Stadtlengsfeld (Thüringen)

Bildergebnis für wartburgkreis karte ortsdienst   Kindergarten Stadtlengsfeld: 200 000 Euro für Spielplatz-Sanierung - Bad  Salzungen - inSüdthüringen Stadtlengsfeld ist eine derzeit ca. 1.900 Einwohner zählende Ortschaft im Wartburgkreis, die seit 2013 Verwaltungsgemeinschaft Dermbach (Rhön) angehört bzw. 2019 nach Dermbach eingemeindet wurde – ca. 35 Kilometer südwestlich von Eisenach gelegen (Kartenskizze 'Wartburgkreis' ohne Eintrag von Stadtlengsfeld/Dermbach, aus: ortsdienst.de/thueringen/wartburgkreis  und  Kartenskizze 'Ortsteile Dermbach', C. 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0).

 

Stadtlengsfeld – bis 1896 hieß der Ort Lengsfeld - war in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts das Zentrum jüdischer Kultur im Rhön/Werra-Gebiet und besaß zeitweise einen jüdischen Bevölkerungsanteil von etwa 30%.

Bereits zur Zeit der Marktgründung von Stadtlengsfeld 1359 sollen hier einzelne jüdische Familien gelebt haben. In den folgenden Jahrhunderten ist kaum etwas über jüdisches Leben am Ort bekannt; die Ortschronik vermeldet lediglich, dass die jüdischen Einwohner größtenteils unter dem Schutz der Grafen von Boyneburg standen und ihnen zur Zahlung von Schutzgeldern verpflichtet waren. Im Laufe des 16.Jahrhunderts waren nennenswerte Zuzüge jüdischer Familien nach Lengsfeld zu verzeichnen – vor allem nach 1555 aus der Grafschaft Henneberg, nachdem dort der „Judenschutz“ aufgekündet worden war.

Ende des 18./Anfang des 19.Jahrhunderts soll sich die Zahl der Juden noch beträchtlich erhöht haben: Um 1825 lebten 566 Juden in Stadtlengsfeld, was etwa einem Viertel der gesamten Dorfbevölkerung entsprach. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie zumeist im Kleinhandel und in der Hausiererei. Der ungehemmte Zuzug und die Neugründung jüdischer Familien führten aber zu Protesten der alteingesessenen Bevölkerung.

Als bedeutendstes Zentrum der Juden Südthüringens beherbergte Stadtlengsfeld für einige Jahrzehnte auch den Sitz des Landrabbinats im Großherzogtum Sachsen - Weimar - Eisenach, dem die Stadt seit 1816 angehörte. Bereits im 18.Jahrhundert hatte Lengsfeld einen Rabbiner besessen.

Einer der in Lengsfeld amtierenden Rabbiner war Dr. Mendel Heß, der als Herausgeber der Zeitschrift „Der Israelit“ verantwortlich zeichnete.

               http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20292/Stadtlengsfeld%20Israelit19Hg%2006121840.jpgDeckblatt der Ausgabe vom 6.Dez. 1840

Nach mehr als 40jähriger Amtstätigkeit in Lengsfeld bzw. Eisenach verstarb Dr. Mendel Heß im Jahre 1871. Seine Amtsnachfolger waren: Dr. Theodor Kroner, Dr. Moses Salzer und Dr. Josef Wiesen.

Die Lengsfelder Gemeinde verfügte über eine Synagoge an der Burgstraße (Amtsstraße), ein „düsteres, graues Gebäude“ mit einfacher Innenausstattung. Im Hof des mit einer Mauer eingefriedeten Synagogengrundstückes befand sich das rituelle Bad.

Religiöse Aufgaben der Gemeinde verrichtete ein angestellter Lehrer. Unter den Lehrern vor Gründung der „Bürgerschule“ ist Liebmann Adler zu nennen, der 1854 in die USA (nach Chicago) emigrierte und dort die Gemeinde „Ohel Jakob“ gründete und dieser bis zu seinem Tode vorstand.

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts besaß Stadtlengsfeld die größte jüdische Schule im Land; 1823 besuchten diese mehr als 180 Kinder. In dem seit 1840 genutzten neuen Schulgebäude - das alte hatte sich in der Ratsgasse befunden - wurde zehn Jahre später die erste jüdisch-christliche Simultanschule untergebracht, die sich „Vereinigte Bürgerschule“ nannte. Das Innovative an dieser schulischen Einrichtung war, dass diese in gemeinsamer Trägerschaft der christlichen und jüdischen Gemeinde konzipiert wurde; die Schuldeputierten und das Lehrerkollegium war paritätisch aus Christen und Juden zusammengesetzt. Auf Wunsch der christlichen und jüdischen Gemeinde waren 1850 die Konfessionsschulen des Ortes aufgelöst und in die Bürgerschule überführt worden.

          http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20360/Stadtlengsfeld%20AZJ%2012081850.jpg Kurznotiz vom 12.Aug. 1850

Unter den Lehrern vor Gründung der Bürgerschule ist Liebmann Adler zu nennen, der Mitte der 1850er Jahre in die USA auswanderte und in Chicago die Gemeinde „ohel jaakob“ gründete, die er bis zu seinem Tode führte.  

Der innerhalb des Stadtgebietes liegende jüdische Friedhof wurde vermutlich um 1730 angelegt und soll bis 1930 genutzt worden sein.

Wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Landrabbinat nach Eisenach verlegt, ehe es dann von 1920 bis 1933 wieder in Stadtlengsfeld seinen Sitz erhielt.

Juden in Lengsfeld bzw. Stadtlengsfeld:

         --- um 1730 ........................ ca.  25 jüdische Familien,

    --- um 1800 ........................ ca. 800 Juden,*        *Angabe fraglich

    --- 1816 ............................... 428   "  ,

    --- 1823 ............................... 566   “   (in ca. 140 Familien),

    --- 1861 ............................... 309   “  ,

    --- 1893 ............................... 114   “  ,

    --- 1913 ...............................  58   “  ,

    --- 1932 (Dez.) ........................  26   “  ,*    *andere Angabe: 57 Pers.

    --- 1935 ........................... ca.  30   “  ,

    --- 1941 ...............................  keine.

Angaben aus: Rolf Leimbach/Stefan Frühauf, Ein Rückblick auf jüdisches Leben in Stadtlengsfeld

Marktstraße mit Marktplatz, Postkarte um 1910 (aus: kvh-stadtlengsfeld.com)

 

Die jüdischen Familien bestritten ihren Lebensunterhalt vor allem als Handels- und Kaufleute. In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gab es am Ort einige bedeutendere Unternehmen, wie die Tuchfabrikation von Selig Rosenblatt, die Haarstrumpffabrik von Isaac Huhn und die Lohgerberei von S. Kappel.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20298/Stadtlengsfeld%20Israelit%2012061889.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20286/Stadtlengsfeld%20Israelit%2022111900.jpg Anzeigen jüdischer Gewerbetreibender (1889/1900)

Die lange Zeit größte jüdische Gemeinde in Sachsen-Weimar-Eisenach verlor in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts die meisten ihrer Angehörigen durch Abwanderung in die Städte; zahlreiche junge Leute emigrierten auch nach Übersee, vor allem in die USA.

Anfang der 1930er Jahre lebten nur noch wenige Juden in Stadtlengsfeld. Der reichsweit angeordnete Boykott jüdischer Geschäfte wurde am 1.4.1933 auch in Stadtlengsfeld durchgeführt.

Noch vor November 1938 löste sich die hiesige jüdische Kultusgemeinde auf. Das Synagogengebäude wurde im Zuge des Novemberpogroms von 1938 weitgehend verwüstet, aber nicht zerstört; der spätere Besitzer baute es zu einem Wohnhaus mit Werkstatt um. Über die Ereignisse im November 1938 liegt ein Augenzeugenbericht vor: „ ... In Stadtlengsfeld begann die Zerstörung der Synagoge am Abend des 10.November 1938. Nachdem der Befehl zur Zerstörung erteilt worden war, schlugen die dafür vorgesehenen Männer die Fenster ein. Durch Eintreten der Türen wurde sich gewaltsam Zutritt zum Inneren der Synagoge verschafft. Es dauerte auch nicht lange, da bot sich dem Beschauer ein grausiges Bild. Die Gebetbücher flogen auf die Straße. Es folgten zerbrochene Stühle und sonstige Einrichtungsgegenstände. Alles, was sich nicht zerschlagen ließ, fiel der Vernichtung anheim. Nachdem das Zerstörungswerk vollendet war, wurden die Eingänge mit Brettern vernagelt. Nicht nur die Synagoge, sondern auch auf dem jüdischen Friedhof wurde der Gewalttätigkeit Ausdruck verliehen. Die Grabstätten wurden verwüstet, die Grabsteine umgeworfen und teilweise auch zerschlagen.” (aus: Rolf Leimbach/Stefan Frühauf, Ein Rückblick auf jüdisches Leben in Stadtlengsfeld, S. 34/35)

                           Nach dem Pogrom: Reste der Inneneinrichtung (Aufn. Nov. 1938)

Mit dem Tode der Jüdin Ida Weil im September 1940 endete jüdisches Leben in Stadtlengsfeld.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind nachweislich 50 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort wohnhaft gewesene jüdische Bürger Stadtlengsfelds Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/stadtlengsfeld_synagoge.htm).

 

Etwa 600 Grabsteine auf dem hiesigen jüdischen Friedhof (an der Straße Roter Graben) zeugen heute noch von der einstigen Größe der israelitischen Gemeinde von Stadtlengsfeld; damit gehört dieser Friedhof zu den größten in Thüringen.

 http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20301/Stadtlengsfeld%20Friedhof%201101.jpg

Eingangsportal (Aufn. Ro, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) und das ausgedehnte Gräberfeld (Aufn. J. Hahn, 2011)

Neben dem ehemaligen Synagogengebäude - es dient heute Wohnzwecken - existiert auch heute noch das jüdische Schulhaus, das 1860 durch Schenkung in den Besitz der Stadt übergegangen war.

 

Aus der jüdischen Gemeinde Stadtlengsfelds gingen bedeutende Persönlichkeiten hervor, so z.B. Dankmar Adler, der 1844 als Sohn des Landrabbiners und Lehrers in Lengsfeld geboren wurde und später in den USA ein bekannter Architekt wurde.

Der Rabbiner und Historiker Hugo Chanoch Fuchs wurde 1878 in Stadtlengsfeld geboren. Nach Universitätsstudium und Besuch der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin erhielt er seine Ordination und übte seit 1907 bis 1938 das Rabbineramt in Chemnitz aus. Während dieser Jahre veröffentlichte er u.a. das „Lehrbuch zur jüdischen Geschichte“. Nach der Pogromnacht wurde Fuchs verhaftet und ins KZ eingeliefert. 1939 konnte er nach Buenos Aires/Argentinien emigrieren; hier wirkte er als Rabbiner einer deutsch-jüdischen Flüchtlingsgemeinde. Fuchs verstarb 1949 im argentinischen Cordoba. In Chemnitz ist heute eine Straße nach Hugo Fuchs benannt.

Ein weiteres Gemeindemitglied, Julius Löwenheim (geb. in Gehaus), wirkte an der „Vereinigten Bürgerschule“ und machte sich durch pädagogische Schriften einen Namen; zudem wirkte er um 1890/1900 als Regionalpolitiker.

[vgl. Gehaus (Thüringen)]

 

 

In Tiefenort – ca. zehn Kilometer nordöstlich von Stadtlengsfeld - lebten jüdische Familie möglicherweise bereits im ausgehenden Mittelalter. Erst nach 1850 ist eine erneute Ansässigkeit von Juden im Ort erfolgt. Die wenigen Familien suchten Gottesdienste in Stadtlengsfeld oder in Barchfeld auf; zeitweise soll es auch eine Betstube in einem Privathause am Ort gegeben haben. Verstorbene fanden ihre letzte Ruhe auf dem jüdischen Friedhof in Stadtlengsfeld.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20221/Tiefenort%20Israelit%2021031901.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20298/Tiefenort%20FrfIsrFambl%2023081912.jpg Kleinanzeigen jüdischer Gewerbetreibender von 1901 u. 1912

Anfang der 1930er Jahre lebten in Tiefenort ca. 30 – 35 jüdische Bewohner. 1941/1942 wurden die noch hier verbliebenen Menschen deportiert; zehn wurden nachweislich Opfer der Shoa

 

 

Auf dem alten Friedhof in Dermbach wurde jüngst der Gedenkstein, der 2018 hier aufgestellt worden war und an die ehemals hier lebenden jüdischen Familien erinnert, von „Unbekannt“ zerstört (2022).

 

 

 

Weitere Informationen:

Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 287/288

M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 616

Monika Kahl, Denkmale jüdischer Kultur in Thüringen, in: Kulturgeschichtliche Reihe, Band 2, Hrg. Thür. Landesamt für Denkmalpflege, Bad Homburg/Leipzig 1997, S. 136 f.

Rolf Leimbach, Der jüdische Friedhof in Stadtlengsfeld, in: "Baier Bote", No. 4, Ausgaben 18 - 21

Rolf Leimbach/Stefan Frühauf, Ein Rückblick auf jüdisches Leben in Stadtlengsfeld, einst Sitz des großherzoglichen Landesrabbinats, in: Hans Nothnagel (Hrg.), Juden in Südthüringen geschützt und gejagt, Band 5: Jüdische Gemeinden in der Vorderrhön, Verlag Buchhaus, Suhl 1999, S. 13 - 51

Ulrike Schramm-Häder, Jeder erfreuet sich der Gleichheit vor dem Gesetze, nur nicht der Jude - Die Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach (1823 - 1850), in: Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, Bd. 5, Verlag Urban & Fischer, München/Jena 2001, S. 25 f.

Gabriele Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen 1811 - 1871. Jüdische Schul- und Kulturreform unter staatlicher Regie, "Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen - Kleine Reihe", Band 9, Böhlau Verlag, Köln - Weimar - Wien 2003, S. 50/51 und S. 288 ff.

Spurensuche nach jüdischem Leben in Thüringen, Hrg. Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, Bad Berka 2004, S. 106/107

Israel Schwierz, Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation, hrg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Sömmerda 2007, S. 240 - 246

Rolf Leimbach, Die jüdische Schule in Stadtlengsfeld, in: "Heimat Thüringen", Band 17/2010, S. 42 – 46

Stefan Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit (1520-1650), in: "Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe", Bd.11/2004, S. 110/111

Stadtlengsfeld mit Möhra und Dorndorf, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zu Personen des Landrabbinats)

Jüdischer Friedhof Stadtlengsfeld, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Aufnahmen neueren Datums)

Tiefenort (Wartburgkreis), in: alemannia-judaica.de

Rolf Leimbach/Rolf Schlegel, Chronik der Stadt Stadtlengsfeld, books on demand, Norderstedt 2015

Juliane Irma Mihan (Red.), Heimat für Christen und Juden in Lengsfeld. Die Geschichte eines unkonventionellen Schulprojektes in der Mitte des 19.Jahrhunderts, in: "MEDAON - Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung", Ausg. 9/2015

Gerhild Elisabeth Birmann-Dähne, Stadtlengsfeld (Thüringen), in: Jüdische Friedhöfe in der Rhön. Haus des ewigen Lebens, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, S. 80 - 83

Beate Funk (Red.), Gedenkstein zerstört – Vandalen am alten Friedhof in Dermbach, in: inSüdthüringen.de vom 7.2.2022

Immanuel Voigt (Red.), Landesrabbiner Josef Wiesen von den Nazis umgebracht, in: „Thüringische Landeszeitung“ vom 12.8.2023