Adelebsen (Niedersachsen)
Der im Solling liegende Flecken Adelebsen ist eine niedersächsische Kommune mit derzeit ca. 6.200 Einwohnern – etwa 15 Kilometer westlich von Göttingen gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Göttingen', Hagar 2009, aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Wegen der im 19.Jahrhundert im Flecken Adelebsen relativ großen Zahl und Bedeutung jüdischer Familien wurde es auch „Klein-Jerusalem an der Schwülme“ oder "Jerusalem Südhannover" genannt.
Blick auf Adelebsen – Stich von Merian, um 1650 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
In der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts setzte im Flecken Adelebsen ein Zuzug jüdischer Familien ein. Gegen eine Gebühr gewährte ihnen der Landesherr einen Schutzbrief, der ihnen erlaubte, hier zu leben. Der erste in Adelebsen wohnhafte Jude, der Händler und Landwirt Hertz
Naphthali, ist im Jahre 1675 urkundlich erwähnt. Juden, die über keinen Schutzbrief verfügten und sich als „Betteljuden“ durch Hausierhandel mehr schlecht als recht über Wasser hielten, versuchte die Obrigkeit aus ihren Landen fernzuhalten. So sollen in Adelebsen 1793 mehrere Juden vertrieben worden sein. In der französischen Besatzungszeit änderte sich zwar der staatsbürgerliche Status der Juden, doch ihre wirtschaftliche Lage war weiterhin schwierig. Die meisten Juden im Flecken Adelebsen bestritten um 1810 ihren schmalen Lebenserwerb als Hausierer und kleine Gewerbetreibende.
Am Ort befand sich auch eine winzige jüdische Elementarschule, seit 1836 in der Langen Straße gelegen. Doch bereits der Unterhalt des eigenen Lehrers bereitete der Gemeinde finanzielle Probleme. Mit der Schulstelle verknüpft war das Amt des Schächters. 1910 musste die Schule wegen Schülermangels schließen, denn die wenigen jüdischen Kinder hatten auf staatliche Schulen gewechselt. Hinter dem Schul- und Lehrerhaus, in der Gerlandstraße, stand die neue Synagoge, die Ende der 1830er Jahre errichtet worden war. Zudem gab es seit etwa 1860 eine öffentliche Mikwe, die auf Drängen des Landesrabbiners gebaut worden war.
Bereits im 18.Jahrhundert verfügten die Adelebsener Juden auch über eine eigene Begräbnisstätte auf dem „Judenberg“ - einem schwer zugänglichen Gelände, das die Herren zu Adelebsen zur Verfügung gestellt hatten und auf dem 1736 eine erste Belegung erfolgte. Beim Tod eines Angehörigen musste die Familie an den Pfarrer der Martinskirche eine Gebühr zahlen. Ähnliche Abgaben an den Pfarrer - „Stolpgebühren“ genannt - wurden fällig, wenn Heiraten oder Geburten zu verzeichnen waren.
Jüdischer Friedhof in Adelebsen (Aufn. J.Stubenitzky, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Die jüdische Gemeinde Adelebsen gehörte zum Rabbinat Hildesheim.
Juden in Adelebsen:
--- 1689 ........................... 2 jüdische Familien,
--- 1796 ........................... 20 “ “ ,
--- 1810 ........................... 107 Juden (ca. 10% d. Bevölk.),
--- 1845 ........................... 185 " ,
--- 1848 ........................... 192 " (ca. 13% d. Bevölk.)* *andere Angabe: 149 Pers.
--- 1861 ........................... 152 " ,
--- 1871 ........................... 127 “ ,
--- 1888 ........................... 110 “ ,
--- 1895 ........................... 69 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1911 ........................... 51 “ ,
--- 1925 ........................... 46 “ ,
--- 1933 ........................... 32 “ ,
--- 1939 ........................... 17 “ ,
--- 1942 ........................... 7 “ ,
--- 1943 ........................... keine.
Angaben aus: Cord Alphei, Geschichte Adelebsens und Lödingsens
und Detlef Herbst, Jüdisches Leben im Solling. Der Synagogenverband Bodenfelde - Uslar – Lippoldsberg und die Synagogengemeinde Lauenförde, Uslar 1997, S. 277
Im beginnenden 19.Jahrhundert betrug der jüdische Bevölkerungsanteil in Adelebsen etwa 10% bzw. mehr als 100 Personen. Obwohl Einzelne über Landbesitz verfügten, betätigten sich die jüdischen Anwohner überwiegend als Textilhändler, Hausierer, Lotterieeinnehmer oder auch Viehhändler. Um 1850/60 waren von den 23 Geschäften in Adelebsen allein 15 in jüdischem Besitz.
Um 1830/1840 entwickelte sich neben der Landwirtschaft ein neuer Erwerbszweig, nämlich die Leinwandproduktion und später die Baumwollweberei. Zwei Betriebe für Baumwollverarbeitung, die Firmen Meyenburg und Herz Müller, gehörten jüdischen Unternehmern.
Die meisten Juden Adelebsens wohnten in der Langen Straße. Ihren größten Rückgang erlebte die jüdische Gemeinde im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts, als sich innerhalb weniger Jahre die Zahl ihrer Mitglieder halbierte. Dabei zog vor allem das nahegelegene Göttingen die Abwanderer an.
Straße in Adelebsen, um 1910 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Mit der NS-Machtübernahme - Adelebsen zählte 1933 noch 32 jüdische Bewohner - begann auch hier die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausgrenzung, die dazu führte, dass weitere Familien abwanderten.
Schon 1929 waren auf dem jüdischen Friedhof Gräber geschändet worden; im Frühjahr 1938 versuchten zwei SS-Angehörige, die Synagoge zu plündern, wurden aber gestellt und auch bestraft, was die hier lebenden Juden etwas beruhigte. Doch in der Nacht vom 9./10.November 1938 drangen aus Göttingen kommende SS-Angehörige in die Häuser der jüdischen Bewohner ein, misshandelten sie und trieben die Erwachsenen vor dem Ratskeller zusammen. Die Synagoge wurde in Brand gesetzt. An diesen „Aktionen“ beteiligten sich auch zwei angesehene Adelebsener Bürger. Die wenigen jüdischen Männer brachte man nach Northeim, wo sie einige Tage „in Schutzhaft“ blieben. Die Landbevölkerung zeigte für die gewaltsamen Ausschreitungen kaum Verständnis. Doch bewirkte der staatliche Druck, dass die privaten und geschäftlichen Verbindungen weitestgehend abgebrochen wurden und die Juden Adelebsens in völlige Isolation gerieten.
Im März 1942 erhielten einige jüdische Bewohner die polizeiliche Aufforderung, sich auf eine „Umsiedlung“ vorzubereiten, und kurz darauf folgte ihr Abtransport ins Warschauer Ghetto bzw. nach Theresienstadt.
Als einziger Überlebender kehrte nach Kriegsende der 76jährige Noa Rothschildt nach Adelebsen zurück; er starb 1948.
Am ehemaligen jüdischen Schulhaus, Lange Straße 15, erinnert seit 1989 eine Tafel:
Jüdische Schule und Lehrerwohnung von 1836 - 1938
Die dahinterstehende Synagoge wurde in der Nacht vom 9. zum 10.November 1938 von einem SS-Kommando zerstört."
Nach mehrjähriger Restaurierung wurde 2004 der jüdische Friedhof in Adelebsen - eine der ältesten und größten jüdischen Begräbnisstätten in Südniedersachsen - wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auf dem an einem Steilhang liegenden, etwa 4.000 m² großen Areal (an der Landstraße nach Offensen) befinden sich heute mehr als 200 Grabsteine, der älteste stammt vermutlich aus dem Jahre 1693 (oder 1733 ?). Man geht davon aus, dass sich auf diesem Friedhof mehr als 2.000 Gräber befinden.
Friedhof in Adelebsen (Aufn. Gerhard Elsner, 2020 und Barbara Arand, 2019, beide Aufn. aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
2012 wurde dort ein Gedenkstein mit gläserner -tafel für die jüdischen Kinder, Frauen und Männer der jüdischen Gemeinde Adelebsen aufgestellt; namentlich werden alle jüdischen Adelebser genannt, die in den Jahren 1933 – 45 vertrieben und deportiert/ermordet wurden.
Schon seit Jahren ist die Errichtung einer Gedenkstele – diese soll dann mitten im Ort stehen - im Gespräch, die an die Deportation der jüdischen Familien erinnern soll; nach Zustimmung der Kommunalvertretung konnte nun das Gedenk-Projekt (eine gläserne Stele) realisiert werden (2021).
In der Judaica-Sammlung des Städtischen Museums in Göttingen befinden sich verschiedene Gegenstände des religiösen Brauchtums, die einst jüdischen Familien aus Adelebsen gehörten. So befinden sich im Bestand des Museum allein 18 Thora-Wimpel aus Adelebsen, die jüngst aufwändig restauriert wurden und seit 2019 der Öffentlichkeit wieder gezeigt werden können.
Thora-Wimpel aus Adelebsen (Abb. aus: tora-wimpel-goe.de)
(vgl. dazu: Göttingen (Niedersachsen)
Im heutigen Ortsteil Barterode lebten bis ins ausgehende 19.Jahrhundert einige wenige jüdische Familien, die gemeinsam mit den Juden aus Güntersen eine kleine Kultusgemeinde bildeten. Erstmals erwähnt wurden jüdische Familien in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts. Ob die Angehörigen der kleinen Gemeinde von Anfang an über einen eigenen Betraum verfügten, ist nicht nachweisbar, doch um 1840 soll es einen gottesdienstlich genutzten Raum gegeben haben. Ihre Verstorbenen begrub die Gemeinde auf dem jüdischen Friedhof in Adelebsen.
Zwischen den jüdischen Familien in Barterode und Güntersen gab es wegen finanzieller Belastungen und personeller Fragen bezüglich der Gemeindeorganisation langjährige Streitigkeiten. Im Jahre 1861 löste sich die Gemeinde schließlich auf, und die wenigen verbliebenen Mitglieder schlossen sich der Synagogengemeinde Adelebsen bzw. der in Dransfeld an.
Weitere Informationen:
Cord Alphei, Geschichte Adelebsens und Lödinghausens, Dissertation, Göttingen 1990, S. 83 f.
Berndt Schaller, Probleme und Ergebnisse der Erforschung jüdischer Friedhöfe und ihrer Grabinschriften. Bericht aus der Arbeit im Göttinger Umfeld, in: Rainer Sabelleck (Hrg.), Juden in Südniedersachsen. Geschichte, Lebensverhältnisse, Denkmäler, Hannover 1994, S. 179 – 184
Joachim Jünemann, Neue Untersuchungen zur älteren Geschichte von Barterode, Dransfeld 1994
Detlef Herbst, Jüdisches Leben im Solling. Der Synagogenverband Bodenfelde - Uslar - Lippoldsberg und die Synagogengemeinde Lauenförde, Uslar 1997, S. 277 (Bevölkerungsstatistik)
Die letzten jüdischen Einwohner von Adelebsen, Hrg. vom Flecken Adelebsen, o.J.
Alter jüdischer Friedhof wieder eröffnet, in: "Die WELT" vom 8.11.2004
Eike Dietert (Bearb.), Adelebsen, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 1, S. 89 – 97
Sibylle Obenaus/Gisela Schucht (Bearb.), Barterode, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 1, S. 171 - 178
Berndt Schaller/Eike Dietert, Im Steilhang: der jüdische Friedhof zu Adelebsen. Erinnerung an eine zerstörte Gemeinschaft, Univ. Verlag Göttingen 2010
Jörn Barke (Red.), Awri Gershon. Letzter Zeitzeuge der jüdischen Gemeinde Adelebsen, in: „Göttinger Tageblatt“ vom 15.10.2010
Topographie der Erinnerung Südniedersachsen (Hrg.), Adelebsen: Jüdisches Leben und Verfolgung, online abrufbar unter: erinnernsuedniedersachsen.de
Geschichtswerkstatt Göttingen e.V., Verfolgung und Emigration jüdischer Bürger/innen in Göttingen und Umgebung, online abrufbar unter: juedische-emigration.geschichtswerkstatt-goettingen.de (Anm.: detaillierte Darstellung der während der NS-Zeit getätigten antijüdischen Maßnahmen, hier: Informationen über die Familie Katz, Adelebsen, Lange Straße)
Steven M. Lowenstein (Verf.), Guide to the Records of the Adelebsen Jewish Community circa 1775, 1830-1917, online abrufbar unter: digifindingaids.cjh.org (2015)
David Blank (Bearb.), Jews of Adelebsen, online abrufbar unter: jewsofadelebsen.com (2017)
Göttinger Tora-Wimpel – Restaurierung und Bestandskatalog, online abrufbar unter: museum.goettingen.de/texte/tora_wimpel.htm (vom 13.4.2018)
Jens-Christian Wagner (Red.), ADELEBSEN – Novemberpogrome 1938 in Niedersachsen, Hrg. Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, online abrufbar unter: pogrome1938-niedersachsen.de/adelebsen/
Flecken Adelebsen (Red.), Jüdischer Friedhof zu Adelebsen, online abrufbar unter: adelebsen.de/seite/427737/jüdischer-friedhof.html
Andreas Arens (Red.), Mahnmal für Juden-Deportation: Neue Chance für Adelebser Erinnerungsstele, in: „HNA – Hessische Niedersächsische Allgemeine“ vom 20.11.2020
N.N. (Red.), Adelebsen: Der holprige Weg zum Holocaust-Mahnmal, in: „Göttinger Tageblatt – Eichsfelder Tageblatt“ vom 27.11.2020
Andrea Rechenberg (Hrg.), Gestickte Pracht – Gemalte Welt. De Sammlung Tora-Wimpel im Städtischen Museums Göttingen, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2021
N.N. (Red.), Adelebsen erinnert mit neuer Stele an jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen, in:“Göttinger Tageblatt – Eichsfelder Tageblatt“ vom 20.8.2021
Eike Dietert, ‘Klein-Jerusalem’ - Geschichte der Juden in Adelebsen (in Vorbereitung)