Aerzen (Niedersachsen)
Der Flecken Aerzen mit derzeit ca. 11.000 Einwohnern liegt im Landkreis Hameln-Pyrmont im südlichen Niedersachsen unmittelbar an der Landesgrenze zu Nordrhein-Westfalen (hist. Karte von Lippe, aus: wikiwand.com/de/Landratsamt_Blomberg und Kartenskizze 'Landkreis Hameln-Pyrmont', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Flecken Aerzen – Stich M.Merian um 1650 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Erste Nennungen jüdischer Bewohner im Amt Aerzen bei Hameln stammen aus dem ausgehenden 17.Jahrhundert, sie sind in der Calenberger Kopfsteuerliste verzeichnet. Gegen Ende des 18.Jahrhunderts wurden insgesamt sieben Familien gezählt. Die Mehrheit der Aerzener Juden lebte damals vom Kleinhandel und vom Schlachtgewerbe.
Gegen Ende des 18.Jahrhunderts trafen sich die Juden Aerzens in dem Raum des Privathauses von heine Meier (Herzberg) zu gottesdienstlichen Zusammenkünften; ab den 1850er Jahren verfügte die kleine Gemeinde über einen Synagogenraum in dem Anbau eines Hauses in der Osterstraße. Hier befand sich auch die 1856 eingerichtete Religionsschule, die von 1864 bis 1879 sogar den Status einer Elementarschule besaß. Mit der Abwanderung nahm die Zahl der Schüler jedoch ab, sodass die Schule bald geschlossen wurde.
Eine offizielle Synagogengemeinde, die zum dem Landesrabbinat Hannover gehörte, hatte sich im Jahr 1843 konstituiert. Sie schloss auch die Juden von Groß-Berkel, Hemeringen und Reher ein. Versuche der Hemeringer Juden, sich von der Aerzener Gemeinde zu lösen und sich der von Hessisch-Oldendorf anzuschließen, scheiterten mehrfach.
Auch eine Mikwe gehörte zu den gemeindlichen Einrichtungen.
Die Synagogengemeinde Aerzen verfügte zudem über zwei Begräbnisplätze: Während verstorbene Juden aus Aerzen, Groß Berkel und Reher auf einem Friedhofsareal „An der Kesselbreite“ ihre letzte Ruhe fanden, begruben die Juden Hemeringens ihre Toten auf dem Friedhof „Am Hugenkamp“ in Hemeringen.
Juden in Aerzen:
--- um 1700 ......................... 2 jüdische Familien,* *im Amt Aerzen
--- um 1775 ......................... 5 “ “ ,*
--- 1859 ............................ 9 “ “ ,
--- 1864 ............................ 55 Juden,
--- 1885 ............................ 35 “ ,
--- 1905 ............................ 23 “ ,
--- 1925 ............................ 18 “ ,
--- 1933 ............................ 6 “ ,
--- 1939 ............................ ein “ ().
Angaben aus: Bernhard Gelderblom, Die jüdische Gemeinde Aerzen
Mit der Gründung der Aerzener Maschinenfabrik durch die aus Hannover stammende jüdische Bankiersfamilie Meyer (1864) sowie anderer Betriebe setzte im Ort ein industrieller Aufschwung ein.
Die durch Abwanderung stark dezimierte Gemeinde gab in den 1920er Jahren ihren Synagogenraum auf, 1929 wurde das Gebäude verkauft. Noch in einem Dokument aus dem Jahre 1912 hieß es: „Für das gottesdienstliche Bedürfnis ist in jeder Weise aufs beste gesorgt; die Synagoge befindet sich in einem ausgezeichneten Zustande mit schönster elektrischer Beleuchtung von 15 Flammen. Ein Vorbeter und Schächter sind vorhanden." Die wenigen Juden Aerzens besuchten danach Gottesdienste in der Hamelner Synagoge.
Zu Beginn der NS-Zeit lebten nur noch sehr wenige jüdische Familien in Aerzen und dem Umland. Während einigen noch die Emigration gelang, verzogen die übrigen in größere Städte innerhalb Deutschlands; von hier aus wurden die meisten von ihnen später deportiert. Mindestens neun Aerzener Juden wurden Opfer der NS-Verfolgung.
Mitte der 1920er Jahre hatte sich bei Hameln der „Kibbuz Cheruth”, was „Kommune Freiheit“ bedeutet, gegründet. Seine Mitglieder gehörten dem „Brith Haolin“, dem „Bund der Einwanderer“ an. Diese jungen Zionisten bereiteten sich hier für ihre Emigration nach Palästina vor, indem sie praktische landwirtschaftliche und handwerkliche Tätigkeiten ausübten. Die zum Teil aus Osteuropa stammenden Mitglieder des „Kibbuz Cheruth” lebten in der Nähe von Hameln, Aerzen, Holzhausen und Lügde und arbeiteten zumeist bei Landwirten in der Region. Infolge der Auswanderungen existierte der „Kibbuz Cheruth” nur bis Anfang der 1930er Jahre. In Palästina schlossen sich die jungen Zionisten dem Kibbuz Givat Brenner an.
Der jüdische Friedhof "An der Kesselbreite" am Reherweg - er besitzt eine Fläche von ca. 650 m² - weist heute noch sieben Grabsteine auf; ein Großteil der ehemals hier 40 indlichen Steine soll 1938 zerstört und zum Wegebau benutzt worden sein.
Jüdischer Friedhof (Aufn. A. Hindemith, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und Gerd Fahrenhorst, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
2023 wurde eine Gedenktafel auf dem jüdischen Friedhof am Reherweg eingeweiht.
Das ca. 250 m² große jüdische Friedhofsgelände in Hemeringen befindet sich am Rande des alten Ortskerns an („Am Hugenkamp“); auf dem Areal befinden sich sieben Grabsteine zumeist aus der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, die erhebliche Spuren von Zerstörung tragen.
Jüdischer Begräbnisplatz in Hemeringen (aus: juedisches-niedersachsen.de)
Weitere Informationen:
Wilhelm Köster, Reher - ein Dorf und seine Geschichte, Reher 1976
Ulrich Linse, Kibbuz Cheruth, in: Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde ... Landkommunen in Deutschland 1890 - 1933, dtv-dokumente No. 2934, München 1983, S. 293 - 359
Heinz Georg Armgardt, Aerzen im Wandel der Zeit (3 Bände), Horb 1985/1997
Bernhard Gelderblom (Bearb.), Aerzen, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Bd. 1, S. 97 – 103
Bernhard Gelderblom (Bearb.), Die jüdische Gemeinde Aerzen, in: Zur Geschichte der Juden in Hameln und in der Umgebung, Hameln 2007 (online abrufbar unter: gelderblom-hameln.de/judenhameln/gemeinden/judengemaerzen.php?name=aerzen)
Bernhard Gelderblom (Bearb.), Jüdischer Friedhof in Hemeringen – Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus im Kreis Hameln-Pyrmont, online abrufbar unter: geschichte-hameln.de
N.N. (Red.), Gedenktafel auf dem Friedhof am Reherweg in Aerzen eingeweiht, in:: „DEWEZET“ vom 17.9.2023