Berlichingen (Baden-Württemberg)
Berlichingen mit derzeit ca. 700 Einwohnern ist seit Anfang der 1970er Jahre ein Ortsteil der Kommune Schöntal im Hohenlohekreis – zwischen Heilbronn im SW und Bad Mergentheim im NO gelegen (Ausschnitt aus Karte 'Frankenbahn' ohne Eintrag von Berlichingen, kj. 2007, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und Kartenskizze 'Hohenlohekreis', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die jüdische Gemeinde von Berlichingen mit ca. 250 Angehörigen ihren personellen Zenit; damals gehörte jeder 5. Dorfbewohner dem mosaischen Glauben an.
Eine erste urkundlich belegte jüdische Ansiedlung im Marktflecken Berlichingen erfolgte ab der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts. Unter dem Schutz der Herren von Berlichingen erhielten jüdische, meist aus Städten vertriebene Familien ein Wohnrecht. Wie die Herren von Berlichingen, so nahm auch das reichsunmittelbare Kloster Schöntal, das ebenfalls Anteil an der Herrschaft über das Dorf hatte, Juden auf. Dieser gemeinschaftliche Judenschutz führte wiederholt zu Spannungen zwischen dem weltlichen und geistlichen Schutzherrn: Während die Herren von Berlichingen darauf bedacht waren, „ihre“ Juden als Einnahmequelle zu nutzen und deshalb ihre Anzahl zu erhöhen, zielte die Politik des Klosters Schöntal, das dem Erzbistum Mainz unterstand, darauf, möglichst wenige jüdische Familien zu dulden. Zudem strebten die Herren von Berlichingen danach, den Judenschutz ausschließlich für sich in Anspruch zu nehmen, also verboten sie „ihren“ Juden, das Kloster Schöntal als Mitobrigkeit anzuerkennen und dem dortigen Abt zu huldigen.
Um 1750 lebten in Berlichingen 16 jüdische Familien: Neun Familien „gehörten“ den Freiherren von Berlichingen, sechs unterstanden beiden Ortsherrschaften gemeinsam und eine Familie dem Kloster Schöntal. Mit der Säkularisierung des Klosters Schöntal im Jahre 1803 kam das Dorf unter württembergische Herrschaft.
Aus einem Pfarrbericht des Kath. Kirchenamtes von 1813: „ ... Nebst den Katholiken befinden sich im Pfarrdorfe Juden, und zwar nach der Seelenzahl 136 Individuen. Diese Judengemeinde hat ihre eigene Synagoge und ihren eigenen Begräbnisort außerhalb des Dorfes. Benannte Gemeinde ist verbunden, über die Geburten, Copulationen und Sterbefälle dem Pfarramte die Anzeige zu machen, weil von demselben die jährliche Populations- und Konskriptionslisten der Juden müssen gefertigt werden. .... Die Häuser der Juden sind 25 (gegenüber 162 der Katholiken), die Seelenzahl 136 gegenüber 1.054 Katholiken. ...”
Während das 18.Jahrhunderts fanden Gottesdienste in einem Betraum im Obergeschoss eines Privathauses am Tränkweg/an der Mühlgasse statt. 1805/1806 ließ die jüdische Gemeinde dann in der Mühlgasse eine Synagoge bauen; an der Rückseite befand sich eine Mikwe.
Gebäude, in dem der alte Betsaal untergebracht war (Zeichnung, um 1920, aus: S. Berlinger)
Synagoge in der Mühlgasse (Mitte rechts im Bild) und Innenraum mit Frauenempore (hist. Aufn.)
1832 wurde Berlichingen Sitz eines Rabbinats, das die Gemeinden Berlichingen, Ernsbach, Nagelsberg und Olnhausen umfasste; dieses Rabbinat bestand bis um 1850. Zeitweilig existierte während des 19.Jahrhunderts auch eine jüdische Schule.
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5.Dez. 1877
Der etwa zwei Kilometer außerhalb des Ortes, hoch über dem Jagsttal gelegene Friedhof der Berlichinger Judenschaft war bereits um 1625 angelegt worden. Das Gelände war den Juden zu diesem Zweck von der Berlichinger Herrschaft überlassen worden. Dieser Verbandsfriedhof diente auch zahlreichen kleinen jüdischen Gemeinden des Umlandes als deren Begräbnisstätte, so u.a. Verstorbenen aus Adelsheim, Bieringen, Hohebach, Hollenbach, Krautheim, Künzelsau, Merchingen, Nagelsbach und Sennfeld; er war der größte Landfriedhof Nordwürttembergs. Die ältesten noch vorhandenen Grabsteine stammen aus den Jahren 1662/1674.
Juden in Berlichingen:
--- um 1650 ....................... 25 ‘Schutzjuden’,
--- 1749 .......................... 16 “ ,
--- 1813 .......................... 136 Juden (ca. 12% d. Dorfbev.),
--- 1824 .......................... 169 “ ,
--- um 1845 ................... ca. 250 “ (ca. 20% d. Dorfbev.),
--- 1869 .......................... 192 “ ,
--- 1886 .......................... 121 “ ,
--- 1900 .......................... 89 “ ,
--- 1910 .......................... 95 “ (ca. 9% d. Dorfbev.),
--- 1933 .......................... 68 “ ,
--- 1939 ...................... ca. 20 “ ,
--- 1941 (Dez.) ................... 4 “ ,
--- 1942 (Sept.) .................. keine.
Angaben aus: P. Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, ..., S. 49
und Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. 327
Ihren Lebensunterhalt verdienten die Berlichinger Juden mit dem Handel, vor allem dem überregionalen Viehhandel. Einige Familien kamen zu einigem Wohlstand, doch die Mehrzahl lebte eher in bescheidenen Verhältnissen; dies galt insbesondere für die über Land ziehenden Kleinhändler. Auch zwei koschere Gastwirtschaften gab es im Ort.
Mit der in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts einsetzenden Abwanderung der Juden verlor Berlichingen seine Bedeutung als wirtschaftlicher Mittelpunkt des weiten ländlichen Umlands. Das Verhältnis zwischen christlicher Mehrheit und jüdischer Minderheit war nicht immer so entspannt und ausgeglichen wie in den Jahren der Weimarer Republik. Doch blieben Vorurteile und Abneigungen - wenn auch verborgen - in dieser Zeit bestehen. Wie sehr die Ressentiments der Vergangenheit noch in der Gegenwart weiterlebten, beweist die Tatsache, dass es in Berlichingen keine Heiraten zwischen Juden und Christen gab, auch gehörten den örtlichen Vereinen keine Juden an. - Erste antisemitische Schmierereien - Scheunentore wurden mit Hakenkreuzen bemalt - waren bereits vor 1933 zu verzeichnen, obwohl die NSDAP in Berlichingen nur von untergeordneter Bedeutung war - mehrheitlich wurde hier die Zentrumspartei gewählt. Während des reichsweit angeordneten Boykottages postierten sich auch in Berlichingen auswärtige SA-Leute mit „Kauft nicht bei Juden”-Schildern, doch lief die Aktion ins Leere, weil die strenggläubigen Juden am Sabbat ihre Geschäfte geschlossen hielten. Eine weitere ‚Aktion’ führte die NSDAP am 1.Mai aus: Etwa 80 ortsfremde SA-Leute marschierten durch das Dorf und skandierten antijüdische Lieder. Diese propagandistischen Maßnahmen zeigten allmählich auch bei der Dorfbevölkerung Wirkung. Kontakte zu einheimischen Juden wurden reduziert, Pöbeleien nahmen zu, und auch Anschläge auf den jüdischen Friedhof waren nun zu verzeichnen. Die wirtschaftliche Grundlage der hiesigen Judenschaft wurde immer brüchiger, da sich die „arischen“ Käufer zunehmend von Geschäften mit Juden abhalten ließen. Die Verschlechterung der Lebensverhältnisse zwang immer mehr jüdische Familien zum Verlassen ihres Heimatdorfes, nur ältere und ärmere Familien blieben zurück.
Während des Novemberpogroms von 1938 rückten Berlichinger und Schöntaler Nationalsozialisten - verstärkt durch solche aus den Nachbarorten - in einer ‚Nachtaktion’ zunächst zur Synagoge vor, drangen gewaltsam ein und zerstörten die Inneneinrichtung vollständig, und auch die Ritualien wurden herausgerissen und entweiht. Später wurde das Synagogengebäude durch Kriegseinwirkung völlig zerstört und danach abgetragen. Anschließend ging die randalierende Menge gegen die Wohnungen der Juden vor: Haustüren wurden eingetreten und Fenster zerschlagen. Einige jüdische Männer wurden festgenommen und ins KZ Dachau verfrachtet. Aus einer Kurzmeldung im „Kocher- und Jagstboten” vom 11.11.1938:
Volkszorn gegen die Juden
Künzelsau, 11.Nov. Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten ... haben sich im ganzen Reich spontane judenfeindliche Kundgebungen entwickelt. ... Der Zorn des Volkes galt in erster Linie den Brutstätten des jüdischen Verbrechergeistes, den Synagogen. Diese wurden gestern in Künzelsau, Hohebach, Berlichingen und Braunsbach zerstört.
Im Juli 1939 wurde die jüdische Gemeinde Berlichingen für aufgelöst erklärt. Die wenigen im Dorf zurückgebliebenen, meist älteren Juden brachten die NS-Behörden - bis auf vier - Ende November 1941 per LKW ins Stuttgarter Sammellager „Auf dem Killesberg“. Von dort wurden sie gemeinsam mit vielen anderen ins Ghetto von Riga deportiert. Mitte August 1942 wurden dann die letzten vier Juden, allesamt hoch betagt, ‚abgeholt’ und nach Theresienstadt verschleppt.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 58 aus Berlichingen stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene Juden Opfer der NS-Verfolgung (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: .alemannia-judaica.de/berlichingen_synagoge.htm).
Im Eingangsbereich des jüdischen Friedhofs in (Schöntal)-Berlichingen, dem ältesten und - mit seinen heute noch fast 1.200 Grabsteinen - größten im Hohenlohekreis, erinnert seit 1985 auch ein Gedenkstein mit ausführlicher Informationstafel an die jüdische Gemeinde und die während des NS-Regimes verschleppten und ermordeten Juden.
Teilansicht des Friedhofs (Aufn. X., 2010, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Alte Grabmäler auf dem jüdischen Friedhof in Berlichingen (Aufn. X., 2010, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Abb. X., 2010, aus: wikipedia.org, gemeinfrei
Im Schöntaler Ortsteil Bieringen existierte bis um 1870/1880 eine kleine jüdische Gemeinde, deren Wurzeln bis ins ausgehende 16.Jahrhundert reichen. Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts gehörten ihr maximal etwa 55 Mitglieder an. Als Filialgemeinde war Bieringen dem nahen Berlichingen angeschlossen. Für Gottesdienste suchte man zumeist die Berlichinger Synagoge auf, obwohl in Bieringen ein ‚Betlocal’ im Haus einer jüdischen Familie existierte. Verstorbene Gemeindeangehörige wurden in Berlichingen beerdigt.
Um 1900 waren alle jüdischen Dorfbewohner abgewandert.
Aus Bieringen stammte Ludwig Lämmlein Stern (geb. 1824), der einer der Begründer der jüdischen Lehrervereine in Bayern und Württemberg war.
Weitere Informationen:
Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1966, S. 49 - 51
Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Dissertation (Universität Tübingen), Nagold 1969
Heinrich Kühner, Das Ende der Judengemeinde in Berlichingen, in: "Mitteilungsblatt des Heimatkundlichen Arbeitskreises Möckmühl", No. 6 - 9 (1981) und No. 1 (1982)
Jürgen Hermann Rauser, Ortsgeschichte Bieringen, in: "Schöntaler Heimatbuch 1982", S. 257
Gerhard Wilhelm Daniel Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 60
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 267 - 269
Sonderdruck zur 50.Wiederkehr des Reichskristallnacht - Ehemalige Synagoge Berlichingen
Simon Berlinger, Synagoge und Herrschaft - Vierhundert Jahre jüdische Landgemeinde Berlichingen, Regio Verlag Glock & Lutz, Sigmaringendorf 1991
Martin Frey/Stefan Kraut, ... und lebten unter uns - Juden in Künzelsau. Sonderdruck aus dem "Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken", Bd. 77/1993, Künzelsau 1993, S. 3 f.
Heimatbuch Schöntal - Ausgabe anläßlich der 1200-Jahr-Feier, Hrg. Gemeinde Schöntal, S. 132 ff.
Michael Brocke/Christiane E. Müller, Haus des Lebens - Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Reclam Verlag Leipzig 2001, S. 117 - 119
Naftali B.G. Bamberger, Memor-Buch. Die jüdischen Friedhöfe im Hohenlohekreis (2 Bände), Hrg. Landratsamt Hohenlohekreis, 2002
Eva Maria Kraiss/Marion Reuter, Bet Hachajim - Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Württembergisch Franken, Swiridoff Verlag, Künzelsau 2003, S. 104 - 111
Gerhard Taddey (Hrg.), ... geschützt, geduldet, gleichberechtigt ... Die Juden im baden-württembergischen Franken vom 17.Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreiches (1918), in: "Forschungen aus Württembergisch Franken", Band 52, Ostfildern 2005, S. 88 - 90 und S. 189 f.
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 417 - 420 (incl. Bieringen)
Berlichingen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Text- und Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Arbeitskreis Jüdischer Kulturweg. Hohenlohe – Tauber (Bearb.), Schöntal – Berlichingen (und weitere Orte) – Broschüre (Hinweis: auch online abrufbar unter: juedischer-kulturweg.de - letzte Aktualisierung Mai 2018)
Monika Breusch (Red.), Jüdisches Leben in Berlichingen und Schöntal, in: “Meine Stimme” vom 7.7.2021
Oliver Maria Schmitt (Red.), Friedhof von Berlichingen - Ein Gruß vom Götz, in: “FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung” vom 16.8.2021