aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Synagoge von Reichenberg (hist. Postkarten um 1910, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Später gab es auch ein eigenes Bethaus der orthodoxen Achdus Jisrael, vor allem für Kriegsflüchtlinge aus Galizien nach dem Ersten Weltkrieg. Mitte der 1860er Jahre erwarb die Reichenberger Judenschaft ein Friedhofsgelände, das gegen Ende des Jahrhunderts erheblich erweitert wurde; der Bau einer Zeremonienhalle vollendete im Jahre 1900 die Friedhofsanlage.
Zeremonienhalle auf dem Reichenberger Friedhof (hist. Aufn.)
Zuvor waren Verstorbene auf dem jüdischen Friedhof in Turnov beerdigt worden.
Juden in Reichenberg:
--- um 1585 ...................... ca. 50 jüdische Familien,
--- um 1810 ...................... ca. 100 Juden,* * ohne Wohnerlaubnis
--- 1828 ............................. 34 “ ,
--- um 1850 .......................... keine,
--- 1861 ......................... ca. 30 jüdische Familien,
--- um 1870 ...................... ca. 90 “ “ ,
--- 1880 ............................. 674 Juden,
--- 1890 ............................. 957 “ (2,4% d. Bevölk.),
--- 1900 ............................. 1.107 “ ,
--- 1910 ............................. 1.240 “ (3,4% d. Bevölk.),
--- 1921 ............................. 1.312 “ ,
--- 1930 ............................. 1.392 “ (3,6% d. Bevölk.),
--- 1938 ......................... ca. 1.400 “ ,
--- 1939 (Mai) ................... ca. 40 “ ,
--- 1946 ......................... ca. 1.200 " ,
--- 1948 ......................... ca. 1.100 “ (darunter ca. 40 überlebende Reichenberger Juden),
--- 2006 ........................... 70 " .
Angaben aus: Emil Hofmann, Geschichte der Juden in Reichenberg
und Rudolf M.Wlaschek, Juden in Böhmen - Beiträge zur Geschichte ..., S. 25
Reichenberg um 1900 (Abb. aus: wikipedia.org, CCO) und Bismarckplatz um 1915 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, CCO)
Unmittelbar vor der sog. „Sudeten-Krise” 1938 sollen etwa 1.400 Juden in Reichenberg gelebt haben. Nach der Annexion durch Deutschland wurde Reichenberg „Hauptstadt des Reichsgaues Sudetenland”; viele jüdischen Familien hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die Stadt verlassen. Einige gelangten mit Hilfe des Rabbiners Emil Hofmann ins britische Mandatsgebiet Palästina, aber die allermeisten flohen in Städte im Landesinnern der Tschechoslowakei, wie Brünn und Prag. Die Schlüssel zur Synagoge waren zuvor dem Bürgermeister übergeben worden, nachdem wertvolle und heilige Gegenstände in Sicherheit gebracht worden waren. Während des Pogroms im November 1938 „zog die Bevölkerung durch die Straßen und gab ihre Entrüstung über den gemeinen Mord ... kund”; der monumentale Synagogenbau wurde demoliert, anschließend niedergebrannt und die Ruine schließlich dem Erdboden gleichgemacht. Die zeitgenössische Presse widmete dem Brand keine größere Aufmerksamkeit; das Gebäude sei „in Flammen aufgegangen“ hieß es in der „Friedländer Zeitung“.
Brennende Synagoge in Reichenberg (hist. Aufn.)
Nachdem die Ruine des Synagogengebäudes abgerissen worden war, diente später die Freifläche über Jahrzehnte hinweg als Parkplatz.
Bis Juni 1940 war die jüdische Bevölkerung im gesamten „Sudetengau“ auf etwa 1.900 Personen abgesunken; spätestens Ende 1941 wurden die wenigen noch hier verbliebenen Juden in sog. „Judenhäuser“ zusammengelegt - als Vorstufe der Deportationen, die ab Juli 1942 einsetzten. In den Jahren 1941–1944 wurden ca. 700 Reichenberger Juden* nach Theresienstadt, Lodz und Auschwitz verschleppt.
*Anderen Angaben zufolge sind mehr als 800 Holocaust-Opfer dokumentiert.
Nach Kriegsende lebten in Reichenberg und Umgebung etwa 1.200 Juden; fast alle stammten aus anderen Gebieten, zumeist aus solchen Osteuropas (Karpato-Russland). Nicht einmal 40 ehemalige jüdische Bewohner Reichenbergs haben die Kriegsjahre überlebt. Gegenwärtig zählt die Liberale Jüdische Gemeinde etwa 60 Angehörige (Stand 2019).
Der jüdische Friedhof in Liberec ist seit Anfang der 1990er Jahre ein geschütztes Kulturdenkmal.
Jüdischer Friedhof (Aufn. L., 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Seit 2008 gibt es im ehemaligen Tahara-Haus am jüdischen Friedhof von Liberec eine Holocaust-Gedenkstätte; dort sind die Namen von dokumentierten 800 Reichenberger Shoa-Opfer verzeichnet; Teile der Wandtäfelung der zerstörten Synagoge sind an den Wänden montiert.
Holocaust-Gedenkhalle (Aufn. Martin Veselka, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
An der Stelle, wo ehemals die Synagoge von Reichenberg stand, ist im November 2000 der sog. "Bau der Versöhnung" eingeweiht worden, in dessen Räumen eine moderne Bibliothek untergebracht ist; zudem findet man hier auch einen jüdischen Betraum.
"Bau der Versöhnung" mit Synagoge (Aufn. Bonio, 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Beginnend 2016 wurden in Gehwegen der Stadt an verschiedenen Standorten insgesamt ca. 45 sog. „Stolpersteine“ verlegt; allerdings stieß die Verlegung nicht überall auf Zustimmung (Stand 2020).
alle Aufn. Chr. Michelides, aus: wikipedia.org, CCO
In Haindorf/Isergebirge (tsch. Hejnice, derzeit ca. 2.700 Einw.) - ca. 20 Kilometer nordöstlich von Reichenberg gelegen – wurden 2019 vier sog. „Stolpersteine“ verlegt, die Angehörigen der jüdischen Familie Kaufmann gewidmet sind.
Aufn. Jan Heinzl, 2019, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0.
Weitere Informationen:
Emil Hofmann (Bearb.), Geschichte der Juden in Reichenberg, in: Hugo Gold (Hrg.), Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I., Brünn/Prag 1934, S. 529 - 569 (Anm. Emil Hofmann war Rabbiner in Reichenberg)
Hugo Gold (Hrg.), Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden Böhmens, Tel Aviv 1975
Ferdinand Seibt (Hrg.), Die Juden in den böhmischen Ländern - Vorträge der Tagung des Collegiums Carolinum in Bad Wiessee (November 1981), Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1983
Rudolf M.Wlaschek, Juden in Böhmen - Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 66, Verlag R. Oldenbourg, München 1997 (aktualisierte Fassung von 1990)
Zlatuse Kukánová/Lenka Matusíková, Die demographische Struktur der israelitischen Kultusgemeinden in Nordböhmen in den Jahren 1945 - 1949, in: "Theresienstädter Studien und Dokumente 1997", Verlag Academia, Prag 1997, S. 105 - 117
Volker Zimmermann, Täter und Zuschauer. Die Judenverfolgung im ‘Sudetengau’ 1938 - 1945, in: "Theresienstädter Studien und Dokumente 1999", Verlag Academia, Prag 1999, S. 180 f.
Katarina Holländer, „Bau der Versöhnung“ – Eine neue Synagoge entsteht, in: "Shalom. Jüdische Zeitschrift", Ausgabe 3/4 (Febr. 2004), S. 20/21
Jörg Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938 - 1945, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 105, Verlag R. Oldenbourg, München 2006
Till Janzer (Red.), “Kristallnacht“ im Sudetengebiet – Massenflucht jüdischer Bewohner, in: rado.cz vom 15.11.2008
Gemeinde Liberec, online abrufbar unter: jewishgen.org/AustriaCzech/towns/Liberec/Liberec.htm
The Jewish community of Liberec (Reichenberg), Hrg. Beit Hatfutsot – The Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/liberec
Jewish Families from Liberec (Reichenberg), Bohemai, Czech Republic, online abrufbar unter. geni.com/projects/Jewish-Families-from-Liberec-Reichenberg-Bohemia-Czech-Republic/13188
Isa Engelmann, Reichenberg und seine jüdischen Bürger. Zur Geschichte einer einst deutschen Stadt in Böhmen, LIT-Verlag, Berlin 2012 (auch online abrubar unter: sudetendeutsche-akademie.eu/Reichenbergjud)
Evelin Riegler, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Liberec. Modellierung, Texturierung und Visualisierung (Diplomarbeit), Technische Universität Wien, 2013, in: "David - Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 98/2013
Tina Walzer, Reichenberg: Wien des Nordens, böhmisches Manchester – heute Liberec in der Tschechischen Republik. 300 Jahre jüdische Geschichte und eine virtuelle Synagogenrekonstruktion, in: "David - Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 98/2013
Stanislav Beran (Red.), 19 Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus in Liberec, in: tschechien-online.org vom 19.8.2016
Stanislav Beran (Red.), Protest gegen Stolpersteine, in: tschechien-online.org vom 16.10.2017
Stadt Jicin (Hrg.) Stolpersteine, online abrufbar unter: jicin.org (mit Namensliste der betreffenden Personen)
Abbildungen der in Liberec verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: commons.wikimedia.org/wiki/Category:Stolpersteine_in_Liberec
Stanislav Beran (Red.), Stolpersteine in Haindorf (Aufsatz vom Nov. 2019), online abrufbar unter: tschechien-online.org/blog/stolpersteine-haindorf-30112019-21588