Segnitz (Unterfranken/Bayern)
Das von derzeit ca. 800 Menschen bewohnte Segnitz/Main gehört als eigenständige Kommune heute zur Verwaltungsgemeinschaft Marktbreit im unterfränkischen Landkreis Kitzingen – ca. zehn Kilometer mainabwärts von Kitzingen gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Kitzingen', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Im Dorfe Segnitz existierte von Anfang des 18. bis Ende des 19.Jahrhunderts eine jüdische Kultusgemeinde; erste Hinweise auf jüdisches Leben finden sich bereits in einem Geleitbrief des Ansbacher Markgrafen aus dem Jahre 1598. Gesicherte Belege für in Segnitz lebende Juden geben Berichte des Pfarrers aus dem beginnenden 18.Jahrhundert; die hiesigen Familien standen zum größeren Teil unter dem Schutz der Zobelschen Freiherren von Giebelstadt, zum kleineren Teil unter Ansbacher bzw. preußischer Schutzherrschaft. Nach den „Juden-Matrikel“ (von 1817) waren für Segnitz 13 jüdische Familien zugelassen; mit ca. 80 Personen machte der israelitische Bevölkerungsanteil zeitweise ein Achtel der Dorfbevölkerung aus; ihr Wohngebiet konzentrierte sich anfänglich zumeist in der Linsengasse. Als gemeindliche Einrichtungen bestanden dort eine Synagoge und eine Mikwe im Keller des Gebäudes, die vom Grundwasser des Main gespeist wurde.
In einer Beschreibung der Synagoge und Mikwe ('Tauche') von 1845 heißt es: „ ... Das Synagogengebäude hat an der Gassenfronte 2 Hausthüren, wovon die eine zur Wohnung des israelitischen Lehrers Brüßel, die andere zur Synagoge und zur Frauentauche führt. Von der letzten Hausthüre bis zur Tauch befindet sich ein kleiner Vorplatz, von welchem aus eine Treppe in den oberen Stock des Hauses resp. zur Synagoge führt. Von der Thüre zur Tauche … bis zum Wassergrunde derselben hinab führt eine enge … Steintreppe – 18 Stufen enthaltend. Zuunterst dieser unterirdischen Tauche befindet sich ein kleines finsteres Gewölbe … Auf dem 6ten abwärts führenden Treppenfuß ist ein eingemauerter Wasserkessel … mit einem Kamin angebracht, welcher die Bestimmung hat, daß darin Wasser heiß gemacht werde, um damit das in der Tauche befindliche Wasser zu erwärmen ...“
Ihre Verstorbenen begrub die jüdische Gemeinde vornehmlich auf dem Friedhof in Rödelsee, der etwa 20 Kilometer von Segnitz entfernt war.
Seit Mitte der 1840er Jahre bestand in Segnitz das von dem jüdischen Lehrer Julius Brüssel gegründete „Brüssel’sche Handels- und Erziehungsinstitut”, das weit über die Region bekannt war und von zahlreichen jüdischen Internatsschülern besucht wurde. Das Institut wurde nach dem Tode Julius Brüssels von dessem Schwiegersohn Dr. Simon Levi Eichenberg geführt; ihm folgte 1875 Samuel Spier nach. Um 1880 wurde diese Schule geschlossen.
Anzeigen in der Zeitschrift "Der Israelit“ vom April 1863 und in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom Oktober 1877
Julius Brüssel wurde 1801 in Hollstadt (nahe Bad Neustadt/Saale) als Sohn des Metzgers Moses Brüssel (Bressel) geboren. Seit 1830 war er Religionslehrer und Vorsänger in Segnitz; fünf Jahre später besaß er die Fähigkeit für das Lehramt an Elementarschulen. 1848 gründete Julius Brüssel eine "Privat-Erziehungs-und Unterrichtsanstalt für jüdische, der Werktagsschule entlassene Söhne, welche sich dem Handelsstande widmen wollen, incl. Pensionath". 1853 waren 32 „Zöglinge“ im Handelsinstitut, davon die meisten im Internat untergebracht. Julius Brüssel starb bereits 1855. Nach seinem Tode wurde das Institut weitergeführt - zunächst vom Sprachenlehrer Prof. Ernst Emil Uttner, der allerdings bereits 1859 verstarb. Dessen Nachfolge als Direktor trat der aus Adelebsen (bei Göttingen) stammende Dr. Simon Levi Eichenberg an. Unter Eichenberg erlebte die Handels- und Erziehungsanstalt ihre Blütezeit mit mehr als 150 „Zöglingen“. Aufgrund der Wirtschaftskrise in Folge des 1870/1871er Krieges zeichnete sich alsbald ein Niedergang ab, der die Schulleitung veranlasste, 1881 Schule und Internat zu schließen.
In dem unten abgebildeten Gebäude war die „Brüssel'sche Handelslehr- und Erziehungsanstalt“ untergebracht.
Ehem. Gebäude der "Brüssel'schen Handelslehr- u. Erziehungsanstalt" (Aufn. um 1980 ?)
Juden in Segnitz:
--- um 1730 ......................... 5 jüdische Haushalte,
--- um 1770 ......................... 17 jüdische Familien,* * andere Angabe: 9 Fam.
--- um 1795 ......................... 66 Juden,
--- 1813 ............................ 70 “ (in 13 Haushalten),
--- 1824 ............................ 86 “ ,
--- 1830 ............................ 67 “ ,
--- um 1850 ..................... ca. 80 “ (in 18 Familien),
--- um 1870 ..................... ca. 25 “ ,
--- 1897 ............................ eine jüdische Familie.
Angaben aus: Norbert Bischoff, diverse Zeitungsartikel ‘Geschichten aus der Geschichte von Segnitz'
und W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, S. 1221
Anm: Die demografischen Angaben differieren z.T. in den verschiedenen Publikationen.
Die Juden von Segnitz wohnten über das ganze Dorf verteilt; trotzdem bezeichnete man den südwestlichen Dorfteil als „Judenviertel“, vermutlich deshalb, weil hier die Synagoge und das „Brüssel’sche Institut“ sich befanden. Die jüdischen Familien in Segnitz verdienten ihren Lebensunterhalt überwiegend im Weinhandel; doch gab es auch jüdische Metzger und einen jüdischen Unternehmer einer Farbenfabrik.
Das Ende der jüdischen Gemeinde zeichnete sich nach 1860 ab, als im Gefolge der bürgerlichen Gleichstellung immer mehr Familien wegen besserer wirtschaftlicher Perspektiven in größere Orte, vor allem nach Marktbreit, abwanderten. 1865 setzte sich die Kultusgemeinde gerade noch aus 30 Angehörigen zusammen. Anfang der 1880er Jahre kam - mit der Schließung des „Brüssel’schen Instituts“ - auch bald das Ende der bis dahin eigenständigen Kultusgemeinde.
Aus der Segnitzer Pfarrchronik von 1913:
„ ... die Judenfamilien, deren es vor 40 Jahren noch elf gab mit 36 Seelen, sind seit 1882 sämtliche vom Dorf weggezogen, in welchem Jahr auch das Brüsselsche Handelsinstitut einging, das der Gemeinde in weiten Teilen der Welt Ansehen und Bedeutung verschaffte, die Segnitz seitdem nicht wieder erreichen sollte. “
Das einstige Synagogengebäude wurde anschließend von der Kommune genutzt: Ab 1920 diente das Haus als Wohnung für den Gemeindediener und weiteren Familien als Sozialunterkunft. Später gelangte es in Privatbesitz und wurde Ende der 1970er Jahre zu Wohnzwecken aus- und umgebaut. Einzig die Spur einer Mesusa an einem der Eingänge erinnert noch an die einstige religiöse Nutzung.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. bjs 2011, aus: commons.wikimedia.org, CCO)
Eine am Gebäude angebrachte Tafel informiert wie folgt:
„Segnitz - Main. Synagoge. Von 1786 bis 1882 Versammlungsort der einst zahlreichen jüdischen Kultusgemeinde. Spuren der Mesusa am rechten Türpfosten erinnern an den einst religiösen Charakter des Gebäudes. Die Mikwe, das rituelle Tauchbad im Keller, wurde zugeschüttet. In Segnitz bestand bis 1882 eine eigenständige jüdische Kultusgemeinde. Nach den gesetzlichen Bestimmungen waren im Ort 13 jüdische Familien zugelassen, die überwiegend vom Weinhandel lebten. Es gab aber auch Metzger, einen Likörhersteller, einen Optiker, einen Posamentiermeister (Besatzartikelhersteller) und eine Farbenfabrik. Als man den Juden ab 1860 allmählich größere Freiheiten einräumte, wählten die meisten Geschäftsleute günstigere Standorte und verließen Segnitz. Mit dem Ende der Brüssel'schen Handelsschule im Jahre 1881 endete auch die Geschichte der Segnitzer Kultusgemeinde. 1897 wurde die Synagoge von Samuel Spier, dem ehemaligen Direktor des Brüssel'schen Instituts und Verwalters des jüdischen Gemeindebesitzes, verkauft."
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind vier aus Segnitz stammende stammende jüdische Bürger Opfer der "Endlösung" geworden (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/segnitz_synagoge.htm).
Relikte, die noch heute an die ehemalige jüdische Gemeinde erinnern, sind drei an den Ortsausgängen von Segnitz stehende Steinsäulen (sog. "Judenschranken"); diese markierten einst die Grenze der Sabbat-Spaziergänge bzw. symbolhaft den Eruv für die gläubigen Juden (Aufn. Tilman, 2013, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0); neben einer originalen Säule sind heute zwei steinerne Kopien an den ehemaligen Standorten positioniert.
Vier sog. „Stolpersteine" erinnern seit 2004 bzw. 2013 an die vier gebürtigen Segnitzer Juden, die Opfer der NS-Verfolgung wurden.
Aufn. Chr. Michelides, 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Die Kommune Segnitz brachte jüngst am zentralen Infopunkt am Rathaus eine Tafel an, die an die einst zahlreichen jüdischen Gemeinden erinnert, die sich zwar bereits gegen Ende des 19.Jahrhunderts aufgelöst hatten, aber in Rödelsee Grabstellen hinterlassen haben (2024).
vgl. dazu: Marktbreit (Unterfranken/Bayern)
Weitere Informationen:
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 122
Norbert Bischoff, Die Segnitzer Judenmatrikel, aus: Geschichten aus der Geschichte von Segnitz (5), Maschinenmanuskript. O.J.
Norbert Bischoff, diverse Zeitungsartikel der Serie ‘Geschichten aus der Geschichte von Segnitz, in: ‘Main-Post Kitzingen’, ab 1998 (Anmerkung: enthält viele detaillierte Angaben zu Biographien der jüdischen Familien)
Segnitz, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 223/224
Norbert Bischoff (Red.), Segnitz. Stolpersteine gesetzt, in: "Main-Post" vom 28.4.2013
N.N. (Red.), Segnitz. Stolpersteine gesetzt, in: „Main-Post“ vom 11.11.2015
N.N. (Red.), Brüsselsche Handelsschule hatte Weltruf, in: „Main-Post“ vom 10.12.2016
Norbert Bischoff (Red.), Ende der jüdischen Gemeinde vor 120 Jahren, in: franken.de vom 24.4.2017
Regina Sterk (Red.), Segnitz will helfen, den jüdischen Friedhof zu erhalten, in: „Main-Post“ vom 11.12.2018 (betr: Beteiligung am Netzwerk ‚Jüdischer Friedhof Rödelsee‘)
Auflistung der in Segnitz verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter. wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Segnitz
Hans Schlumberger/Hans-Christof Haas (Bearb.), Marktbreit mit Gnodstadt, Marktsteft, Obernbreit und Segnitz in: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 1158 - 1240