Wallerstein/Schwaben (Bayern)
Wallerstein ist ein Markt mit derzeit ca. 3.500 Bewohnern im schwäbischen Landkreis Donau-Ries nur wenige Kilometer nördlich von Nördlingen (Ausschnitt aus hist. Karte 'Grafschaft Oettingen', aus: wikiwand.com und Kartenskizze 'Landkreis Donau-Ries', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Vermutlich existierte in Wallerstein schon im 14.Jahrhundert eine kleine jüdische Gemeinschaft; sie soll 1348 von den blutigen Pestpogromen betroffen gewesen, aber nicht völlig ausgelöscht worden sein. Wenige jüdische Familien lebten danach zunächst in einem ghettoartigen Wohnbezirk, dem „Judenhof“; dort gab es auch eine „Schul“.
Nach Vertreibung aus umliegenden Reichsstädten - Nördlingen, Donauwörth, Bopfingen - fanden zahlreiche jüdische Familien zu Beginn des 16.Jahrhunderts eine neue Bleibe im Herrschaftsgebiet der Grafen von Oettingen-Wallerstein. Verbindungen zu Nördlingen blieben bestehen, da sie als Händler in die nahgelegene Reichsstadt kamen und hier Geschäfte machten, so z.B. während der Pfingstmesse. Nach dem Dreißigjährigen Krieg zählte die jüdische Gemeinde mehr als 35 Haushalte, was einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil entsprach.
In den 1780er Jahren wurde der „Judenhof“ abgebrochen und seine Bewohner entlang der „Judengasse“, der heutigen Felsenstraße, angesiedelt. Die Juden Wallersteins unterstanden als Schutzjuden den Grafen Oettingen-Wallerstein.
Wallerstein war im 17./19.Jahrhundert Sitz eines bedeutenden Landrabbinats; im 19.Jahrhundert unterstanden dem „Königlich-bayrischen Bezirksrabbinat Wallerstein“ alle jüdischen Gemeinden im Ries; in Wallerstein lehrten mehrere berühmte Rabbiner, so Mosche Levi Heller (um 1518 bis ca. 1600), Chanoch Henoch ben Abraham (gest. 1663 in Pfersee), Abraham ben David Mahler, Israel Isaak Lemberger (gest. 1750 in Wallerstein), Zwi Hirsch ben Baruch Kahana Rappaport (gest. 1763 in Wallerstein) u.a.
Nach dem Abriss der alten Synagoge im früheren „Judenhof“ ließ die Judenschaft Wallersteins 1805/1807 am Eingang zur „Judengasse“, an der heutigen Hauptstraße, einen Synagogenbau errichten. Die hohen Baukosten wurden teilweise durch eine Kollekte in anderen jüdischen Gemeinden finanziert; daneben unterstützte die fürstliche Herrschaft die Judenschaft mit Baumaterial.
Ansicht von Wallenstein. Synagoge links im Bild (aus: Volker v. Volckamer, Aus dem Land ...)
links: Synagoge in Wallerstein (Lithographie, um 1880), rechts: hist. Aufnahme um 1928 (Sammlung Th. Harburger)
Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörte seit etwa 1510 auch ein recht großflächiges, weit vor dem Ort gelegenes Begräbnisgelände. Spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg war dieser Friedhof der einzige zentrale jüdische Begräbnisplatz in der Grafschaft Oettingen; so fanden hier auch Verstorbene aus Ederheim, Hainsfarth, Kleinerdlingen, Oberdorf, Oettingen und Pflaumloch ihre letzte Ruhe - bis die genannten seit Mitte des 19.Jahrhunderts eigene Friedhöfe anlegen konnten. Die ältesten noch lesbaren Grabsteine auf dem Wallersteiner Friedhof stammen aus der Zeit Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts.
Nach 1900 gehörte die inzwischen kleine Gemeinde Wallerstein dem Rabbinatsbezirk Ichenhausen.
Juden in Wallerstein:
--- um 1650/60 ............... ca. 25 Haushaltungen,
--- 1684 ......................... 43 Familien,
--- 1735 ......................... 38 “ ,
--- 1758 ......................... 48 „ ,
--- um 1780 .................. ca. 35 “ ,
--- 1806 ......................... 50 “ ,* * andere Angabe: 66 Fam.
--- 1811/12 ...................... 296 Juden (ca. 14% d. Bevölk.),
--- 1867 ......................... 78 „ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1880 ......................... 56 „ (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1890 ......................... 40 „ ,
--- 1900 ......................... 32 „ (in 7 Familien),
--- 1910 ......................... 37 „ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1925 ......................... 24 „ ,
--- 1933 ......................... 15 „ ,
--- 1939 ......................... 10 „ ,
--- 1942 (März) .................. 5 „ ,
(Juli) .................. keine.
Angaben aus: Ludwig Müller, Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Ries, S. 18
und Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, S. 490/491
Der 1806 erfolgte Übergang des Fürstentums Oettingen-Wallerstein an das Königreich Bayern brachte für die Juden Wallersteins zunächst keine Veränderungen mit sich; so blieben weiterhin alle Leistungen und Abgaben bestehen, die bis dato zu erbringen gewesen waren, wie Schul- und Synagogengeld, Schächtgeld, Begräbnisgeld u.a.; erst nach 1848 wurden diese Abgaben nicht mehr erhoben.
Zur Verrichtung gemeindlicher religiöser Aufgaben war bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert neben dem Rabbiner noch ein Religionslehrer in Anstellung. Nachdem Wallerstein keinen eigenen Rabbiner mehr hatte, gab es noch einen Religionslehrer bzw. seit Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch einen Vorbeter/Schochet. Den Religionsunterricht übernahmen fortan Lehrer aus umliegenden Gemeinden.
Stellenausschreibungen von 1865 und 1901:
Nachdem die Stadt Nördlingen 1860 den Zuzug von Juden gestattet hatte, verließen vermehrt jüdische Familien Wallerstein, um sich dort oder in anderen größeren Ortschaften wegen der besseren Lebens- und Wirtschaftsbedingungen niederzulassen; die Zahl der Juden in Wallerstein nahm nun deutlich ab, die Gemeinde blutete langsam aus. Dieser Niedergang wurde auch im Verlust des hiesigen Rabbinats evident. Auch fiel es der kleiner werdenden Gemeinde immer schwerer, das Gemeindeleben aufrecht und die baulichen Einrichtungen instand zu halten.
Judengasse, heute Felsenstraße (hist. Postkarte, um 1910)
Zu Beginn der 1930er Jahre wohnten nur noch sehr wenige jüdische Familien im Dorf. Während des Novemberpogroms von 1938 wurde das Synagogengebäude beschädigt, die gesamte Inneneinrichtung vollkommen zerstört.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 19 gebürtige bzw. längere Zeit in Wallerstein ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der "Endlösung" (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/wallerstein_synagoge.htm).
Nach Kriegsende diente das ehemalige Synagogengebäude verschiedenen Zwecken, u.a. auch als Kino. Ende der 1970er Jahre wurde das Gebäude abgerissen und an seiner Stelle eine Sparkasse gebaut. Nur eine kleine Tafel erinnert heute daran, dass am gleichen Standort einst eine Synagoge stand.
Von den ursprünglich etwa 900 Grabsteinen des Wallersteiner Judenfriedhofs - er war während der NS-Zeit schwer geschändet worden - sind heute noch ca. 300 erhalten geblieben; allerdings stehen sie nicht mehr auf ihren einstigen Plätzen, sondern sind willkürlich wieder aufgestellt worden.
Teilansicht des Friedhofs (Aufn. J. Hahn, 2004)
„Rabbiner-Gräber“ Friedhof Wallerstein (Aufn. R. Hoffmann, um 1995)
Grabsteinmotive (Aufn. J. Hahn, um 1990)
Auf dem jüdischen Friedhof in Wallerstein liegen auch KZ-Häftlingsopfer eines Evakuierungszuges begraben.
Aus Wallerstein stammte der jüdische Talmudgelehrte Jom Tow Lip(p)mann Heller (geb. 1579, gest. 1654), der als Rabbiner in verschiedenen Städten (Nikolsburg, Wien, Prag) tätig war. Zuletzt lehrte er an der Jeschiwa in Krakau. Heller war auch als Autor bedeutender religiöser Schriften bekannt; so verfasste er u.a.Kommentare zur Mischna und schrieb auch Bücher über das Brauchtum der Juden in verschiedenen Ländern (Abb. Grabstein von Jow Tom Lippmann Heller in Krakau, Aufn. Talmidavi, 2016, aus: wikipedia.org. CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
Ludwig Müller, Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Ries, in: "Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg", No.26/1899, S. 81 - 183
Arthur Posner, Rabbi Jomtob Lippmann Heller aus Wallerstein (1579 – 1654), in: „Der Israelit“, 70/1929, No. 34 vom 22.8.1929
Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Verlag Oldenbourg, München/Wien 1979, S. 490/491
Ludwig Brutscher, Der Rabbi von Prag. Leben und Leiden des Jomtow Lipmann Heller-Wallenstein, in: "Nordschwaben 1979", S. 207 – 210
Martina Illian, Die jüdischen Landgemeinden in Schwaben. Ihre Entstehung und Entwicklung in der frühen Neuzeit, in: "Veröffentlichungen zur Bayrischen Geschichte und Kultur", No. 17, München 1988
Israel Schwierz, Steinerne Zeugen jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 279
Michael Trüger, Zum Friedhof Wallerstein, in: Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Heft 57/1993
Germania Judaica, Band III/2, Tübingen 1995, S. 1453
Volker von Volckamer, Aus dem Land der Grafen und Fürsten zu Oettingen. ‘Von den Juden im Ries. Friedhöfe und Synagogen’, Wallerstein 1995, S. 157 ff.
Ein fast normales Leben - Erinnerungen an die jüdischen Gemeinden Schwabens. Ausstellungskatalog der Stiftung Jüdisches Kulturmuseum Augsburg- Schwaben, Augsburg 1995
Ludwig Brutscher, Wallerstein – Markt und Residenz, Beiträge zur Orts- und Grafschaftsgeschichte, Wallerstein 1996
Rolf Hofmann, Vom Aufstieg und Fall des Landesrabbinats - Mächtige Grabmale auf Wallersteiner Judenfriedhof erinnern an einst hoch geachtete religiöse Oberhäupter, o.O. 1997
Theodor Harburger, Die Inventarisation jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern, Band 3: Markt Berolzheim - Zeckendorf, Hrg. Jüdisches Museum Franken - Fürth & Schnaiitach, Fürth 1998, S. 752 - 765
Rolf Hofmann, Der jüdische Friedhof in Wallerstein. Historischer Hintergrund und neueste Forschungsergebnisse, in: Rieser Kulturtage, Dokumentation Band XII/1998, S. 139 - 152
Stefan Vogel/Gernot Römer, Wo Steine sprechen ... Die jüdischen Friedhöfe in Schwaben. Ein Buch der Erinnerung, Augsburg 1999
Wallerstein, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Text- u. Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Martina Illian, Zur Eidesleistung von Juden in Wallerstein, in: P. Fassl (Hrg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Irseer Schriften 5, Stuttgart 2000, S. 137 ff.
Michael Schneeberger, Die Geschichte der Juden in Wallerstein, in: Reihe Jüdische Landgemeinden in Bayern (10), "Jüdisches Leben in Bayern - Mitteilungsblatt der IKG Bayern", 20.Jg., No. 92/2005, S. 30 - 39
Rolf Hofmann, Das Landrabbinat Wallerstein. Bedeutende rabbinische Persönlichkeiten des 18. und 19.Jahrhunderts, in: "Jahrbuch des Historischen Vereins für Nördlingen und das Ries", 31/2007, S. 355 - 377
Rolf Hofmann, Dokumentation zum jüdischen Friedhof in Wallerstein – Projekt in Kooperation mir R. Dror/D. Birnbaum, M.Jacoby und R. Litai-Jacoby (Israel), 2007
A. Hager/C. Berger-Dittscheid (Bearb.), Wallerstein, in: Mehr als Steine ... Synagogengedenkband Bayern, Band 1, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2007, S. 530 – 539
Gunther Reese (Hrg.), Spuren jüdischen Lebens rund um den Hesselberg, in: "Kleine Schriftenreihe Region Hesselberg", Band 6, Unterschwaningen 2011
Judenfriedhof Wallerstein – Fotogalerie (2012), online abrufbar unter: get.google.com/albumarchive/
Benigna von Schönhagen (Hrg.), Ma Tovu...". "Wie schön sind deine Zelte, Jakob..." Synagogen in Schwaben - mit Beiträgen von Henry G. Brandt, Rolf Kießling, Ulrich Knufinke und Otto Lohr, Jüdisches Kulturmuseum Augsburg-Schwaben 2014 (Katalog zur Wanderausstellung)
Nathanja Hüttenmeister, Die Inschriften des jüdischen Friedhofs Wallerstein, in: „Kalonymos – Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut“, 23 Jg., Heft 2/2020
Gerhard Beck (Red.), Judentum im Ries: Neue Erkenntnisse über das damalige Leben, in: „Augsburger Allgemeine“ vom 21.10.2022