Aussig (Böhmen)
Das an der Elbe gelegene nordböhmische Aussig – zur Stadt erhoben im Jahr 1228 - ist das heutige tschechische Ústí nad Labem mit derzeit ca. 93.000 Einwohnern. Die Stadt hatte 1939 eine überwiegend deutsche Einwohnerschaft; diese wurde 1945 z.g.T. vertrieben (hist. Landkarte von ca. 1720, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Tschechien' mit Ústí nad Labem farbig markiert, M. 2007, aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Vereinzelt sollen sich Juden bereits im Laufe des 16.Jahrhunderts hier zeitweilig aufgehalten haben; danach war es ihnen untersagt, in der Stadt zu leben.
Erst ab etwa 1850 konnten sich jüdische Familien in Aussig dauerhaft niederlassen, denn als „Königliche Stadt“ hatte Aussig das Privileg, in seinen Mauern keine Juden dulden zu müssen. Zu den ersten, zumeist aus dem nahen Teplitz-Schönau stammenden Familien gehörten die Familien Hammerschlag, Katz, Levi und Mahler.
In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts nahm die Zahl jüdischer Bewohner dann rasch zu. Mit ihrem Anwachsen ging die Gründung des jüdischen Kultusvereins im Jahre 1863 einher, aus dem wenige Jahre später die „Israelitische Kultusgemeinde Aussig“ wurde. Fast zeitgleich wurde am Ort ein jüdischer Friedhof angelegt, der rund vier Jahrzehnte genutzt wurde; eine 1872 organisierte Chewra Kadischa sorgte für die Abwicklung der Begräbnisse.
Grabmale auf dem alten Friedhof, um 1910 (aus: commons.wikimedia.org, CCO)
Ab 1895 stand dann ein Teil des allgemeinen städtischen Friedhofs für die verstorbenen jüdischen Gemeindemitglieder zur Verfügung stand.
Zeremonienhalle auf dem neuen jüdischen Friedhof (hist. Aufn., um 1910)
Lipmann Deller war der erste in Aussig tätige Religionslehrer (bis 1879); ihm folgte Levi Weintraub nach.
Den Bau der Synagoge in der Kleinen Wallgasse vollendete man bereits im Jahre 1880, nachdem zuvor eine Finanzierung durch Spenden der Gemeindemitglieder sichergestellt worden war. Die feierliche Einweihung nahm der Teplitzer Rabbiner Dr. Arthur Rosenzweig vor.
Aus dem „Aussiger Anzeiger” vom 1.9.1880: „ ... Es muß mit ... stolzer Genugtuung erfüllen, wenn man sieht, daß ihre Bemühungen, ein der Gemeinde würdiges Gotteshaus zu erbauen, vom besten Erfolge begleitet waren und hat sie sich durch diesen Prachtbau bei ihren Nachkommen ein bleibendes Denkmal für ewige Zeiten gesetzt. ...”
Synagoge in Aussig (hist. Aufn. um 1905)
Der erste Rabbiner der Aussiger Kultusgemeinde wurde 1888 in sein Amt eingeführt. Zu seinen Nachfolgern zählten Dr. Arthur Rosenzweig (1909-1919) und danach Dr. J. Stoessler.
Juden in Aussig:
--- um 1845 ......................... keine Juden,
--- 1872 ............................ 37 “ ,
--- 1880 ............................ 295 “ (1,6% d. Bevölk.),
--- 1890 ............................ 479 “ ,
--- 1900 ............................ 840 “ ,
--- 1910 ............................ 984 “ ,
--- 1921 ............................ 976 “ (ca. 2,5% d. Bevölk.),
--- 1930 ............................ 985 “ ,
--- 1939 ............................ 955 “ ,* * ‘Reichsangehörige’
--- 1942 (Mai) .................. ca. 200 “ ,
--- 1948 ........................ ca. 800 " ,
--- 1951 ........................ ca. 50 “ ,
--- 2004 ........................ ca. 40 “ .
Angaben aus: Rudolf M. Wlaschek, Juden in Böhmen, in: Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Band 66, S. 25
Aussig, Postkarte um 1910 (Abb. aus: wikipedia.org, PD-alt)
Während des Ersten Weltkrieges erreichten jüdische Flüchtlinge aus Galizien die Stadt; da die Gemeinde nicht an deren Integration interessiert war, bewegte man sie – finanziell unterstützt – anderswo eine Bleibe zu suchen.
In den 1920er Jahren fanden zionistische Ideen zunehmend Eingang in die Gemeinde - vor allem bei den jüngeren Mitgliedern. Ausdruck dieser Einstellung war dann ein in Aussig eingerichtetes Ausbildungslager, das der Vorbereitung für die Auswanderung nach Palästina diente.
Ab Mitte der 1930er Jahre waren die ersten Anzeichen antisemitischer Hetze zu verspüren, die die reicheren Juden der Stadt zur Auswanderung bewog. Zu den prominentesten Familien, die sich im Sommer 1938 ins Ausland in Sicherheit brachten, gehörten die ‚Kohlenbarone’ Petschek und Weinmann.
Noch vor dem Einmarsch der Deutschen zerschlugen fanatisierte Nationalsozialisten die Auslagen jüdischer Geschäfte; danach kam es zu weiteren Ausschreitungen. Während des Novemberpogroms wurden Juden in ihren Wohnungen und auf offener Straße verhaftet und anschließend auf Leiterwagen durch die Stadt gekarrt. In einer Meldung des Aussiger Landrats vom 6.1.1939 an die Dienststelle der Gestapo über antijüdische Demonstrationen hieß es u.a., dass sich Ende des Jahres 1938 in der Stadt 62 jüdische Geschäfte befänden, die während des Novemberpogroms aber nicht zerstört worden waren. Die hiesige Synagoge wurde am 31.12.1938 „von der Bevölkerung spontan” beschädigt. In dem unzerstörten Gebäudeteil richtete danach ein Aussiger Metzger seinen Betrieb ein.
Ende 1941/Anfang 1942 wurden die Aussiger Juden in größeren Gruppen zwangsweise umgesiedelt, auch die „in Mischehe“ verheirateten Juden waren davon betroffen. Vorläufiges Ziel war das Internierungslager im Schloss der Gemeinde Schönwald im Erzgebirge; von hier aus folgte die Deportation nach Theresienstadt oder direkt in die Vernichtungslager im besetzten Polen.
Von den 1.250 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Aussigs überlebten knapp 200 den Krieg in der Emigration. Unmittelbar nach Kriegsende kehrten nur drei einheimische jüdische Familien nach Aussig zurück.
Anm.: Der von den Nationalsozialisten „arisierte“ Besitz der Aussiger Juden wurde nach dem Krieg erneut konfisziert, Grundlage dafür lieferten die sog. „Benes-Dekrete“.
Im Jahre 1945 trafen in Aussig auch einige hundert Juden aus dem Gebiet der von der UdSSR annektierten Karpato-Ukraine ein. 1948 zählte man in der Stadt etwa 800 Personen mosaischen Glaubens. Sie blieben jedoch nicht auf Dauer, sondern verließen mehrheitlich bereits wenige Jahre später auf Grund kommunistischer Verfolgung das tschechoslowakische Staatsgebiet in Richtung Westen, wobei die staatlichen Behörden die Ausreise nicht - wie sonst üblich - behinderten. Gegenwärtig gibt es in Ústi nad Labem eine aus ca. 40 Mitgliedern bestehende jüdische Gemeinschaft.
In unmittelbarer Nähe des ehemaligen alten Friedhofs - hier befindet sich heute ein Parkgelände - hat die Stadt im Jahre 2005 ein Mahnmal aufstellen lassen: Ein halb aus dem Boden herausragender Davidstern aus Granit soll an die einstige große jüdische Gemeinde erinnern. Für den Großteil der Kosten für das Mahnmal kam die jüdische Gemeinschaft allerdings selbst auf. Der Aussiger Oberbürgermeister Petr Gandalovic sagte bei der Enthüllung des Denkmals: “Dieses Mahnmal erinnert nicht nur an die tragischen Ereignisse, als die jüdischen Bewohner der Stadt in den Jahren 1938-1945 Opfer des Nazi-Regimes wurden. Sondern das Mahnmal wird auch an jene Jahre erinnern, in denen sich jüdische Bürger bedeutend am Leben der Stadt beteiligten. Sie haben das Antlitz von Usti nad Labem mitgestaltet und sich um den Aufschwung der Stadt verdient gemacht.“
Holocaust-Mahnmal (Aufn. Ladilav Faigl, 2006 bzw. 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Das jüdische Areal auf dem städtischen Friedhof war bereits im Jahre 1953 aufgelöst und die noch vorhandenen Grabsteine verkauft worden; auf dem Gelände steht die Produktionsstätte eines Aussiger Chemiebetriebs.
hist. Ansicht vom Zentrum von Karbitz (aus: oldthing.de)
In Karbitz (tsch. Chabařovice, derzeit ca. 2.500 Einw.) – knapp zehn Kilometer westlich von Aussig gelegen – wurden jüngst (2018) 13 sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an ehemalige jüdische Bewohner des Ortes erinnern, die deportiert und ermordet wurden. Die Initiative ging gemeinsam von privater deutscher und tschechischer Seite aus
eines der Gedenktäfelchen (Aufn. aus: denki.cz)
Weitere Informationen:
J. Stößler (Bearb.), Geschichte der Juden in Aussig a.d.E., in: Hugo Gold (Hrg.), Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I., Brünn/Prag 1934, S. 19 - 22
Ferdinand Seibt (Hrg.), Die Juden in den böhmischen Ländern. Vorträge der Tagung des Collegiums Carolinum in Bad Wiessee (November 1981), Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1983
Rudolf M. Wlaschek, Juden in Böhmen - Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 66, R.Oldenbourg-Verlag, München 1997
Intoleranz - Tschechen, Deutsche und Juden in Aussig und Umgebung 1938 - 1948, Edition der Dokumente aus den Beständen des Archivs der Stadt Aussig, albis international, Ústi nad Labem 1998, S. 35
Vladimír Kaiser, Die jüdische Gemeinde in Aussig/Ústí nad Labem im 19. und 20.Jahrhundert, in: Die Juden im Sudetenland, Hrg. Ackermann-Gemeinde, und Krestanska Akademie, Prag 2000, S. 235 - 254
Helena Krejcová, Die jüdische Gemeinde im Sudetenland und ihre Schicksale nach dem Münchener Abkommen - 1938, in: Die Juden im Sudetenland, Hrg. Ackermann-Gemeinde, und Krestanska Akademie, Prag 2000, S. 140 f.
The Encyclopedia of Jewish Life before und during the Holocaust, New York University Press, 2001, Vol. 3, S. 1364
Tomas Fedorovic, Die Judenverfolgung im Sudetenland (unter besonderer Berücksichtigung des Regierungsbezirkes und der Stadt Aussig), in: "Theresienstädter Studien und Dokumente", No. 12/2005, S. 276 - 315
T. Fedorovic/V. Kaiser, Historie židovské komunity v Ústí nad Labem, Mìsto Ústí nad Labem 2005 (auch in englischer Übersetzung vorliegend)
Martina Schneibergová, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Usti nad Labem/Aussig, in: radio.cz vom 22.10.2005
Jörg Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938 - 1945, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 105, Verlag R. Oldenbourg, München 2006
The Jewish Community of Usti nad Labem, Hrg. Beit Haitfutsot – The Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/usti-nad-labem
Jewish Families of Ústí nad Labem (Aussig), Bohemia, Czech Republic, online abrufbar unter: geni.com/projects/Jewish-Families-of-%25C3%259Ast%25C3%25AD-nad-Labem-Aussig-Bohemia-Czech-Republic/15112
13 Stolpersteine enthüllt, in: Deutschland-today vom 3.5.2018 (betr. Stolpersteine in Karbitz)
WB (Red.), Gemeinsam gedenken – Steinheimer Autorin Sandra Brökel finanziert Stolpersteine in Tschechien, in: „Westfalen-Blatt“ vom 15.8.2018
Kateřina Čapková /Hillel J. Kieval (Hrg.), Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 140, München 2020