Schotten/Vogelsberg (Hessen)
Schotten ist eine Kommune (bestehend aus insgesamt 15 Ortsteilen) mit derzeit ca. 10.000 Einwohnern im äußersten Südwesten des hessischen Vogelsbergkreises; sie liegt ca. 30 Kilometer westlich von Fulda bzw. ca. 40 Kilometer östlich von Gießen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).
Erste Hinweise auf jüdisches Leben im oberhessischen Schotten finden sich in Amtsrechnungen aus dem Jahre 1577. Gegen 1600 lebten vereinzelt jüdische Familien in Schotten; während des Dreißigjährigen Krieges zogen dann vermehrt Juden zu, die zur Zahlung von Schutzgeldern verpflichtet waren.
Blick auf Schotten – M.Merian, Topographia Hassiae, um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
1849 gründete sich eine strenggläubige Gemeinde - „Neue Mosaische Gemeinde Schotten“ genannt; ein Jahr zuvor war der alte Gemeindeverband aufgelöst worden. Über diese recht ungewöhnliche Verfahrensweise ist in einem Artikel der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 3.Januar 1895 zu lesen:
Anfang der 1860er Jahre erbaute die Gemeinde ihre Synagoge in der Hauptstraße, der heutigen Vogelsbergstraße. Über die Einweihung berichtete die Zeitschrift „Der Israelit“ in ihrer Ausgabe vom 7.Okt. 1863:
Schotten, 3. August (1863) Am 31. v. M. feierten wir ein Fest, welches auch in weiteren Kreisen Erwähnung verdient. An diesem Tage wurde nämlich die neue Synagoge eingeweiht, nachdem die israel. Gemeinde sich vierundsiebenzig Jahre in einem kleinen baufälligen Hause, das zugleich als Schullokal und Lehrerwohnung diente, beholfen hatte. Durch Aufnahme eines Capitals von der Gemeinde, durch aufopfernde Mildthätigkeit einzelner Gemeindeglieder, sowie durch reges Interesse einzelner derselben für den speciellen Theil des Baues, wurde das einfache, jedoch schmucke Gebäude geschaffen. Doch legt es auch Zeugniß ab für die Humanität unserer Tage, denn nicht nur dass viele der christlichen Bewohner der Stadt und Umgegend bei Beschaffung des Baumaterials tätig mitwirkten, so gab auch die hiesige Stadtgemeinde einen namhaften Beitrag zum Baue. ... Und wie schon beim Baue der Geist der Liebe gewaltet, so sollte er nicht minder sich zeigen bei der Einweihungsfeier, welche an gedachtem Tage um 3 Uhr Nachmittags stattfand. Die Stadt prangte in festlichem Flaggenschmucke. An dem provisorischen Betlocale der israel. Gemeinde versammelten sich die an der Feier Theilnehmenden: die Glieder der hiesigen israel. Gemeinde und eine große Anzahl ihrer theils aus der Ferne herbeigeeilten Glaubensgenossen, die Staats- und Communalbehörde hiesiger Stadt, die Geistlichen und Lehrer etc. Von hier bewegte sich der Zug, in seiner Mitte die Gesetzesrollen, getragen von den Ältesten der Gemeinden, denen der Provinzialrabbiner voranging, unter dem Klange des Musikchors des hiesigen Musikvereins, durch die festlich geschmückte Stadt zur neuen Synagoge. ...
Blick auf den Thoraschrein (hist. Aufn., um 1920)
Die Räume der Religionsschule befanden sich im Nachbargebäude. Bis 1894 gab es in Schotten eine jüdische Elementarschule, die aber nicht von allen jüdischen Kindern besucht und bald wegen Schülermangels aufgegeben wurde.
Die Besetzung der Lehrerstelle war besonders in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts einem häufigen Wechsel unterworden, wie Stellenanzeigen aus den verschiedenen Jahren verdeutlichen.
Stellenanzeigen aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 24. Sept. 1867 und vom 3.März 1874
aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 24.Juli 1877 und aus "Der Israelit" vom 23.Mai 1882 u. vom 21.Jan. 1889
Seit Ende des 17./Anfang des 18.Jahrhunderts bestand in Ortsnähe, „An der Warte“, ein jüdischer Friedhof; seine Anlage und die gefertigten Grabsteine legen heute noch Zeugnis ab vom Wohlstand der Familien der Verstorbenen.
Die Gemeinde Schotten unterstellte sich erst zu Beginn des 20.Jahrhunderts dem orthodoxen Provinzialrabbinat Gießen.
Juden in Schotten:
--- um 1585 ......................... 6 jüdische Familien,
--- um 1770 ......................... 8 " " ,
--- um 1830 ......................... 127 Juden,
--- 1861 ............................ 110 " (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1871 ............................ 119 “ ,
--- 1880 ............................ 153 " (ca. 8% d. Bevölk.),
--- 1895 ............................ 125 " (ca. 6% d. Bevölk.),
--- um 1905 ......................... 113 “ ,
--- 1925 ............................ 78 “ ,
--- 1933 ............................ 76 “ (in 16 Familien),
--- 1935 ............................ 54 " ,
--- 1936 ............................ 49 “ ,
--- 1938 (Sept.) .................... 31 “ ,
--- 1942 (Okt.) ..................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 283
und H.Enders/H.Hysky-Dambmann, Die Geschichte der Juden in der Stadt Schotten
Fast alle jüdischen Familien in Schotten verfügten zu Beginn des 20.Jahrhunderts über Grundbesitz und lebten in recht wohlhabenden Verhältnissen; sie arbeiteten als Fabrikanten, Einzel- und Viehhändler; wenige waren Angehörige freier Berufe. Jüdische Bewohner waren in das kleinstädtische Leben eingebunden; so gehörten sie als Mitglieder verschiedenen Schottener Vereinen an.
Annoncen jüdischer Gewerbetreibender (1891 und 1929):
Zu Beginn der NS-Zeit lebten noch etwa 15 jüdische Familien am Ort, der damals als Hochburg der NSDAP galt. Im Juni 1934 fand in Schotten der erste Pogrom statt: SA-Angehörige nahmen jüdische Männer vorläufig fest und malträtierten sie. Während der folgenden fünf Jahre kehrten mehr als die Hälfte der jüdischen Einwohner ihrem Wohnort Schotten den Rücken, da ihnen die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen worden war.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurde die Inneneinrichtung des Synagogengebäudes und des benachbarten Schulhauses demoliert, die Kultgegenstände zerstört; von einer Brandlegung wurde wegen der angrenzenden Fachwerkhäuser Abstand genommen. Die Täter waren Angehörige eines auswärtigen SS-Trupps, der auch jüdische Wohnungen und Eigentum zerstörte. Das Synagogengebäude wurde nach Kriegsende an einen Privatmann verkauft, der dort ein Geschäft mit Wohnungen einrichtete. Die israelitische Gemeinde löste sich nun vollständig auf. Im September 1942 wurden die letzten zwölf jüdischen Bewohner Schottens „umgesiedelt“; ein Teil von ihnen wurde nach Theresienstadt, der andere Teil in die Vernichtungslager im besetzten Polen deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem wurden 51 gebürtige bzw. länger in Schotten ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/schotten_synagoge.htm).
An dem heute als Wohnhaus genutzten ehemaligen jüdischen Bethaus weist eine Gedenktafel auf dessen einstige Nutzung hin.
Gedenktafel (Aufn. W. Weber, 2004)
Der jüdische Friedhof in Schotten an der Julie-Herold-Straße ist heute einer der historisch bedeutendsten im Vogelsbergkreis.
Friedhofseingang (Aufn. J. Hahn, 2008)
2014 wurde mit der Verlegung sog. „Stolpersteine“ im Schottener Stadtgebiet begonnen; nach zwei Jahren wurden weitere Steine in die Gehwegpflasterung eingelassen, so dass deren Zahl damals auf 27 angewachsen war. Nach mehreren Verlegeaktionen - (vermutlich) letztmalig im Jahre 2024 - wurde nun die Aktion seitens der Kommune als beendet erklärt. Inzwischen findet man in den Gehwegen der Großgemeinde nun insgesamt ca. 95 in die Gehwegpflasterung eingelassene messingfarbene kleine Gedenkquader (Stand 2024).
Samuel Schotten stammte höchstwahrscheinlich aus dem hessischen Schotten und war seit 1685 Rabbiner des Lehrhauses „Klause“ in Frankfurt/M.; gleichzeitig fungierte er als Landesrabbiner in Darmstadt. 1703/04 übte er in Frankfurt auch das Amt des Oberrabbiners aus. Samuel Schotten galt als einer der führenden Talmud-Gelehrten seiner Zeit; so hatte er u.a. Kommentare zu mehreren Traktaten des Talmuds geschrieben; dabei befleißigte er sich einer klaren und verständlichen Sprache. Bekannt wurde Samuel Schotten durch eine von ihm verfasste Verordnung, wonach die Gemeindeangehörigen auf aufwändige Kleidung und üppige Feste verzichten sollten. Er starb 1719. Einige seiner Nachkommen gingen später nach Amsterdam.
Im nahen Dörfchen Einartshausen, heute ein Ortsteil von Schotten, existierte auch eine kleine jüdische Gemeinde, die aber zu keiner Zeit kaum mehr als zwölf Familien umfasste. Die ersten Juden müssen sich um 1700 hier angesiedelt haben; die Grundherrschaft Solms-Rödelheim erlaubte Juden, gegen geringe Schutzgelder im Dorfe zu wohnen; ihren Lebensunterhalt verdienten sie im Kleinhandel in der Vogelsberg-Region. Ab etwa 1750/1760 soll es in Einartshausen auch eine Synagoge gegeben haben; der hiesige, östlich des Dorfes liegende jüdische Friedhof dürfte noch 50 Jahre älter sein. Noch Anfang der 1930er Jahre lebten einige jüdische Familien im Dorf.
vgl. Einartshausen (Hessen)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 152/153 (Einartshausen) und Bd. 2, S. 283 – 285 (Schotten)
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder – Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 185
H.Enders/H.Hysky-Dambmann, Die Geschichte der Juden in der Stadt Schotten, in: Schotten und seine Stadtteile im Wandel der Zeiten, Hrg. Magistrat der Stadt Schotten, o.J., S. 137 ff.
A. Wiesemüller/M. Krauss, Jüdische Friedhöfe im Vogelsbergkreis, in: Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Lauterbach 1994, S. 84/85
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II - Regierungsbezirke Gießen und Kassel, Hrg. Studienkreis Deutscher Widerstand, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 201 f.
Thea Altaras, Das jüdische Rituelle Tauchbad und Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Königstein i. Ts. 2007 (Neubearbeitung)
Schotten mit Rainrod, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Einartshausen, in: alemannia-judaica.de
N.N. (Red.), Schotten. 16 durch Gewalt beendete Leben, in: „Kreisanzeiger – Zeitungsgruppe Zentralhessen“ vom 16.8.2014
Schotten: „Kaum noch Zeichen jüdischen Lebens“, in: „Kreis-Anzeiger - Zeitungsgruppe Zentralhessen“ vom 11.3.2016
Hanno Müller/Monica Kingreen/Frank Eckhardt (Bearb.), Juden in Schotten 1629 – 1945 und Einartshausen 1800 – 1942, hrg. von der Ernst-Ludwig Chambré Stiftung in Lich, Neustadt/Aisch 2016 (+ Nachträge von 2022)
N.N. (Red.), Schotten. Weitere 15 Stolpersteine, in: „Lauterbacher Anzeiger“ vom 14.7.2017
sw (Red.), Das Gedenken wach halten: 35 Stolpersteine werden in drei Orten verlegt, in: „Kreis-Anzeiger“ vom 29.10.2018
sw (Red.), Stolpersteine in Schotten zur Mahnung: „Nie wieder!“, in: „Kreis-Anzeiger“ vom 8.11.2018
sw (Red.), Zum Gedenken an die Opfer: Weitere 15 Stolpersteine werden in Schotten verlegt, in: „Kreis-Anzeiger“ vom 15.6.2019
sw (Red.), Das Schicksal von 73 Menschen in der Großgemeinde Schotten, in: „Kreis-Anzeiger“ vom 24.6.2019
Auflistung der in Schotten, Einartshausen und Rainrod verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Schotten
N.N. (Red.), Initiativgruppe „Stolpersteine“ plant Buch, in: „Kreis-Anzeiger“ vom 14.8.2020
Initiative Stolpersteine (Hrg.), Stolpersteine in Schotten, Einartshausen und Rainrod - Dokumentation, Schotten 2022
Auflistung der in Schotten verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Schotten
sw (Red.), Die Erinnerung wachhalten: Letzte Stolperstein-Verlegung in Schotten, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 23.2.2024