Völkersleier (Unterfranken/Bayern)

Die beiden Partnerregionen  Datei:Wartmannsroth in KG.svg Völkersleier ist mit seinen derzeit ca. 400 Bewohnern seit 1972 Teil der Kommune Wartmannsroth (Landkreis Bad Kissingen) - ca 25 Kilometer westlich der Kreisstadt bzw. 13 Kilometer nordwestlich von Hammelburg gelegen (Kartenskizze von Unterfranken, aus: bezirk-unterfranken.de und Kartenskizze 'Landkreis Bad Kissingen', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Nahezu jeder 4. Dorfbewohner gehörte während der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts dem jüdischen Glauben an.

Erstmalige Nennung von zwei in Völkersleier ansässigen ritterschaftlichen Schutzjuden kann für das Jahr 1591 nachgewiesen werden; in den Jahrzehnten danach sind weitere aktenkundig, die unter Thüngen'schen Schutz sich befanden.

Die jüdische Gemeinschaft in Völkersleier besaß seit den 1760er Jahren hinter den 'herrschaftlichen Judenwohnungen in der Schaafgaß' in der Fronstrasse eine Synagoge, die einen wertvollen Thoraschrein aus dem Jahre 1762 besaß. Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten zudem ein Gemeindehaus und zwei Mikwen.

Besaß die jüdische Gemeinde zu Beginn des 19.Jahrhunderts noch einen eigenen Ortsrabbiner, so verrichtete später ein jüdischer Lehrer die rituellen Dienste. Wie oft in jüdischen Landgemeinden war die Besetzung der Kantor/Lehrerstelle einem häufigen Wechsel unterworfen; so war es auch zeitweise in Völkersleier.


Anzeigen aus: "Der Israelit" vom 24.März 1892 u. 15.Jan. 1903 und "Frankfurter Israelitisches Familienblatt" vom 27.Juni 1913

Elementarunterricht erhielten die jüdischen Kinder in der Ortsschule.

Ihre Verstorbenen begrub die jüdische Gemeinde auf dem Verbandsfriedhof in Altengronau bzw. in Pfaffenhausen.

Die Gemeinde Völkersleier unterstand um 1930 dem Bezirksrabbinat Kissingen.

Juden in Völkersleier:

    --- um 1700 ................... ca.  50 Juden (in 10 Familien),

    --- 1760 .........................   9 jüdische Familien,

    --- 1783 .........................  16     "       "    ,

    --- um 1810 .................. ca. 100 Juden (ca. 23% d. Bevölk.),

    --- 1821 .........................  90   "  ,

    --- 1847 ......................... 105   “  ,

    --- 1867 .........................  95   “   (ca. 16% d. Bevölk.),

    --- 1880 .........................  76   “  ,

    --- 1900 .........................  49   "   (ca. 10% d. Bevölk.)

    --- 1910 .........................  45   “  ,

    --- 1925 .........................  36   “  ,

    --- 1933 .........................  33   “  ,

    --- 1937 .........................  24   “  ,

    --- 1939 (Mai) ...................  12   “  ,

    --- 1942 (Juli) ..................  keine.

Angaben aus: Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, S. 422

und                  W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … - Synagogengedenkband Bayern, Teilband III/2.1: Unterfranken, S. 355

 

Bei der Erstellung der Matrikel (1817) waren im Dorf 23 Stellen aufgelistet; zumeist lebten die jüdischen Familien damals vom Vieh- und Kleinhandel. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ging die Zahl der jüdischen Einwohner zurück, auch eine Folge der Auswanderung in die USA.

Aus einem Artikel in der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung vom 15. Jan. 1928: "Völkersleier. Am 29. Oktober 1927 fand in der Israelitischen Kultusgemeinde zu Völkersleier die Einweihung der renovierten, im Jahre 5522 (Anm. 1761/62) erbauten Synagoge, verbunden mit der Einweihung einer Kriegergedenktafel, ferner das 25jährige Amtsjubiläum des Kultusvorstandes, des Herrn Viktor Bergmann, statt. Eine stattliche Anzahl von Freunden und Bekannten aus Nah und Fern hatten sich zu Ehren des Tages in der festlich geschmückten Synagoge eingefunden. Als ein Zeichen des konfessionellen Friedens in der Gemeinde sei besonders erwähnt, daß auch die katholische und evangelische Geistlichkeit, der vollständige Gemeinderat, die drei Ortsvereine mit Fahnen erschienen waren. Den Mittelpunkt der Feier bildete eine Ansprache des Herrn Distriktsrabbiners Dr. Bamberger (Bad Kissingen), der in warmherzigen, beredten Worten seiner Aufgabe gerecht wurde. M. Rosenberger, Lehrer".

Die wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen und Repressalien in dem von der NSDAP dominierten Ort ließen die jüdischen Bewohner zusehends verarmen; so soll 1937 etwa die Hälfte von ihnen auf Unterstützung angewiesen gewesen sein.

In der Synagoge von Völkersleier fanden bis zum Pessach-Fest 1936 noch regelmäßig Gottesdienste statt. Danach konnte auf Grund schwindender Zahl der Gemeindemitglieder aus eigener Kraft kein Minjan mehr erreicht werden. Deshalb kamen nun auch Juden aus Dittlofsroda zum Gottesdienst nach Völkersleier. Einer Vereinbarung zufolge sollte nun monatlich ein Gottesdienst in Völkersleier und in Dittlofsroda abgehalten werden.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurden alle gemeindlichen Einrichtungen beschädigt oder vollständig zerstört; dafür verantwortlich sollen auswärtige SA-Angehörige (aus Hammelburg) gewesen sein. Während der gewalttätigen Aktion drangen sie auch in Wohnungen jüdischer Familien ein und zerschlugen Fenster, Türen und das Mobiliar, das dann auf der Straße landete. Die verhafteten jüdischen Einwohner mussten Lastwagen besteigen, die sie ins Amtsgerichtsgefängnis nach Hammelburg brachten; die Männer wurden von dort ins KZ Dachau eingeliefert.

Bis Frühjahr 1939 gelang es 17 jüdischen Personen auszuwandern, sie verließen Deutschland zumeist in Richtung USA. Die letzten jüdischen Bewohner von Völkersleier mussten im Jahre 1942 ihr Dorf verlassen.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind 19 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe. alemannia-judaica.de/voelkersleier_synagoge.htm).

 

Am Gemeindehaus in der Rhönstraße hängt eine Tafel mit folgender Inschrift:

In Völkersleier bestand eine Jüdische Kultusgemeinde,

deren Synagoge sich in der Fronstr. 4 befand und deren Inneneinrichtung in der Pogromnacht 1938 zerstört wurde.

Die Gemeinde gedenkt ihrer ehemaligen jüdischen Mitbürger.

                                                                                                                                                           Zur Erinnerung und Mahnung.

 

Über den Zustand des Synagogengebäudes in Völkersleier berichtete die Zeitschrift "Jüdische Illustrierte" (Düsseldorf) in ihrer Märzausgabe von 1951 wie folgt:Wo Gläubige einst beteten. Die Völkersleier Synagoge als Lagerschuppen. Wenn am Sonntagmorgen die Kirchenglocken im unterfränkischen Völkersleier zum Gottesdienst rufen, führt der Weg die Bewohner an der ehemaligen Synagoge vorbei. Juden gibt es dort nicht mehr, ihr Gotteshaus steht noch - aber wie unsere Bilder zeigen - nur äußerlich. Dem Pächter, Anton Brustmann, wurde der Vertrag gekündigt, weil Vertretern einer Kommission während der Besichtigung der Synagoge Hühner zwischen den Beinen herumliefen. Früher hielt der Schmiedemeister sogar seine Schweine darin. Er fühlt sich dennoch ungerecht behandelt und möchte das Gotteshaus, das an sein Anwesen grenzt, gerne kaufen. Die Kommission aber sagt nein."

Das einstige Synagogengebäude existiert heute nicht mehr; es wurde in den 1970er Jahren abgerissen und auf dem freigewordenen Areal eine Scheune errichtet

Die Kommune Wartmannsroth beteiligt sich auch am zentralen unterfränkischen Projekt "DenkOrt Deportationen 1941-1944" mit jeweils drei "Koffer-Skulpturen", die an die vertriebenen, deportierten und ermordeten jüdischen Bewohner von Dittlofsroda, Völkersleier und Wartmannsroth erinnern sollen (vgl. dazu: Würzburg).

    Koffer-Skulpturen (Aufn. Kommune Wartmannsroth, aus: denkort-deportationen.de)

 

 

In einem anderen Ortsteil von Wartmannsroth, in Dittlofsroda, existierte auch eine jüdische Gemeinde.

[vgl. Dittlofsroda (Bayern)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München 1979, S. 422/423

Israel Schwierz, Steinerne Zeugen jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 132

Cornelia Binder/Michael Mence, Nachbarn der Vergangenheit - Spuren von Deutschen jüdischen Glaubens im Landkreis Bad Kissingen mit dem Brennpunkt 1800 bis 1945, Selbstverlag, o.O. 2004

Völkersleier, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 126/127

Isolde Krapf (Red.), Warum die Errinnerung heute wichtiger denn je ist, in: „Main-Post“ vom 3.12.2019 (betr: "GedenkOrt Deportationen 1941-1944")

Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Völkersleier, in: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … - Synagogengedenkband Bayern, Teilband III/2.1: Unterfranken, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 338 - 360