Bad Vilbel (Hessen)

 Jüdische Gemeinde - Staden/Wetterau (Hessen) Wetteraukreis Karte Bad Vilbel ist mit derzeit ca. 36.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt im hessischen Wetteraukreis; sie grenzt an den nördlichen Stadtrand von Frankfurt/Main (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Wetteraukreis', aus: ortsdienst.de/hessen/wetteraukreis).

 

Seit etwa 1660/1670 sind jüdische Familien in Vilbel, einem Dorf an der Nidda, durch Gerichtsprotokolle urkundlich nachweisbar; ob sie schon vor dieser Zeit hier ansässig waren, ist nicht eindeutig nachweisbar. Die im 17./18.Jahrhundert hier wohnenden Schutzjuden-Familien lebten meist vom Klein- und Viehhandel; ihre Wohnungen hatten sie alle in der Judengasse, dem heutigen Wasserweg. Die „Schutzjuden“ unterstanden in Vilbel bis 1816 einer Doppelherrschaft, und zwar der von Hanau-Münzenberg und der von Kurmainz, erst danach kamen sie alle unter die Herrschaft des Großherzogtums Hessen.

Einen Betraum gab es hier seit dem 18.Jahrhundert; die zuletzt benutzte Synagoge - ein Fachwerkhaus in der Frankfurter Straße - wurde vermutlich zu Beginn des 19.Jahrhunderts eingeweiht. Eine Religionsschule war seit etwa 1820 in Betrieb. Der Unterricht fand in einem Raum der Synagoge statt; die Gemeinde verpflichtete den Religionslehrer meist nur für einen befristeten Zeitraum. Seine Aufgaben sind wie folgt beschrieben: „ ... Als Lehrer ist derselbe verpflichtet, täglich, vor- und nachmittags, in hebräischen Lesen, Schreiben, Religionsunterreicht, und alles was zur Bildung und Sittlichkeit der Jugend notwendig ist, zu unterrichten.”

         

         Skizze der ehem. Synagoge (Stadtarchiv Bad Vilbel)           ehem. Synagogengebäude (Aufn. um 2000)

 

 Kleinanzeigen aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 14.11.1877 und vom 28.5.1900

Nordöstlich der Ortschaft, am Gronauer Weg, liegt der seit ca. 1845 bestehende jüdische Friedhof. Vor seiner Einrichtung hatte man Verstorbene auf dem jüdischen Friedhof in Bergen-Enkheim beigesetzt. Wahrscheinlich war bereits in früheren Jahrhunderten eine jüdische Begräbnisstätte in der Gemarkung von Bad Vilbel vorhanden, wie die Flurbezeichnung „Am Judenkirchhof“ vermuten lässt.

Juden in (Bad) Vilbel:

        --- um 1690 ........................   3 jüdische Familien,

--- um 1750 ........................   5     “       “    ,

--- 1775 ...........................   8     “       “    ,

    --- 1814 ...........................  14     “       “    ,

    --- 1830 ...........................  86 Juden (ca. 4% d. Bevölk.),

    --- um 1850 .................... ca. 120   “  ,

    --- 1861 ........................... 107   “   (3,5% d. Bevölk.),  

    --- 1871 ........................... 101   “  ,

    --- 1880 ........................... 113   “   (ca. 3% d. Bevölk.),

    --- 1910 ...........................  83   “  ,

    --- 1925 ...........................  69   “  ,

    --- 1932 ...........................  83   “  ,* * Gemeinde

    --- 1933 ...........................  65   “   (ca. 1% d. Bevölk.),

    --- 1943 ...........................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die Jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 324

und                 Berta Ritscher, Geschichte der Vilbeler Juden - Von der Integration zur Deportation

 

    Ak Bad Vilbel in Hessen, Rathaus, Marktplatz hist. Postkarte, um 1895 (Abb. aus: akpool.de)

Die Juden in Vilbel betrieben vor allem Handel mit Landesprodukten, etwa Vieh und Früchten. Um 1920 gab es mehrere jüdische Metzger, zwei Bäcker und einige Handwerker.

Nachdem wenige Wochen nach der NS-Machtübernahme in Vilbel der Bürgermeister und ein Teil des Gemeinderates ‚ausgewechselt’ worden waren, übernahm hier die SA bzw. NSDAP die Herrschaft. Ein Aufruf von Ende März 1933 stimmte die Bevölkerung der Region auf den Boykotttag ein. Während des Novemberpogroms wurde die Inneneinrichtung der Synagoge in der Frankfurter

Straße geschändet. Das Gebäude selbst blieb von einer Brandlegung bewahrt, da es bereits Monate zuvor in „deutschen Besitz“ übergegangen war. Nach dem Demolieren des Synagogenraumes drangen SA-Angehörige und HJ-Mitglieder in Geschäfte und Wohnungen jüdischer Einwohner ein und zerschlugen hier die Inneneinrichtungen. Der jüdische Fabrikant Selig starb an den Folgen der Verletzungen, die ihm der Mob zugefügt hatte.

Während etwa 20 vorwiegend jüngeren Juden die Emigration gelang, verzogen die meisten anderen nach den „November-Aktionen“ in größere Städte der Region, besonders nach Frankfurt/M. Die in Vilbel zurückgebliebenen zumeist älteren Menschen wurden im Herbst 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Zuvor waren sie in einem kleinen Hause am Wasserweg zwangsweise zusammengelegt worden.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind mindestens 19 gebürtige bzw. längere Zeit in Bad Vilbel ansässig gewesener Bewohner jüdischen Glaubens Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden; anderen Angaben zufolge waren es mehr als 20 Personen (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/bad_vilbel_synagoge.htm).

Drei Jahre nach Kriegsende fand vor der Strafkammer des Landgerichts Gießen ein Prozess gegen 20 Personen statt, die am Pogrom in Vilbel aktiv beteiligt waren.

 

Der während der letzten Kriegsjahre teilzerstörte jüdische Friedhof - auch die Friedhofsmauer wurde stark beschädigt und weitgehend abgetragen - musste im Herbst 1945 auf Anordnung der US-Militärbehörden wiederhergestellt werden. Da auf Grund der Schändung die einzelnen Beerdigungsplätze nicht mehr exakt zu ermitteln waren, markieren die heute hier befindlichen Grabsteine nicht mehr tatsächlich die zugehörigen Gräber.

 http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20380/Bad%20Vilbel%20Friedhiof%209424.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20380/Bad%20Vilbel%20Friedhiof%209429.jpg

Jüdischer Friedhof in Bad Vilbel (beide Aufn. Stefan Haas, 2015, aus: alemannia-judaica.de)

In den 1970er Jahren versuchten jüdische Neubürger, wieder an die Geschichte der ehemaligen Gemeinde anzuknüpfen. Es sollte aber noch Jahre dauern, ehe es zur Gründung einer Gemeinde kam; diese von Raffael Zur begründete Kultusgemeinde setzte sich in ihren Anfängen aus ca. 40 Angehörigen zusammen.

Das 1988 im Zusammenhang der Wiederbegründung der jüdischen Gemeinde eröffnete „Jüdische Diaspora-Museum” – auf Initiative des Frankfurter Kaufmanns Michael Messmer zustande gekommen - schloss bereits fünf Jahre später wieder seine Pforten, weil die zur Unterhaltung des privaten Museums notwendigen finanziellen Mittel nicht vorhanden waren. An der Außenwand des Gebäudes wurde 1989 eine Gedenktafel angebracht:

Zum Gedenken an die 1933 - 1945

verfolgten, verschleppten und ermordeten jüdischen Bürger Vilbels.

 Auf einer kleinen Grünfläche beim Alten Rathaus erinnern zwei Gedenksteine – geschaffen von der Steinmetzbildhauerin Ruths - an die verfolgten und ermordeten jüdischen Einwohner der Stadt. Die beschriftete Granitstele und ein Findling mit Davidstern wurden im November 1999 eingeweiht (Aufn. Maria Ochs, aus: kultur-bad-vilbel.de).

Eine Gedenktafel an der ehemaligen Synagoge in der Frankfurter Straße - das Gebäude ist heute in Privatbesitz - vermisst man allerdings.

2006 wurden die ersten sog. „Stolpersteine“ in Bad Vilbel verlegt; in den Folgejahren kamen weitere hinzu; derzeit zählt man ca. 25 Steine; die allermeisten sind im Gehweg vor Häusern in der Frankfurter Straße und Homburger Straße zu finden.

sechs Steine verlegt in der Frankfurter Straße (alle Aufn. Guido Arnold, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

verlegt für Fam. Wechsler in der Bahnhofstraße

Simon Wechsler handelte mit Getreide, Futter- und Düngemitteln und verdingte sich auch als Fuhrmann. Beim Novemberpogrom wurde die Wohnung der Familie gestürmt u. demoliert und deren Bewohner misshandelt. Simon Wechsler verstarb wenige Wochen später an den Folgen der ihm zugefügten Verletzungen.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die Jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 324/325

Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945 ?, Königstein i.Ts. 1988, S. 182

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 313 f.

Berta Ritscher, Geschichte der Vilbeler Juden - Von der Integration zur Deportation, in: "Bad Vilbeler Heimatblätter", Band 45, Hrg. Bad Vilbeler Verein für Geschichte u. Heimatpflege e.V., Bad Vilbel 1999

Bad Vilbel, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Köhnkow (Red.), Bad Vilbel: Steine des Erinnerns vor fünf Häusern verlegt, in: „Wetterauer Zeitung“ vom 19.2.2009

Monica Kingreen, „Lehrer mit Leib und Seele“ Erst geachtet, dann verfolgt. Das Leben des Dr. Albert Chambre (1888-1938), Leiter der Realschule in Bad Vilbel, in: "Bad Vilbeler Heimatblätter. Heimatkundliche Mitteilungen", Bd. 51, Bad Vilbel 2009  

Verlegung von Stolpersteinen in Bad Vilbel, online abrufbar unter: kultur-bad-vilbel.de (2009)

Meike Kolodziejczyk (Red.), Die Last der Geschichte, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 21.1.2012

Anna Lena Gerlach (Red.), Stolpersteine erinnern an ermordete Juden. Zum Stolpern eingeladen, in: „Frankfurter Neue Presse - Bad Vilbeler Neue Presse“ vom 21.1.2016

Dieter Deul (Red.), Jüdische Gemeinde: Rafael Zurs Erbe bewahren, in: „Frankfurter Neue Presse – Bad Vilbeler Neue Presse“ vom 15.2. 2017

Aufllistung der in Bad Vilbel verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Bad_Vilbel

Jürgen Schenk (Red.), Jüdischer Friedhof Bad Vilbel: Geschändet und wieder aufgebaut, in: „Wetterauer Zeitung“ vom 20.9.2020

Christine Fauerbach (Red.), Steine gegen das Vergessen poliert, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 30.1.2023