Abterode (Hessen)

Datei:Kurhessen Kr Witzenhausen.pngDatei:Karte Gemeinde Meißner.JPG Abterode ist heute ein Ortsteil der Gemeinde Meißner im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis mit derzeit ca. 800 Einwohnern - knapp 40 Kilometer östlich von Kassel bzw. wenige Kilometer westlich von Eschwege gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Abterode, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und topografische Karte, B. Waldmann 2015, aus: wiki-de.genealogy.net).

 

Ihren personellen Höchststand erreichte die israelitische Gemeinde Abterode in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts.

Im 18.Jahrhundert war die jüdische Gemeinde in Abterode die größte Dorfgemeinde in der Landgrafschaft Hessen. Der erste namentlich bekannte jüdische Bewohner des Dorfes Abterode ist um 1600 urkundlich erwähnt. Bereits im 17.Jahrhundert soll in Abterode eine verhältnismäßig große jüdische Gemeinde bestanden haben, die sich in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts zur größten in Nordhessen entwickelte. Dass jüdische Familien sich hier - im teilautonomen Viertel der Landgrafschaft Hessen - so zahlreich niederlassen konnten, lag vor allem daran, dass die Landesherrschaft, die Quartfürsten, mit den jährlichen Steuerleistungen ihre Kassen auffüllte. Schutzbriefe, die ein Aufenthaltsrecht garantierten, wurden aber weiterhin von der landgräflichen Regierung in Kassel ausgestellt. Die Wohnsitze der Abteroder Juden lagen überwiegend in der Ortsmitte.

Ihre erste Synagoge, die vermutlich am Hinterweg gelegen war, weihte die Abteroder Judenschaft um 1730 ein, nachdem sie zuvor einen einfachen Betraum genutzt hatte. Eine neue Synagoge, bestehend aus roten Sandsteinquadern, errichtete die Judenschaft 1870 auf dem Grundstück Hinterweg 1. Ein separater Eingang führte auf die Frauenempore. Der Innenraum war mit einer kunstvollen Ausmalung geschmückt, die Pflanzenornamente und stilisierte Vorhänge zeigte.

  Synagoge in Abterode (hist. Aufn. um 1900, aus: K.Kollmann/Th.Wiegand, Spuren einer Minderheit)

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20221/Abterode%20Israelit%2015091921a.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%2093/Abterode%20Israelit%2005051927.jpg

Stellenausschreibungen aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 15.Sept. 1921 und vom 5.Mai 1927

Ab den 1830er Jahren gab es in Abterode auch eine jüdische Elementarschule. Sie löste die bestehende Religionsschule ab, die in der Region einen guten Ruf hatte. Zu Beginn der NS-Zeit wurde der Schulbetrieb wegen Schülermangels eingestellt, danach existierte für einige Jahre noch eine von nur wenigen Kindern besuchte private jüdische Schule.

Die Gemeinde besaß am Rehberg einen eigenen Friedhof, der um 1660 oder - anderen Angaben zufolge - in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts angelegt worden war. Er wurde auch von den Familien der zur Synagogengemeinde gehörigen Juden aus Frankershausen, Germerode und Vockerode, später auch Allendorf, genutzt.


Alte, schön gestaltete Grabsteine (Aufn. Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen)

Zur jüdischen Gemeinde Abterode, die zum Rabbinatsbezirk Kassel zählte, gehörten auch die wenigen Juden aus Germerode und Vockerode.

Juden in Abterode:

     --- um 1630 .........................    7 jüdische Familien,

     --- um 1665 .........................   16     “       “   ,

     --- 1744 ............................   39     “       “   (ca. 23% d. Bevölk.),

     --- 1812 ............................   53     “       “   ,  

     --- 1835 ............................  234 Juden,

     --- 1861 ............................  158   “  ,

     --- 1871 ............................  139   “  ,

     --- 1885 ............................  183   “   (ca. 18% d. Bevölk.),    

     --- 1905 ............................  167   “  ,

     --- 1924 ............................  102   “   (ca. 11% d. Bevölk.),

     --- 1933 ............................  91   "  ,

     --- 1939 ............................  31   “  ,

     --- 1940 ............................  10   “  ,

     --- 1941 (Dez.)......................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 25

und                 K.Kollmann/Th.Wiegand, Spuren einer Minderheit - Judenfriedhöfe und Synagogen ..., S. 73

Ansichtskarte um 1900 (aus: wikipedia.org, CCO)

 

Die meisten Juden in Abterode waren Händler und Kleinkaufleute. Sie lebten vom Vieh-, Manufaktur-, Lebensmittel- und Textilhandel; im Laufe des 19.Jahrhunderts kamen auch einige Handwerksberufe hinzu. Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts war ein deutlicher Rückgang der jüdischen Dorfbevölkerung zu verzeichnen, danach blieb ihre Zahl mit ca. 150 Personen bis um 1910 nahezu konstant.

Bereits innerhalb der ersten drei Jahre nach der NS-Machtübernahme gaben die meisten jüdischen Bewohner ihre Geschäfte auf, gingen entweder in die Emigration oder zogen in größere Städte um, vor allem nach Kassel und Frankfurt/M. Zu der christlichen Bevölkerungsmehrheit Abterodes bestand bis Mitte der 1930er Jahre ein relativ gutes Verhältnis, wie ein Bericht der Ortspolizeibehörde vom November 1937 verdeutlicht: ... Natürlich gibt es auch da einige vergessene deutsche Volksgenossen, die trotz aller Aufklärung nicht von den Juden lassen, ihnen ihre Arbeiten verrichten und ihnen auch sonst in Diensten stehen. ...Die meisten jüdischen Geschäfte im Ort waren Ende 1935 bereits geschlossen; die noch über Land ziehenden Händler hatten in ihrem Gewerbe mit Behinderungen und Schikanen zu kämpfen. Während des Novemberpogroms wurde die Inneneinrichtung der Synagoge von überwiegend auswärtigen SA-Angehörigen total vernichtet, und auch an Wohnungen jüdischer Bürger entstanden Schäden. Abteroder Juden wurden verhaftet und nach Eschwege abtransportiert. Von den Abteröder Juden wanderten acht nach Palästina aus, sechs nach Amerika, sechs in die Niederlande, zwei nach Afrika und einer nach Neuseeland aus. Die letzten sieben jüdischen Bewohner meldeten sich 1940/1941 nach Witzenhausen ab, andere waren bereits zuvor innerhalb Deutschlands verzogen. Zusammen mit anderen Juden aus der Region wurden die nach Witzenhausen verzogenen Personen Anfang Dezember 1941 nach Riga deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland“ sind 83 gebürtige bzw. längere Zeit in Abterode ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der Shoa geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/abterode_synagoge.htm).

 

Anfang der 1990er Jahre wurde das ehemalige Synagogengebäude saniert und damit wieder in einen würdigen Zustand versetzt. So wurde das in der Pogromnacht 1938 beschädigte Gebäude – es war 1944 an den Spar- und Darlehenskassenverein Abterode verkauft und in ein Lagerhaus umgebaut worden - von späteren Einbauten wieder befreit. Künftig wird ein privater Trägerverein im Obergeschoss einen Lern- und Gedenkort für jüdisches Leben einrichten.

heutiges Aussehen der ehem. Synagoge (Aufn. C., 2016, aus: wikipedia.org, CCO)

Ende der 1980er Jahre hatte man auf dem Dachboden des Synagogengebäudes eine Genisa entdeckt, die verschiedene alte religiöse Ritualgegenstände beinhaltete. Der zwischenzeitlich "verschollene" Fund kam dann 2018 wieder zum Vorschein. Neben einer großen pergamentenen Schriftrolle traf man auf zahlreiche alte Bücher und einige Textilien, darunter ein Thora-Wimpel, die Überreste von Gebetsschals und Gebetsriemen.

Genisafund: Stickerei auf Thora-Wimpel  Bildergebnis für Thora wimpelbeschriftet: "Dies ist die Thora, die Mose gegeben hat"

Für weitere Restaurierungsmaßnahmen (2018/2019 durchgeführt) sind jüngst von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz Finanzmittel zur Verfügung gestellt worden. In Kooperation mit dem Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in der Region“ ist nun eine Ausstellung erstellt worden, die die jüdische Geschichte des gesamten Werra-Meißner-Kreises darstellt und fortan als "Lern- und Gedenkort" zur Verfügung steht. Für sein pädagogisches Engagement bei der Vermittlung der jüdischen Vergangenheit erhielt „Aufwind - Verein für seelische Gesundheit" einen der hessischen Denkmalschutzpreise des Jahres 2021.

Eine bronzene Gedenktafel, auf der auch die stilisierte Vorderfront des Synagogengebäudes abgebildet ist, trägt die Worte:

Ehemalige Synagoge der jüdischen Gemeinde Abterode. Erbaut 1871.

Seit 1944 im Besitz des Spar- und Darlehenskassenvereins Abterode. Niederlassung der Raiffeisenbank Meißnervorland eG., die das bis dahin als Zahlstelle und Lager genutzte Gebäude in 1992/93 grundlegend renovierte. Dem Schicksal der Abteröder Synagoge und ihrer Gemeinde gedenkt die Eintragung Abterodes im Tal zerstörter jüdischer Gemeinden „Yad Vashem“ in Israel.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20205/Abterode%20Synagoge%20172.jpg Aufn. J. Hahn, 2009

Der Abteroder Friedhof gehört zu eine der größten erhaltenen jüdischen Begräbnisstätten im Werra-Meißner-Kreis. Auf dem ca. 5.000 m² großen Areal sind noch nahezu 500 Grabsteine vorhanden, die zumeist aus dem 19.Jahrhundert stammen.

Jewish cemetery Abterode (Meißner), district Werra-Meißner 2.jpg 

jüdischer Friedhof in Abterode (Aufn Nemracc, 2021, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0  und J. Hahn, 2009)

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 25/26

Thea Altaras, Synagogen in Hessen - was geschah seit 1945 ? Verlag K.R. Langewiesche Nachfolger Hans Köster Verlagsbuchhandlung, Königstein (Taunus) 1988, S. 70 - 72

K.Kollmann/Th.Wiegand, Spuren einer Minderheit - Judenfriedhöfe und Synagogen im Werra-Meißner-Kreis, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1996, S. 58/59 und S. 73 - 76

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 1), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 19

Abterode, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen, zumeist personenbezogenen Text- und einigen Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Martin Arnold, Die jüdische Gemeinschaft in Abterode am Meißner. Von der Entstehung im 17.Jh. bis zur Auslöschung im Jahr 1941, in: "Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde", 121/2016, S. 53 - 74

André Winternitz (Red.), Ehemalige Synagoge erhält Fördermittel für Sanierung, in: rottenplaces-Magazin vom 25.10.2017

Constanze Wüstefeld (Red.), Abterode: Verschollene jüdische Schriften aufgetaucht, in: "HNA - Hessische Niedersächsische Allgemeine" vom 8.3.2018

Elisabeth Bennighof (Red.), Alte jüdische Schriften und Gegenstände in Abterode entdeckt, in: lokalo24.de vom 14.7.2018

Andreas Lehnardt (Bearb.), Geniza-Projekt Abterode, hrg. von der Johannes Gutenberg Universität Mainz (August 2018)

Tobias Stück (Red.), Pergamentrolle ist nach der Restauration zurück in Abterode, in: “WR - Werra-Rundschau” vom 18.6.2019

Tobias Stück (Red.), An jüdische Kultur erinnern, in: „HNA – Hessische Niedersächsische Allgemeine“ vom 21.10.2019

Kristin Weber (Red.), “Das Schweigen brechen” - Lern- und Gedenkort in Abteroder Synagoge ist eröffnet, in: “WR - Werra-Rundschau” vom 5.11.2019

Karl Kollmann, Warum Abterode? Bemerkungen zur jüdischen Gemeinde Abterode im 17. und 18.Jahrhundert, in: “Eschweger Geschichtsblätter”, Heft 31/2020

Andreas Lehnardt, Die Genisa aus der ehemaligen Synagoge in Abterode, in: “Eschweger Geschichtsblätter”, Heft 31/2020, S. 4 - 14

Kristin Weber (Red.), Zeitreise ins Innere der Abteröder Synagoge – Verein schafft virtuelle 3-D-Rekonstruktion, in: “WR – Werra-Rundschau” vom 25.6.2020

Andreas Lehnardt (Red.), Geniza-Projekt Abterode, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, 22.7.2020

Kristin Weber (Red.), Judaistik-Professor bewertet Dachbodenfund von Abterode, in: “WR – Werra-Rundschau” vom 28.8.2020

Jessica Sippel (Red.), Zeitzeugin Toni Trebing erinnert sich an die Pogromnacht: “Wir hatten alle Angst”, in: “WR - Werra-Rundschau” vom 8.11.2020

Hanna Maiterth (Red.), Synagoge und Herrenhaus. Gleich zwei Gebäude im Kreis sind für den hessischen Denkmalschutzpreis nominiert, in: “HNA - Hessische Niedersächische Allgemeine” vom 15.7.2021

Tobias Stück (Red.), Denkmalschutzpreis für Synagoge Abterode und Herrenhaus in Nesselröden, in: “HNA - Hessische Niedersächsische Allgemeine” vom 17.9.2021