Westheim - Hammelburg (Unterfranken/Bayern)

Datei:Karte Landkreis Bad Kissingen.pngDatei:Hammelburg in KG.svg Die ca. vier Kilometer östlich von Hammelburg liegende Ortschaft Westheim ist seit 1971 ein Stadtteil von Hammelburg (topografische Karte Lencer, 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0   und   Kartenskizze 'Landkreis Hammelburg', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

In der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts war jeder dritte Dorfbewohner mosaischen Glaubens.

In Westheim gab es eine relativ große jüdische Kultusgemeinde, deren Wurzeln bis ins 16.Jahrhundert zurückreichen. Ein allererster Nachweis jüdischer Anwesenheit stammt bereits aus der Zeit um 1500, als zwei Juden dem Fürstbischof für ihr Gehört "gult und zins" zahlten.

Die Familien standen später dann unter dem Schutz der Freiherren von Erthal und lebten zunächst im Ehrthal'schen Freihof; um 1650 wohnten hier neun Familien, fünf Jahrzehnte später waren es ca. 100 Personen. Als im Laufe des 18.Jahrhunderts der Judenhof zu eng wurde, errichteten wohlhabendere Familien eigene Häuser in der Judengasse. Im Jahre 1783 erließ Freiherr von Ehrthal eine "Judenordnung"; dabei wurde zwischen zwei 'Klassen' von "Schutzjuden" unterschieden: neben den "zahlbaren", die das volle Schutzgeld zu entrichten hatten, gab es die "unzahlbaren", die wegen ihres Alters geringere Abgaben zu leisten hatten.

Bei der Erstellung der Matrikellisten (1817) sind für den Ort knapp 50 Familienvorstände berücksichtigt. Während ein Großteil vom wenig ertragreichen Klein- und Kramhandel lebte, war eine Reihe der Familien im Viehhandel tätig.

Die 1731 (oder 1768) eingerichtete Synagoge war in einem stattlichen Steinbau mit Fachwerkanbau untergebracht. Bis Mitte der 1930er Jahre fanden hier regelmäßige Gottesdienste statt.

Thoraschrein und -schild aus der Synagoge in Westheim (Abb. aus: Th. Harburger)

Zu den rituellen Einrichtungen gehörte auch eine Mikwe, die sich im Garten eines Anwesens an der ehem. Judengasse (Paulstraße) befand; sie wurde durch Grundwasser gespeist. Im Jahre 1913 wurde diese durch eine neu geschaffene „Tauch“ ersetzt.

Ein seitens der Gemeinde angestellter Religionslehrer unterrichtete zum einen die jüdischen Kinder, zum anderen war er als Vorbeter und Schächter tätig.

Bis Mitte der 1920er Jahre existierte in Westheim eine jüdische Elementarschule. Nach Auflösung der Schule wurden die noch am Ort wohnhaften schulpflichtigen Kinder durch den Lehrer aus dem nahen Hammelburg unterrichtet.

Stellenangebot aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 24.7.1924

Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem jüdischen Bezirksfriedhof in Pfaffenhausen beerdigt; ab dem ausgehenden 17.Jahrhundert wurde der um 1670 neu angelegte jüdische Friedhof im ritterschaftlichen Dorf Euerbach als "Guter Ort" genutzt; der mehrere Gehstunden von Westheim entfernte Begräbnisplatz stand auch den Glaubensgenossen aus Euerbach, Niederwerrn und Obbach zur Verfügung. Seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts schienen dann Beerdigungen aber wieder in Pfaffenhausen erfolgt sein.

Die Gemeinde gehörte zum Bezirksrabbinat Bad Kissingen.

Juden in Westheim:

--- 1568 ............................   2 jüdische Familien,

--- 1655 ............................   9     "       "    (ca. 40 Pers.),

--- um 1700 ..................... ca. 100  Juden,

--- 1731 ............................  22 jüdische Familien,

--- 1816 ............................ 206   „  (ca. 35% d. Bevölk.)

--- 1833 ............................ 212   „  ,

--- 1848 ............................ 174   „  ,

--- 1867 ............................ 143   „  (ca. 26% d. Bevölk.),

--- 1880 ............................ 116   „  (ca. 22% d. Bevölk.),

--- 1900 ............................  84   „  ,

--- 1910 ............................  75   „  (ca. 16% d. Bevölk.),

--- 1924 ........................ ca.  60   „  ,

--- 1933 ........................ ca.  40   "  ,

--- 1937 ............................  18   "  ,

--- 1939 ............................   6   "  ,

--- 1942 ............................   3   "  .

Angaben aus: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … - Synagogengedenkband Bayern, Teilband III/2.1: Unterfranken, S. 380

 

Die jüdischen Bewohner Westheims stellten zu Beginn des 20.Jahrhunderts immerhin noch 16% der Dorfbevölkerung. Anfang der 1930er Jahre gab es unter den jüdischen Gewerbetreibenden fünf Viehhändler, einen Handelsangestellten, eine Schneiderin und einen Metzger; letzerer wurde im April 1935 mit seinem Gehilfen verhaftet, weil er gegen das Schächtverbot verstoßen hatte. Der wirtschaftliche Boykott führte dazu, dass von den insgesamt 18 Gemeindemitgliedern schließlich sechs unterstützungsbedürftig geworden waren.

Regelmäßige Gottesdienste sollen in Westheim noch bis 1936 abgehalten worden sein. 1937 ging das inzwischen ungenutzte jüdische Schulhaus mit dem Garten und Mikwenhäuschen in Privatbesitz über.

Während des Novemberpogroms brach ein auswärtiger SA-Trupp die Synagoge auf, demolierte das Innere und vernichtete die Kultgegenstände.

Aus den Akten der Spruchkammer Hammelburg (nach 1945): „An der Schändung waren ortsansässige Parteimitglieder und Funktionsträger beteiligt in Absprache mit dem SA-Sturm Hammelburg. Der SA-Sturm Hammelburg fuhr um ca. 13.00 Uhr mit einem Lkw von Hammelburg nach Westheim, um "die Judenaktion" dort durchzuführen. Nach der Zerstörung jüdischer Wohnungen und der Schändung der Synagoge, nachdem auch Fahrräder und sonstige Gegenstände jüdischer Familien in die Saale geworfen worden waren, wurden die jüdischen Familien verhaftet, auf den Lkw getrieben und nach Hammelburg ins Amtsgerichtsgefängnis gefahren. Unter Schmährufen von HJ-Mitgliedern fuhr der Lkw mit den jüdischen Gefangenen langsam nach Hammelburg ein bis zum Gefängnistor in die Von-Hess-Straße, wo die jüdischen Familien unter Gebrüll von SA-Männern absteigen mußten und in eine Zelle gebracht wurden. Danach fuhr der SA-Sturm mit dem Lkw um ca. 14.30 Uhr nach Untererthal weiter, um auch dort "die Judenaktion" durchzuführen.“

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." fielen mindestens 30 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene Juden Westheims dem Holocaust zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/westheim_hab_synagoge.htm).

 

Das Synagogengebäude in der Kellergasse blieb baulich erhalten und diente zunächst als Holzlager, Jahrzehnte später dann als Wohnhaus; nur eine kleine Tafel erinnert heute an die einstige Funktion des Gebäudes.

Auf dem Dachboden eines privaten Anwesens in der Paulstraße wurden bei Umbauarbeiten in den 1980er Jahren zahlreiche Gegenstände entdeckt, die Teil einer Genisa gewesen waren; die Fundobjekte beziehen sich zum größten Teil auf die Familien von Benjamin und Arnold Hirschberger. In der europaweit gezeigten Ausstellung „Genisa - Verborgenes Erbe der deutschen Landjuden” wurden auch Fundstücke aus Westheim („Hirschenbergers Genisa“) gezeigt.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20235/Wuerzburg%20MFr%20Museum%20153.jpg  Thoraschrein (Aufn. J. Hahn, 2009)

Abbildung rechts: Zitat aus Psalm 16,8: "Ich nehme den Ewigen mir stets vor Augen - Erkenne, vor wem du stehst"

Der Aufsatz des Thora-Schreins der Westheimer Synagoge befindet sich heute im Mainfränkischen Museum in Würzburg; zudem sind hier weitere Ritualgegenstände aus Westheim ausgestellt.

Die ehemalige Männermikwe (Paulstraße), ein weiteres Zeugnis jüdischen Lebens in Westheim, soll vor dem endgültigen Verfall bewahrt werden.

 WestheimSeit 2013 erinnert ein Gedenkstein mit -tafel namentlich an die jüdischen NS-Opfer Westheims. Ergänzt wurde die Gedenkstätte durch eine Skulptur (Aufn. Michael Stolz, aus: denkort-deportationen.de), die im Rahmen des unterfränkischen Gedenk-Projektes "DenkOrt Deportationen 1941-1944" geschaffen wurde (vgl. dazu Würzburg).

Der Platz vor der früheren Synagoge trägt den Namen von Benjamin Hirschenberger (gest. 1904), einst Vorsteher der hiesigen jüdischen Gemeinde und engagierter Bürger seines Heimatortes.

 

Hinweis: Im gleichnamigen Westheim – Kommune Knetzgau – gab es auch eine israelitische Gemeinde.  vgl. dazu:  Westheim-Knetzgau (Unterfranken/Bayern)

 

 

 

Weitere Informationen:

Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag München/Wien 1979, S. 311 - 313

Herbert Schultheis, Juden in Mainfranken 1933 - 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Deportationen Würzburger Juden, in: "Bad Neustädter Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde Frankens", Verlag Max Rötter, Bad Neustadt a.d.Saale 1980, Band 1, S. 227 ff.

Gerhard W. D. Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 347/348

Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 510/511

Israel Schwierz, Steinerne Zeugen jüdischen Lebens in Bayern - Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 135

Volker Rieß, Sie gehören dazu... Erinnerungen an die jüdischen Schüler der Lateinschule und des Progymnasiums – verbunden mit einigen Aspekten zur Geschichte der Juden in der Stadt Hammelburg u. ihren Stadtteilen, Frobenius-Gymnasium Hammelburg - Festschrift zum Schuljubiläum 1994, Hammelburg 1994, S. 83 – 102

Roland Flade, 50 Jahre danach - Die Stadt Hammelburg erinnert sich. Eine Dokumentation, Hrg. Stadt Hammelburg, Hammelburg 1995

Michael Trüger, Artikel zum jüdischen Friedhof Pfaffenhausen, in: "Der Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern", 13 No. 78/ Dezember 1998

Volker Rieß, Jüdisches Leben in und um Hammelburg. Gemeinschaftsprojekt Frobenius-Gymnasium/Stadt Hammelburg, Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Herrenmühle Okt./Dez. 2000, Hammelburg 2001

Cornelia Binder/Michael Mence, Nachbarn der Vergangenheit - Spuren von Deutschen jüdischen Glaubens im Landkreis Bad Kissingen mit dem Brennpunkt 1800 bis 1945, Selbstverlag, o.O. 2004

Westheim (Stadt Hammelburg), in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Bild- u. Textdokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 114/115 und S. 140/141 

Cornelia Mence/Michael Mence, Hirschenbergers Genisa (deutsch-englisch), Eigenverlag 2008 (zudem eine Ausstellung im Stadtmuseum Herrenmühle in Hammelburg 2008)

Karl Stöckner, Fundmaterialien zu einstmaligen jüdischen Bürgern Hammelburgs, Stadtarchiv Hammelburg, Hammelburg o.J.

Hammelburger Album (Hrg.), Jüdisches Leben in Westheim, in: hammelburger-album.de (enthält u.a. biografisches Material zu jüdischen Familien)

Jüdische Opfer aus Hammelburg/Westheim, online abrufbar unter: victims-of-holocaust-hammelburg.de

N.N. (Red.), Hammelburg. Denkmal für die Holocaustopfer – Platz wird Benjamin Hirschenberger gewidmet, in: "Main-Post“ vom 9.8.2011

Gerd Schaar (Red.), Jeder Name steht für ein Schicksal, in: „Fränkischer Tag“ vom 25.11.2013

Wolfgang Dünnebier (Red.), Hammelburg. Westheim: Historisches Ritualbad erhalten, in: „Main-Post“ vom 30.1.2019

Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Westheim/Hammelburg, in: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … - Synagogengedenkband Bayern, Teilband III/2.1: Unterfranken, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 361 - 386

N.N. (Red.), Hammelburg. Jüdische Geschichte erleben, in: „Main-Post“ vom 6.6.2021