Singen/Hohentwiel (Baden-Württemberg)
Singen (Hohentwiel) ist eine Stadt mit derzeit ca. 50.000 Einwohnern im Süden Baden-Württembergs - etwa 30 Kilometer nordwestlich von Konstanz gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: europe1900.eu und Kartenskizze 'Landkreis Konstanz', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Singen am Fuße des Hohentwiel – hist. Postkarte, um 1910 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Der älteste urkundliche Beleg für die Existenz eines Juden in Singen stammt aus dem Jahre 1670. In den folgenden Jahrhunderten haben vermutlich keine jüdischen Familien hier gelebt; erst gegen Ende des 19.Jahrhunderts zogen erneut Juden in die Stadt. Grund für die Zuzüge war das rasante Wirtschaftswachstum, das jüdische Geschäftsleute anzog und - besonders nach 1900 - zu zahlreichen Unternehmensgründungen führte. Die meisten Einzelhandelsgeschäfte lagen in der Scheffelstraße.
Werbeanzeigen jüdischer Geschäftsleute:
Im Verlaufe der 1920er Jahre wuchs die kleine jüdische Gemeinschaft in Singen - sie gehörte der Kultusgemeinde Konstanz an - in schnellem Tempo. So zog man die Gründung einer autonomen Gemeinde ernsthaft in Erwägung und dachte auch an den Bau einer Synagoge; doch blieb es - angesichts der politischen Entwicklung in Deutschland - bei einem Betsaal im Hause des Möbelgeschäfts von Salomon Schärf (Poststraße, heutige Freiheitstraße).
Betsaal in Singen (Aufn. von 1931)
Juden in Singen:
--- 1900 ......................... 3 Juden,
--- 1925 ......................... 23 “ ,
--- 1933 ......................... 44 “ ,* * andere Angabe: 60 Pers.
--- 1940 ......................... keine.
Angaben aus: F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden, S. 167
Auch in Singen wurde am 1.April 1933 der Boykott gegen die jüdischen Geschäfte durchgeführt; zu gewalttätigen Übergriffen kam es dabei aber nicht. Dass in Singen die antijüdische Hetze auf fruchtbaren Boden fiel und von einem Teil der Bevölkerung angenommen wurde, zeigten in den Folgejahren Fasnachtsgruppen; diese verunglimpften und beleidigten auf ihren Umzügen die jüdischen Bürger. Die antijüdische Hetze erreichte 1935 einen neuen Höhepunkt, wie der folgende Artikel in der „Bodensee-Rundschau” vom 26.August belegt:
Ja, Ihr Bauernfrauen aus der Umgebung, wißt Ihr denn nicht, daß der Jude, dieser ehemals herumziehende Wüstensohn, der Todfeind des seßhaften und staatswichtigsten Standes, des Bauernstandes ist ? Daß der Staat Adolf Hitlers, ... , in erster Linie auf einem gesunden Bauernstand basiert und daß die internationalen Juden mit allen Mitteln gegen unseren Staat hetzen, um ihn für den russischen Bolschewismus reif zu machen. Habt Ihr das noch nicht gemerkt ? Und Ihr Arbeiter, wißt Ihr denn nicht, daß Ihr mit jedem Kauf, den Ihr im Judenladen tätigt, Ihr den Arbeitslohn eines Arbeitskameraden aus einer anderen Branche ... herunterdrückt ? Wenn aber arische Geschäftsleute selbst in ein jüdisches Warenhaus gehen ..., dann allerdings möchte uns der Verstand stillstehen ...
Die allermeisten Singener Juden gaben um die Mitte der 1930er Jahre ihre Geschäfte auf und verließen die Stadt; etwa 30 Personen emigrierten, die restlichen verzogen in andere deutsche Städte.
Während der „Reichskristallnacht“ kam es in Singen zu keinen gewalttätigen Ausschreitungen, weil es zu diesem Zeitpunkt von Juden geführte Geschäfte bereits nicht mehr gab.
Festwagen beim Faschingsumzug in Singen 1939 (Stadtarchiv Singen)
Ende 1940 lebten in Singen keine Bewohner mosaischen Glaubens mehr.
Auf dem Weg der Deportation nach Gurs wurden am 22. Oktober 1940 Gailinger Juden in der „Waldeck-Turnhalle“ arrestiert; von hier wurden sie auf offenen Lastwagen „zur Volksbelustigung der Singener Stadtbevölkerung“ zum Bahnhof gefahren und mussten den Deportationszug besteigen.
Von den gebürtigen bzw. längere Zeit in Singen lebenden jüdischen Bürgern sind nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." mindestens zwölf Personen Opfer der Shoa geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/singen_synagoge.htm).
Singen beteiligt sich auf Initiative der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen“ seit 2010 am sog. „Stolperstein“-Projekt. Inzwischen findet man in den Gehwegen im Stadtgebiet ca. 100 solcher Gedenkquader (Stand 2024), die an Personen erinnern, die ihrer politischen Überzeugung, ihres Glaubens wegen oder aufgrund von Behinderung verhaftet, verschleppt und in vielen Fällen ermordet wurden.
"Stolpersteine" für ermordete jüdische Einwohner:
"Stolpersteine" für Juden, denen eine Emigration gelang:
alle Aufn. ANKAWÜ, 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0
Anmerkung: 2024 wurden in Singen erstmals zwei Stolpersteine für Jenische verlegt. Die Minderheit der Jenischen - einer Volksgruppe fahrender Handwerker und Händler - lebte seit Jahrhunderten in Deutschland. Bis heute wird ihre Sprache und Kultur meist nur mündlich innerhalb der Familien tradiert.
Während des Zweiten Weltkrieges spielte Singen als „Durchgangsstation“ für in die Schweiz flüchtende Juden eine gewisse Rolle. Daran erinnert seit 1993 am Singener Bahnhof eine Informationstafel des "Geschichtspfades Singen"; dabei wird auch an das Schicksal des jüdischen Ehepaares Pollok aus Berlin gedacht, das im Nov. 1942 auf dem Bahnhof Selbstmord beging.
Auf dem Singener Waldfriedhof ist auch der katholischen Priester August Ruf begraben, der zusammen mit dem Vikar Weiler Juden bei der Flucht über die nahe Grenze in die Schweiz geholfen hatte.
In Bohlingen, einem heutigen Stadtteil von Singen, erstellten Teilnehmer einer Evangelischen Jugendgruppe einen Memorialstein, bei dessen Gestaltung bewusst auf Symbole/Reliefs verzichtet wurde. Er soll an die Jüdin Johanna Schwarz erinnern, deren Spuren sich in Gurs verlieren. Vor ihrem einstigen Wohnhaus wurde ein sog. „Stolperstein“ verlegt.
Memorialstein für Bohlingen in Neckarzimmern (aus: alemannia.judaica.de)
In der ca. vier Kilometer von Singen entfernten Ortschaft Hilzingen erinnert ein Memorialstein an das im Oktober 1940 deportierte jüdische Ehepaar Friedmann; Schüler/innen der Hauptschule haben diesen Stein im Rahmen des landesweiten Mahnmal-Projektes geschaffen (Aufn. aus: alemannia-judaica.de).
In Stockach – einer Kleinstadt im Landkreis Konstanz, nördöstlich von Singen gelegen – erinnern mehrere sog. „Stolpersteine“ an Angehörige jüdischer Familien, denen es zumeist gelang, durch eine Emigration ins sichere außereuropäische Ausland ihr Leben zu retten.
Aufn. ANKAWUE, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
In Engen – ca. 15 Kilometer nordwestlich von Singen – haben im Laufe der Jahrhunderte nur sehr wenige jüdische Familien gelebt. Bis in die frühe Neuzeit soll es im Ort eine Synagoge gegeben haben; nach der Ausweisung der jüdischen Bewohner soll das Gebäude noch längere Zeit als Scheune benutzt worden sein. Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts hatten sich dann wieder einzelne Juden im Ort niedergelassen; deren Zahl war aber so gering, dass sich keine Gemeinde bilden konnte.
Nach Entscheidung des Gemeinderates sollen künftig in Engen und seinen Ortsteilen insgesamt 15 sog. „Stolpersteine“ verlegt werden, die an Opfer des NS-Regimes erinnern; die ersten sieben messingfarbenen Gedenkquader wurden jüngst an sechs Standorten in die Gehwegpflasterung eingefügt (Stand 2023).
verlegt Breite Straße (Aufn. aus: wikipedia.org, CCO)
Weitere Informationen:
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag Stuttgart 1968, S. 167
Manfred Bosch, „Der Abschied von Singen fiel uns nicht schwer...“ Die Hohentwielstadt als letzte deutsche Station auf der Flucht verfolgter Juden, in: "Singener Jahrbuch", (1983), S. 40 - 43
Herbert Berner/Reinhard Brosig (Hrg.), Singener Stadtgeschichte. 3 Bände, Jan Thorbecke-Verlag, Sigmaringen/Konstanz 1987/1994
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 312
Hartmut Rathke, Die Juden in Stockach, in: „Der Hegau“, No. 34/1989, S. 279 - 282
Reinhild Kappes, "... und in Singen gab es keine Juden ?" - Eine Dokumentation, Hrg. Kulturamt der Stadt Singen, Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1991
Alfred G.Frei/Jens Runge (Hrg.), Erinnern - Bedenken - Lernen. Das Schicksal von Juden, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zwischen Hochrhein und Bodensee in den Jahren 1933 - 1945, Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen, 2.Aufl., 1993, S. 47 ff.
Reinhild Kappes, Jüdisches Leben in Singen, in: Herbert Berner/Reinhard Brosig (Hrg.), Singen – die junge Stadt, Singener Stadtgeschichte Bd. 3 ("Beiträge zur Singener Geschichte", Bd. 16), Sigmaringen 1994, S. 30/31
Hartmut Rathke, Stockach und seine Juden, in: F.Meyer (Hrg.), … Streifzüge durch die Kulturlandschaft westlicher Bodensee – Geschichte Stockach, Konstanz 1995, S. 145 - 158
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 440
Singen, in: alemannia-judaica.de
Stolpersteine für Singen, in: stolpersteine-singen.de (mit biografischen Angaben der betroffenen Personen/Familien)
Auflistung der in Singen verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Stolpersteine_in_Singen_(Hohentwiel)
Th. Herrmann/L.Müller/L.Wildemann/M.Casper (Bearb.), Jüdisches Leben am westlichen Bodensee am Beispiel von Bolingen, online abrufbar unter: docplayer.org/45762989- (von 2011)
Oliver Fiedler Red.), Sieben neue Stolpersteine in Singen, in: „Wochenblatt“ vom 14.2.2018
Auflistung der in Stockach verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Stockach
Helen Ziegler (Red.), Stolpern über NS-Geschichte: Vier neue Stolpersteine in Singen, in: „Südkurier“ vom 5.7.2019
Helene Kerle (Red.), Stolpersteine sollen in Engen künftig an 15 NS-Opfer erinnern, in: „Südkurier“ vom 4.2.2022
Helene Kerle (Red.), 15 Stolpersteine in Engen: Hinter jedem Opfer steckt eine tragische Geschichte, in: „Südkurier“ vom 9.7.2022
Ute Mucha (Red.), Engen. Stolpersteine gegen das Vergessen, in: „Wochenblatt“ vom 19.3.2023
Tobias Lange (Red.), Gegen das Vergessen – Zehn weitere Stolpersteine erinnern bald an die Opfer der Nazis, in: „Wochenblatt“ vom 17.5.2024
Thorben Landwald (Red.), Erste Stolpersteine für Jenische in Singen, in: SWR-Aktuell vom 14.6.2024