Boizenburg/Elbe (Mecklenburg-Vorpommern)

Grafschaft Dannenberg 1250.pngBildergebnis für Boizenburg ortdienst.de Die Kleinstadt Boizenburg a.d.Elbe mit ihren ca. 11.000 Einwohnern ist heute die am weiten im Westen gelegene Kommune des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern (hist. Landkarte, aus: wikipedia.org, CCO  und  Kartenskizze 'Kreis Ludwigslust-Parchim', aus: ortsdienst.de/mecklenburg-vorpommern/ludwigslust-parchim).

 

Bei der Verleihung des Lübischen Rechts an die Stadt Boizenburg im Jahre 1267 scheinen bereits jüdische Familien hier gelebt zu haben. Denn in einer Urkunde der Grafen Gunselin III. und Helmold II. zu Schwerin aus dem Jahre 1267 wurden Juden in Boizenburg ausdrücklich erwähnt.

Ende des 15.Jahrhunderts mussten - im Zuge der allgemeinen Vertreibungen aller Juden aus Mecklenburg nach dem Pogrom von Sternberg (1492) - auch die Juden Boizenburgs ihre Wohnsitze verlassen.

F Wachenhusen Boizenburg.jpg Markt in Boizenburg Ende des 19.Jahrh. (Abb. aus: commons.wikimedia.org, CCO)

Erst ab der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts schienen wieder einzelne jüdische „Handelsleute“ in Boizenburg ansässig gewesen zu sein, die als „Schutzjuden“ des Herzogs bzw. des späteren Großherzogs zu Mecklenburg diesem abgabepflichtig waren. Die ersten belegbaren Hinweise sind zwei Schutzbriefe, die im Jahre 1753 auf die beiden Juden Abraham Salomon und Joseph Levin ausgestellt worden waren. Für dieses Wohn-Privileg mussten beide jährlich je 12 Reichstaler Schutzgeld zahlen. (Anm.: Schutzbriefe wurden hier übrigens bis ca. 1845 ausgestellt! ) Die Anwesenheit jüdischer Handelsleute stieß aber auf den Unwillen des Boizenburger Stadtrates, der für seine Handwerker und Kaufleute unliebsame Konkurrenz fürchtete.

Das Vorhandensein einer selbstständigen jüdischen Kultusgemeinde kann erst gegen Mitte des 19.Jahrhunderts nachgewiesen werden. Seit 1768 besaßen die Juden Boizenburgs einen eigenen Friedhof auf einer Anhöhe am westlichen Stadtrand und seit 1799 eine Synagoge in der Kleinen Wallstraße; das Boizenburger Synagogengebäude war ein reiner Fachwerkbau.

Bereits in den 1840er Jahren befand sich das Gebäude - trotz permanenter Reparaturen - in einem verfallenen Zustand. 1864 erfolgte deshalb eine größere Instandsetzung und Modernisierung der Synagoge - auch mit finanzieller Unterstützung der Landesregierung; so wurde u.a. auch die aus Fachwerk gestaltete Front- und Rückseite mit einer gemauerten Ziegelsteine-Fassade verkleidet.

 

Ehem. Synagogengebäude (Aufn. infestus, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Die Wiedereröffnung und feierliche Einweihung der umgebauten Synagoge Ende September 1864 erfolgte durch den Landesrabbiner Dr. Salomon Cohn. Über dieses "Ereignis" erschien im „Wochenblatt für Boizenburg, Hagenow, Wittenburg und Umgebung” am 1.Oktober 1864 folgender Bericht:

28.September. Gestern fand die Einweihung der hiesigen neu erbauten Synagoge statt. Das Gebäude, eine Zierde der Stadt, ist in neuem Styl erbaut, von innen und außen ein freundliches, seinem Zweck entsprechendes Gotteshaus.  Nachmittags 3 Uhr bewegte sich der Festzug unter passender Musikbegleitung ... durch einen Theil der Stadt. Vorauf gingen vier kleine Mädchen, in deren Mitte ein Knabe, mit einem Kissen den Schlüssel der Synagoge tragend, hieran schlossen sich die jungen Damen, alle weiß gekleidet, denen folgten die drei Bauwerkmeister, die Behörden der Stadt und des Amtes, der Landesrabbiner und die Träger der sehr schön geschmückten fünf Thorarollen, ... Angekommen am Portal der Synagoge überreichte der Vorsteher ... dem Herrn Bürgermeister ... den Schlüssel zur Synagoge. In der kleinen Ansprache bei der Überreichung des Schlüssels hob derselbe hervor, wie durch göttliche Gnade und Hülfe wohlthätiger Menschen dies Haus aufgebaut sei und sprach dem Herrn Bürgermeister für dessen reges und freundliches Entgegenkommen zur Förderung des Baues seinen Dank aus, worauf Herr Bürgermeister Bürger nach einer kurzen aber treffenden und herzlichen Ansprache an die israelitische Gemeinde die Thür der Synagoge öffnete. ... Eingeleitet wurde diese (Feier) durch deutsche und hebräische Gesänge, worauf der Landesrabbiner, Herr Dr. Cohn, die Weihpredigt hielt ... Im Schlußgebet gedachte er auch vor Allem Sr.Königl. Hoheit dem Großherzog und Ihrer Königl. Hoheit der Frau Großherzogin ebenso Ihrer Königl. Hoheit der Frau Erbgroßherzogin, welche der kleinen Gemeinde zum Aufbau des Gotteshauses aufs Huldvollste reiche Spenden zu Theil werden ließen. Ein Schlußgesang endete die schöne und würdige Feier.

 

Wegen stark schwindender Mitgliederzahlen konnte das Synagogengebäude nicht mehr unterhalten werden und wurde 1892 an die Freimaurerloge "Vesta zu den drei Türmen" verkauft. Die wenigen noch verbliebenen jüdischen Gemeindemitglieder trafen sich nun im Betraum eines Privathauses.

1934 ließen die Nationalsozialisten das Logenhaus schließen; die Kommune übernahm nun das Gebäude und nutzte es fortan als Heimatmuseum.

Juden in Boizenburg:

         --- um 1765 ......................  4 jüdische Familien,

    --- 1805 .........................  5    "        "   ,

    --- 1810 ......................... 36 Juden,

    --- 1819 ......................... 51   “  ,

    --- 1828 ......................... 63   “  ,

    --- 1846 ......................... 38   “  ,

    --- 1892 ......................... 19   “  ,

    --- 1910 ......................... 10   “  ,

    --- 1924 .........................  3 jüdische Familien,

    --- 1933 .........................  2     “       “    ,

    --- 1937 .........................  2 Juden.

Angaben aus: Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Band III, S. 1024 f.

 

Da während der NS-Zeit in Boizenburg außer einem 90jährigen Kaufmann und seiner Tochter keine Juden mehr lebten, kam es hier zu keinen Ausschreitungen. Die letzte jüdische Familie verließ Boizenburg im Jahre 1937.

Der Versuch der lokalen NS-Behörden, das jüdische Friedhofsgelände wegen einer dort beabsichtigten Überbauung aufzulassen, scheiterte jedoch am Urteil des Mecklenburgischen Landesverwaltungsgerichts (1938), das sich für einen Fortbestand des Friedhofs aussprach. Das Gelände war zwar in der Folgezeit der Verwahrlosung ausgesetzt, doch kam es hier zu keinen mutwilligen Zerstörungen.

In der letzten Kriegsphase 1944/45 wurde auf dem Elbberg in Boizenburg ein Außenlager des KZ Neuengamme (das „KZ Vier”) errichtet, in dem etwa 400 bis 600 junge ungarische Jüdinnen untergebracht waren. Sie waren aus dem KZ Auschwitz-Birkenau hierher verlegt worden, um in der Rüstungsproduktion bei der Boizenburger Werft und Thomsen & Co. zu arbeiten. Ende April 1945 wurde das Außenlager in Boizenburg geräumt. Nach einem fünftägigen Evakuierungsmarsch wurden die etwa 400 jungen Frauen in Groß Laasch von US-Truppen befreit.

 

Das ca. 700 m² große jüdische Friedhofsgelände „In den Turnereichen“ (am Lauenburger Postweg) überstand die NS-Zeit relativ unbeschadet; mehrfache Schändungen erfolgten erst Jahrzehnte später; die letzte geschah im Jahre 2018. Heute findet man hier noch ca. 30 - 40 Grabsteine - mit z.T. nicht mehr lesbaren Inschriften.

Jüdischer Friedhof Boizenburg.JPG

Eingangspforte und Blick auf den Friedhof (Aufn. infestus, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Vom einheimischen Schriftsteller Knut Wolfgramm liegt das folgende Gedicht über diesen Friedhof vor:

Stille

Winternachmittagsweiß

Moses treibt zu den Seinen

Unter dem harschen Schweigetuch

Ahnt er gefrorenes Weinen

Ihn hindern nicht Mauer

Noch verschlossenes Tor

Bei seinen Brüdern zu sein

Asche krallt sich an Bäumen empor

Fällt neben Aarons Gebein

Und schläft dort tief

Und manches Jahr

Unter Davids verwitterndem Stern

Schritte Flüstern überm Granit

Niemals mehr Lärm

 

Auch das Synagogengebäude ist erhalten geblieben; eine Gedenktafel erinnert heute an die einstige Nutzung des Hauses. Seit 1993 gehörte es wieder den Freimaurern, die es schließlich zum Kauf anboten. Jüngst hat das Gebäude wieder einen neuen Nutzer gefunden: die „Guru Ram Das Aquarian Academy“. 

                   Rückfront des ehem. Synagogengebäudes (Aufn. Infestus, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

 

 

Weitere Informationen:

Erika Will, Jüdische Vergangenheit in Boizenburg, in: Boizenburg, Beiträge zur Geschichte der Stadt Nr. III, Hrg. Heimatmuseum Boizenburg, Boizenburg 1985

Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden 1990, Band III, S. 1024 f.

Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 23

Jürgen Borchert/Detlef Klose, Was blieb .... Jüdische Spuren in Mecklenburg, Verlag Haude & Spener, Berlin 1994, S. 48/49 und S. 102

M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum, Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 265/266

Ilse Ständer, Das Außenlager Boizenburg des KZ Neuengamme, Hrg. Heimatmuseum Boizenburg, 1996

Werner Schinko (Red.), Die Synagoge in Boizenburg, in: „Mecklenburg-Magazin“, No. 19/1996, S. 2

Irene Diekmann (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Mecklenburg-Vorpommern, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 1998, S. 83 - 97

Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation II, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1999, S. 396/397

Norbert Francke/Bärbel Krieger, Schutzjuden in Mecklenburg. Ihre rechtliche Stellung, ihr Gewerbe ..., Hrg. Verein für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg u. Vorpommern e.V., Schwerin 2002

Heidi Vormann, Synagogen in Mecklenburg – Eine baupflegerische Untersuchung, in: Schriftenreihe der Bet Tfila-Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa, Band 20, Braunschweig 2011

Jürgen Gramenz/Sylvia Ulmer, Ehemaliges jüdisches Leben in Boizenburg, in: Geschichte der Juden in Mecklenburg, Aufsatz vom 26.9.2015, in: juden-in-mecklenburg.de/Orte/Boizenburg

N.N. (Red.), Boizenburg: „Eine Zierde der Stadt“, in: "Mecklenburg-Magazin" vom 5.2.2016 (online unter: svz.de/regionales/mecklenburg-vorpommern/mecklenburg-magazin)

N.N. (Red.), Jüdischer Friedhof in Boizenburg geschändet, in: "Nordkurier" vom 13.9.2018