Affaltrach (Baden-Württemberg)
Affaltrach ist seit seiner Eingemeindung (1972) ein Ortsteil der Kommune Obersulm mit derzeit ca. 4.500 Einwohnern im östlichen Teil des Landkreises Heilbronn bei Weinsberg (Kartenskizzen 'Landkreis Heilbronn' ohne Eintrag von Obersulm, Abb. aus: ortsdienst.de/baden-wuerttemberg/heilbronn und 'Region um Weinsberg', S. 2006, aus: wikipedia.org CC BY-SA 3.0).
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts gehörte jeder fünfte Ortsbewohner Affaltrachs dem mosaischen Glauben an.
Seit der Mitte des 17.Jahrhunderts haben nachweislich jüdische Familien in Affaltrach gelebt. Ihre Aufnahme hatte die Johanniterkommende Schwäbisch-Hall, die einen Teil der Herrschaftsrechte im Ort besaß, gegen jährliche Schutzgeldzahlungen gestattet. Nach 1700 stieg die Zahl der hier lebenden Juden stetig an; um 1850/1860 erreichte sie mit ca. 220 Personen ihren Höchststand. Die Affaltracher Juden betrieben im 18./19.Jahrhundert vielseitigen Handel, so etwa mit Pferden und Vieh, mit Landesprodukten, aber auch mit Tuchen und Kleintextilien. Die meisten lebten jedoch in recht ärmlichen Verhältnissen, nur wenige Familien brachten es zu bescheidenem Wohlstand. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es im Dorf mehrere Gewerbebetriebe im Besitz jüdischer Familien - so alle drei Schankwirtschaften, zwei von drei Läden des alltäglichen Bedarfs; daneben gab es auch jüdische Handwerker (zwei Metzger, einen Bäcker und einen Tuchmacher). Im Nebenerwerb betrieben viele der jüdischen Familien eine kleine Landwirtschaft.
Bereits im Jahre 1701 findet sich ein erster Hinweis auf eine „Judenschul“, die in einem Privathaus untergebracht war. In der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts nutzten auch die Eschenauer Juden die Synagoge. Als der Betraum den Ansprüchen der angewachsenen Gemeinde nicht mehr genügte und zudem auch baufällig geworden war, ließ man in der Unteren Gasse einen Synagogenneubau errichten, der gegen Ende des Jahres 1851 eingeweiht wurde. Dieses zweigeschossige, aus rötlichem Ziegel gefertigte Gebäude beherbergte neben dem Synagogenraum mit einer umlaufenden Empore auch eine Schule, eine Vorsängerwohnung, ein Frauenbad und eine koschere Küche.
Synagogengebäude in Affaltrach (hist. Aufn., um 1930)
Eine jüdische Konfessionsschule gab es in Affaltrach seit 1849; ihre Vorgängerin war eine seit Ende des 18.Jahrhunderts bestehende Religionsschule, die im Hause des Vorsängers eingerichtet gewesen war. Um 1880 hatten sich die Affaltracher und Eschenauer Juden zu einer „Schulgemeinschaft“ zusammengeschlossen, die den jüdischen Kindern beider Orte zugute kam; diese Schule wurde zunächst als „Wanderschule“ betrieben, später hatte sie ihren Sitz in Eschenau und von 1887 bis zu ihrer Auflösung (um 1900) in Affaltrach.
Das zuständige Rabbinat der Affaltracher Kultusgemeinde war zunächst Lehrensteinfeld und später Heilbronn.
Familie Levy vor einer zum Laubhüttenfest aufgebauten Sukka (Aufn. um 1900, aus: commons.wikimedia.org, CCO)
Bereits gegen Mitte des 18.Jahrhunderts hatte die jüdische Gemeinschaft im Ort eine „Judenherberge“ eingerichtet, in der fremde und mittellose durchreisende Glaubensgenossen Unterkunft fanden.
Der um 1665/1670 angelegte Friedhof lag außerhalb des Ortes am nordwestlichen Hang des Salzberges; er nahm auch verstorbene Juden aus der nahen Umgebung auf, so aus Eschenau, Lehrensteinfeld und Talheim.
Friedhof mit Taharahaus (Aufn. J. Hahn, 2010) - teilversunkener Grabstein von Ascher Lämmle (Aufn. P. Schmelzle, 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Juden in Affaltrach:
--- um 1680 ......................... 3 jüdische Familien,
--- um 1720 ......................... 7 “ “ ,
--- 1737 ............................ 14 “ “ ,
--- 1788 ............................ 22 “ “ ,
--- 1806 ............................ 110 Juden,
--- 1818 ............................ 83 “ ,
--- 1828 ............................ 135 “ (ca. 13% d. Einw.),
--- 1845 ............................ 175 “ ,
--- 1858 ............................ 219 “ (ca. 20% d. Einw.),
--- 1869 ............................ 151 “ ,
--- 1886 ............................ 79 “ ,
--- 1900 ............................ 59 “ (ca. 8% d. Einw.),
--- 1910 ............................ 28 “ ,
--- 1933 ............................ 19 “ ,
--- 1938 ............................ 10 “ ,
--- 1941 ............................ 6 “ ,
--- 1943 ............................ keine.
Angaben aus: W.Angerbauer/H.G.Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, S. 18/19
In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts verzogen viele jüdische Bewohner von Affaltrach nach Heilbronn, da ihnen dort die Niederlassung ermöglicht worden war, andere wanderten nach Amerika aus.
Da die Zahl der Gemeindeangehörigen sich nun immer mehr verringert hatte und man um die Lebensfähgkeit als Kultusgemeinde fürchtete, schloss man sich um die Jahrhundertwende mit der Gemeinde Eschenau zusammen; dabei wurde die Synagoge in Eschenau aufgegeben.
Kleinanzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 30.Nov. 1903
Zu Beginn der NS-Zeit lebten in Affaltrach nicht einmal mehr 20 Juden; im Ort gab es nur noch ein in jüdischem Besitz befindliches Manufakturwarengeschäft und eine Viehhandlung. Die Nationalsozialisten des Dorfes brachten die Ortsbewohner bald dazu, die jüdischen Geschäfte zu meiden und deren Besitzer auszugrenzen; Schikanen gegenüber den wenigen noch hier lebenden Juden ergänzten diese Maßnahmen.
Während des Novemberpogroms wurde die Inneneinrichtung der Synagoge von SA-Angehörigen aus Weinsberg schwer demoliert und auch Wohnungen jüdischer Familien wurden zerstört. Die israelitische Gemeinde löste sich alsbald auf; zwischen 1941 und 1943 wurden die letzten sechs jüdischen Bewohner aus Affaltrach deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind nachweislich 15 gebürtige bzw. längere Zeit in Affaltrach ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/affaltrach_synagoge.htm).
Nach dem Krieg verfiel das einstige Synagogengebäude zusehends; auf Initiative des hiesigen Pfarrers und eines 1985 gegründeten „Vereins zur Erhaltung der Synagoge Affaltrach” begannen in den 1980er Jahren Arbeiten zum Erhalt des Gebäudes. 1988 konnte das restaurierte ehemalige Synagogengebäude - nachdem es zunächst als Notunterkunft und dann lange Jahre als Möbellager genutzt worden war - der Öffentlichkeit übergeben werden. Seitdem dient es als Dokumentationszentrum und Museum für die Geschichte der jüdischen Gemeinden in der Region und als Begegnungsstätte. Betreut wird das Gebäude von dem seit Mitte der 1990er Jahre bestehenden „Freundeskreis Ehemalige Synagoge Affaltrach”.
Restauriertes Synagogengebäude (Aufn. Rosenzweig 2006 und P. Schmelzle, 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Seit 2012 ist hier die neue Dauerausstellung „Jüdisches Zwangsaltenheim Eschenau“ zu sehen; diese zeichnet die Schicksale der ca. 110 alten jüdischen Menschen nach, die 1941/1942 von den NS-Behörden ins Schloss Eschenau zwangsumgesiedelt worden waren. Nach neun Monaten menschenunwürdiger Unterbringung im Eschenauer Zwangsaltenheim wurden die Bewohner via Theresienstadt in die Vernichtungslager deportiert, wo die meisten von ihnen den Tod fanden.
Der jüdische Friedhof, der die NS-Zeit relativ unbeschadet überstanden hatte, war in den 1950er/1960er Jahren Ziel blinder Zerstörungswut; zahlreiche Grabsteine wurden umgestürzt, andere zerschlagen. Von Mitgliedern des „Vereins zur Erhaltung der Synagoge Affaltrach“ wurden in den 1990er Jahren die mehr als 600 erhaltengebliebenen Steine dokumentiert. Das älteste Grab datiert von 1677, das jüngste von 1942.
Teilansichten des Friedhofs (Aufn. Rosenzweig, 2008 und P. Schmelzle, 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Zwei sog. „Stolpersteine“ erinnern seit 2014 an das Schicksal der beiden jüdischen Einwohner Ernst und Civia Selz; die Familie Selz wohnte bis 1941 in ihrem Haus in Affaltrach (heute Eckhaus Am Ordensschloss/Schulgasse).
Acht Jahre später wurden weitere fünf Steine verlegt, so u.a. zwei für die Familie Levy in der Weilerstraße.
August Thalheimer wurde 1884 in Affaltrach als Sohn einer sozialistisch eingestellten jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Nach seinem Studium der Sprachwissenschaft und der Völkerkunde – mit Promotion 1907 an der Universität Straßburg – war er bei verschiedenen Tageszeitungen als Redakteur tätig. Als aktives Mitglied der SPD gehörte Thalheimer dem linken Flügel an und gehörte 1918 zu den Gründungsmitgliedern der KPD; als deren Parteitheoretiker entwarf er das Parteiprogramm. Von 1923 bis 1928 wirkte August Thalheimer als Dozent am Marx-Engels-Institut in Moskau. 1928 kehrte er nach Deutschland zurück. Nach der NS-Machtübernahme ging er ins Exil nach Frankreich, von dort Jahre später nach Kuba. Thalheimer verstarb 1948 in Havanna und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Guanabacao begraben.
Bertha Thalheimer, dessen ältere Schwester (geb. 1883), studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin und gehörte wie ihr Bruder dem linken Parteiflügel der SPD an. Aktiv an Antikriegsdemonstrationen beteiligt wurde sie 1917 zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Im November 1918 kam sie frei und gehörte zu den Mitbegründern der KPD und des Roten Frauen- und Mädchenbundes. 1929 wurde sie aus der Partei ausgeschlossen. 1943 erfolgte ihre Deportation nach Theresienstadt. Sie überlebte, kehrte nach Stuttgart zurück und engagierte sich erneut für linke Politik. Bis zu ihrem Tod 1959 war sie als Redakteurin bei einer Zeitschrift tätig.
Eine weitere israelitische Gemeinde gab es auch im Obersulmer Ortsteil Eschenau.
[vgl. Eschenau (Baden-Württemberg)]
Weitere Informationen:
Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, W.Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1966, S. 25/26
Wolfram Angerbauer, Zum Bau der Affaltracher Synagoge, in: Schwaben und Franken. Heimatgeschichtliche Beilage der “Heilbronner Stimme”, Mai 1985
Wolfram Angerbauer/H.G.Frank, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn. Geschichte - Schicksale - Dokumente, in: "Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn, Hrg. Landkreis Heilbronn", 1986, S. 17 - 24
Joachim Hahn, Synagogen in Baden-Württemberg, Stuttgart 1987, S. 83 - 85
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 245 f.
Wolfram Angerbauer, Synagoge Affaltrach. Museum zur Geschichte der Juden im Kreis und Stadt Heilbronn. Ausstellungskatalog, 1989
Kreis und Stadt Heilbronn (Hrg.), Synagoge Affaltrach (Katalog), Heilbronn 1989
Martin Ritter/Benjamin Nir, Der jüdische Friedhof von Affaltrach, Obersulm 1995
Martin Ritter, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Affaltrach, in: Obersulm. Sechs Dörfer – eine Gemeinde, Kommune Obersulm 1997, S. 324 - 335
Reto Bosch, Der jüdischen Geschichte begegnen, in: ‘Heilbronner Stimme’ - Lokales vom 9.11.2001
Martin Ritter, Der jüdische Friedhof in Affaltrach (Volldokumentation), Hrg. Freundeskreis Ehemalige Synagoge Affaltrach, 2001
Martin Ritter, Dokumentation zur Synagoge von Affaltrach, Hrg. Freundeskreis Ehemalige Synagoge Affaltrach, 2001
Affaltrach, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Theodor Bergmann, Die Thalheimers. Die Geschichte einer Familie undogmatischer Marxisten, Hamburg 2004
Martin Ritter, Die Synagoge und der jüdische Friedhof in Affaltrach, in: Orte des Gedenkens und Erinnerns in Baden-Württemberg, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 2007, S. 284 - 288
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 357 - 360
Museum Synagoge Affaltrach (Hrg.), Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (Synagoge – Friedhof – Museum), online abrufbar unter: synagoge-affaltrach.de
SWR-Redaktion, „Aktion Stolpersteine“ in Heilbronn und Obersulm Goldene Wackersteine erinnern, Sendung vom Juni 2014
Martin Ritter, Die jüdische Gemeinde Affaltrach, hrg. vom Freundeskreis ehemalige Synagoge Affaltrach, 2017
Jüdischer Kulturweg (Hrg.), Die jüdische Gemeinde Affaltrach. Gemeinde Obersulm, online abrufbar unter: juedischer-kulturweg-heilbronnerland.de/die-juedische-gemeinde-affaltrach
Sabine Friedrich (Red.), Inschriften auf den Grabsteinen des jüdischen Friedhofs Affaltrach würdigen die Toten, in: stimme.de vom 8.9.2021
Margit Stöhr-Michalsdky (Red.), 13 Stolpersteine erinnern in Weinsberg und Obersulm an ermordete oder vertriebene jüdische Bürger, in: stimme.de vom 30.3.2022