Weiskirchen (Hessen)

Jüdische Gemeinde - Sprendlingen (Hessen)Datei:Rodgau in OF.svg Weiskirchen gehört seit 1977 zur Großgemeinde Rodgau im hessischen Landkreis Offenbach - ca. 15 Kilometer südöstlich von der Stadt Offenbach gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Weiskirchen, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Offenbach', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Eine jüdische Kultusgemeinde bildete sich in Weiskirchen offiziell vermutlich erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts; angeschlossen waren auch die wenigen Familien aus den Nachbarorten Dudenhofen, Hainhausen und Jügesheim. Ersterwähnung eines jüdischen Bewohners lässt sich aus einer „Kirchen-Rechnung“ (von 1766 oder 1769) nachweisen. Um 1790 haben dann einige jüdische Familien in Weiskirchen bzw. der nahen Umgebung gelebt wie die Einrichtung einer Betstube zu eben jener Zeit vermuten lässt.

Anm.: Der in Weiskirchen lebende „Schutzjude Gedalin“ hatte 1793 beim erzbischöflichen Amt in Aschaffenburg ein Gesuch mit der Bitte eingereicht, in seinem Privathaus in Weiskirchen "eine Stube einzuräumen und zu gottesdienstlichen Verrichtungen einrichten" zu dürfen. Da sein Anliegen vom damaligen Ortspfarrer befürwortet worden war, wurde die Genehmigung zur Einrichtung einer Betstube für die jüdischen Familien des Ortes erteilt.

Um 1820 lebten in Weiskirchen die „Schutzjuden-Familien“ Kalmann Schönberg, Marodäus Meyer, Abraham Schönberg und Aaron Schönberg; in den Folgejahrzehnten kamen einige wenige hinzu. Der wohlhabendste Bewohner in Weiskirchen war um 1850 der jüdische Händler Mendel Meyer; für seine Aufnahme als Vollbürger des Ortes hatte er eine Summe von 1.500 Gulden zahlen müssen.

Gottesdienstliche Zusammenkünfte fanden so jahrzehntelang in einem kleinen Betraum in der Hauptstraße statt, dessen Bau aus den 1790er Jahren stammt. Eine neue Synagoge wurde 1882 eingeweiht, die in einem älteren, mit einer neuen Fassade versehenen Fachwerkgebäude untergebracht war.

                 Die Zeitschrift „Der Israelit” berichtete am 2.8.1882 von der Einweihung des neuen Gotteshauses:

Frankfurt a. M., 31. Juli Samstag den 29. Juli, schabbat nachamu wurde die neuerbaute Synagoge zu Weiskirchen b. Seligenstadt, eingeweiht. Nach einem schön arrangirten Festzuge begrüßte vor der Synagoge ein kleines Mädchen die Ankommenden mit einem hübsch abgefaßten Gedichte. Alsdann hielt Herr Lehrer Fuchs aus Steinheim, der bei der Gemeinde als früherer Lehrer noch in gutem Andenken stand, eine schwungvolle Ansprache, worin er zuerst die große Opferwilligkeit der dortigen Juden hervorhob, und dann darauf hinwies, daß zu diesem schönen Baue auch ein schöner jüdischer Sinn gehöre, der sich vor allem in vollendeter Eintracht mit Aufgabe aller selbstsüchtigen Interessen bethätigen müsse. Der Bau und die Einrichtung der Synagoge machte auf die sehr zahlreich erschienenen Fremden einen höchst befriedigenden Eindruck.

                Synagoge Weiskirchen (hist Aufn., Heimat- u. Geschichtsverein Weiskirchen)

 Über das jüdische Leben im Rodgau und die Synagoge in Weiskirchen im „Frankfurter Israelitischen Familienblatt“ vom 8. Jan. 1904 zu lesen:

Aus dem Rodgau. Aus dieser Gegend gelangt nur selten eine Notiz in das Familien-Blatt. Es kann nämlich daselbst nur wenig jüdisches Leben pulsieren, da der Rodgau von Juden schwach bewohnt ist. So wohnen in Oberroden, Jügesheim, Hainhausen etwa ja 1 bzw. 2 Familien. In dieser Gegend ernährt man sich zumeist vom Vieh- und Hausierhandel. In Weiskirchen befindet sich eine kleine niedliche Synagoge, worin allsabbatlich durch einen Privatmann Gottesdienst abgehalten wird. Man huldigt im allgemeinen in dieser Gegend noch einem strenggläubigen frommen Sinn, und sieht man an Sabbat- und Festtagen die Israeliten bei Hitze und Kälte aus den Filialen zur Synagoge pilgern. Wie oft auch schleppt sich der müde Handelsmann am Taanis fastend und kasteiend von Haus zu Haus seine Ware anbietend. Hier und da ist denn auch ein kleiner Zuwachs durch Zuzug, durch Heirat, durch ein sonstiges frohes Ereignis in den Gemeinden zu verzeichnen und bei diesen Gelegenheiten sieht man auch jüdisches Leben sich enthalten."

    aus: "Der Israelit" vom 3.2.1875 und vom 5.5.1887

Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem jüdischen Friedhof in Heusenstamm zu Grabe getragen.

Die Gemeinde Weiskirchen - zu ihr zählten auch die wenigen jüdischen Familien aus Dudenhofen, Hainhausen, Jügesheim und Nieder-Roden - gehörte zum Bezirksrabbinat Offenbach.

Juden in Weiskirchen:

         --- um 1790 ......................... wenige Familien (?),

    --- 1821 ............................  4 Familien,

    --- um 1830 ......................... 16 Juden,

    --- 1861 ............................ 39   “  ,

    --- 1871 ............................ 51   “   (ca. 7% d. Bevölk.),

    --- 1880 ............................ 28   “  ,

    --- 1905 ............................ 30   “   (in 8 Familien),

             ........................ ca. 45   “  ,*    * mit Filialorten

    --- 1924 ............................ 36   “  ,*

    --- um 1930 ..................... ca. 40   “   (in 11 Familien)*.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 357

 

Die Weiskirchener Juden - zu Beginn des 20.Jahrhunderts waren es acht Familien - lebten vor allem vom Einzelhandel; daneben gab es zwei Metzger und eine Gastwirtschaft ("Darmstädter Hof"), dessen Inhaber ein Jude war.

Die hiesige Kultusgemeinde löste sich 1938/1939 völlig auf, da die allermeisten Angehörigen in die Emigration gegangen oder in größere Städte innerhalb Deutschlands verzogen waren.

Während der „Reichskristallnacht“ vom November 1938 blieb das Synagogengebäude unzerstört; die Ritualien waren bereits zuvor nach Offenbach gebracht worden; dort wurden sie vernichtet. Geplündert wurde das Haushaltswarengeschäft von Seligmann Meyer. Vier jüdische Dorfbewohner wurden im Herbst 1942 deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden neun aus Weiskirchen stammende jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft; aus Dudenhofen und Jügesheim waren es jeweils fünf Personen und aus Nieder-Roden eine einzige (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/weiskirchen_synagoge.htm).

 

Das kleine ehemalige Synagogengebäude - inzwischen völlig verfallen - wurde 2000 von der Stadt Rodgau erworben, um es als Gedenk- und Ausstellungsort in Nutzung zu nehmen; nach Abschluss umfangreicher Restaurierungsarbeiten wurde das Haus im Frühjahr 2005 - im Rahmen der „Aktionswoche gegen Rassismus“ - seiner neuen Bestimmung übergeben. Der Heimat- und Geschichtsverein Weiskirchen beabsichtigt, hier künftig Exponate zur Geschichte der ehemaligen jüdischen Bewohner zu zeigen.

Ehem. Synagogengebäude nach der Restaurierung (Aufn. Rudolf Thiele, 2006)

Im Stadtgebiet von Rodgau sind bislang ca. 15 sog. „Stolpersteine“ verlegt (Stand 2018); in Weiskirchen sind in der Waldstraße fünf Steine für Angehörige der Familie Lilienthal/Schlösser und in der Schillerstraße sieben für die Familie Meyer ins Gehwegpflaster eingelassen worden.

Stolperstein Johanna Lilienthal, 1, Waldstraße 4, Weiskirchen, Rodgau, Landkreis Offenbach.jpgStolperstein Milli Schlösser, 1, Waldstraße 4, Weiskirchen, Rodgau, Landkreis Offenbach.jpgStolperstein Theodor Lilienthal, 1, Waldstraße 4, Weiskirchen, Rodgau, Landkreis Offenbach.jpgStolperstein Manfred Lilienthal, 1, Waldstraße 4, Weiskirchen, Rodgau, Landkreis Offenbach.jpgStolperstein Alfons Schlösser, 1, Waldstraße 4, Weiskirchen, Rodgau, Landkreis Offenbach.jpg verlegt für Angehörige der jüdischen Familie Lilienthal/Schlösser (Aufn. G., 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

Künftig sollen auch in den anderen Stadtteilen solche Erinnerungstäfelchen an jüdische Opfer der NS-Herrschaft erinnern.

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 357/358

Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Königstein i.Ts. 1988, S. 175/176

Thea Altaras, Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Teil II, Königstein i.Ts. 1994, S. 143/144

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I - Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 284/285 

Heimat- u. Geschichtsverein Weiskirchen (Hrg.), Jüdisches Leben in Weiskirchen, online unter: heimat-und-geschichtsverein-weiskirchen.de/jüdische-geschichte/

Weiskirchen mit Dudenhofen, hainhausen, Jügesheim und Nieder-Roden, in: alemannia-judaica.de (mit diversen, meist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortsgeschichte)

Ekkehard Wolf (Red.), Verbeugung vor den Opfern – Stolpersteine erinnern an Familie Reinhardt in Dudenhofen, in: „Offenbach-Post“ vom 2.9.2011

Ekkehard Wolf (Red.), Zwölf weitere „Stolpersteine“ für Rodgau, in: op-online.de vom 10.10.2018

Monika Müller (Red.), Stolpersteine für zwei Familien. Zwei Vereine organisieren Gedenken an ermordete Juden aus Weiskirchen, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 16.11.2018

Über die jüdische Geschichte Rodgaus ist eine Publikation in Vorbereitung (Helmut Trageser, Heimat- u. Geschichtsverein Weißkirchen)