Boppard/Rhein (Rheinland-Pfalz)
Boppard ist eine vom Weinbau geprägte Kleinstadt mit derzeit ca. 16.000 Einwohnern im oberen Mittelrheintal im äußersten Norden des Rhein-Hunsrück-Kreises - etwa 25 Kilometer südlich von Koblenz (Ausschnitte aus hist. Landkarten um 1900, aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Ansicht von Boppard am Rhein – Stich M. Merian, um 1645 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Spätestens im 12.Jahrhundert hat sich in Boppard eine jüdische Gemeinde gebildet; denn bei den Judenverfolgungen der Jahre 1179 und 1196 waren auch sich hier aufhaltende Juden betroffen; mehrere sollen gesteinigt und danach im Rhein ertränkt (1179) bzw. vom heimischen Pöbel erschlagen worden sein (1196). Die Bürger der Stadt mussten für die Ermordung bzw. Duldung dieser Taten anschließend eine Schadensersatzzahlung an den Kaiser leisten. Im Jahre 1287 kam es in Boppard und Oberwesel zu schweren antijüdischen Ausschreitungen, denen etwa 40 Personen zum Opfer fielen; Auslöser für diesen Pogrom war eine Ritualmordbeschuldigung. Die Bopparder Juden lebten um 1200 und danach ghettoartig in der „Judengasse“; eine Synagoge ist erstmals aus dem Jahre 1356 bezeugt.
Zu Beginn des 14.Jahrhunderts geriet Boppard unter die Herrschaft des Trierer Erzstifts; damit kamen die hier lebenden Juden in ein neues Schutz- und Abhängigkeitsverhältnis. Ein weiterer Pogrom im Gefolge der sich von Mainfranken her ausbreitenden „Armleder-Ausschreitungen“ traf 1337 auch wieder Juden in Boppard. Ein marodierender Pöbel erschlug jüdische Bewohner und bemächtigte sich ihres Eigentums. Zwei Jahrzehnte später suchten die Pest-Verfolgungen die kleine jüdische Gemeinde heim, die nun endgültig zerstört wurde.
Abb. auf einem Weinflaschenetikett des Weingutes Höffling – bezugnehmend auf die jüdische Geschichte Boppards (Sammlung J. Hahn)
Erst ab dem 16.Jahrhundert lassen sich wieder vereinzelt jüdische Familien in Boppard nachweisen, die unter einem befristeten Schutzverhältnis des Trierer Erzbistums standen. Ausweisungs- und Duldungsdekrete, aber auch willkürliche Reglementierungen, sog. „Judenordnungen“, folgten nun in unregelmäßigen Zeitabständen und machten das jüdische Leben in der Region unsicher. Die feindselige Umgebung tat noch ein übriges.
Die neuzeitliche jüdische Gemeinde in Boppard, die jahrelang Gottesdienste in einem beengten Raum in der "Judengasse" abgehalten hatte, konnte im September 1867 in der Bingergasse ihre Synagoge einweihen. Zwei Jahre zuvor war dieser Gebetsraum bei einem Brand der "Judengasse" zerstört worden; als Provisorium stand dann ein Betraum in der Rheingasse zur Verfügung. Die Finanzierung des Synagogenbaues kam mittels einer Umlage der jüdischen Familien Boppards, durch Spenden und einen Zuschuss der Kommune zustande. Über die Einweihung, die der in Koblenz tätige Rabbiner Ben Israel leitete, wurde wie folgt berichtet: "... Aus dem gemieteten Zimmer in der Rheingasse kamen die Vorsteher der Gemeinde mit der Tora oder den zehn Geboten, welcher der Rabbiner mit dem Gemeinderat der Stadt pp. folgte; hier entwickelte sich eine Prozession, bei welcher ihre Heiligtümer unter einem schönen Baldachin getragen wurden. Mit Musik an der Spitze bewegte sich der große Zug bei schönstem Wetter nach der neuen, mit grünen Maien und Fahnen geschmückten Synagoge. Ben Israel, der Rabbiner aus Koblenz, hielt die Festrede und leitete den ersten Gottesdienst. ...”
rechts: einzig erhaltenes Foto der Synagoge (Aufn. 1938)
Für die Verrichtung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer angestellt; neben seiner unterrichtlichen Tätigkeit übte er zugleich das Amt des Vorbeters und Schächters aus.
Stellenanzeigen von 1901 und 1909
Ihre Verstorbenen begrub die Bopparder Judenschaft im Mittelalter zunächst auf dem Kölner, später auf dem Koblenzer Judenfriedhof. Der jüdische Friedhof in Boppard-Buchenau am Osthang des Mittelbachtales ist vermutlich im beginnenden 17.Jahrhundert angelegt worden, denn der älteste Grabstein datiert von 1605. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Toten der jüdischen Gemeinde von Boppard jedoch überwiegend in Holzfeld, dem Friedhof der Hirzenacher Gemeinde, beigesetzt.
Juden in Boppard:
--- um 1670 ........................ 6 jüdische Haushalte,
--- 1755 ........................... 4 jüdische Familien,
--- 1781 ........................... 11 “ “ ,* * mit Hirzenach/Salzig
--- 1803 ........................... 53 Juden,
--- 1835/37 .................... ca. 60 “ ,
--- 1847 ........................... 70 “ (in 14 Familien),
--- 1858 ........................... 75 “ ,
--- 1895 ........................... 77 “ ,
--- 1925 ........................... 97 “ ,
--- 1932/33 ........................ 92 “ ,
--- 1942 (April) ................... 32 “ ,
(Juni) .................... 2 “ ,
--- 1943 ........................... keine.
Angaben aus: Karl-Josef Burkard, Geschichte der Bopparder Juden
Burgplatz um 1850 - Lithografie (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Noch bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts lebte der Großteil der Bopparder Juden vom Trödel- und Hausierhandel; nur eine Minderheit besaß feste Ladengeschäfte. Dies änderte sich aber bald, denn nach 1860 bildeten Kaufleute in verschiedenen Branchen, vor allem im Textilbereich, im Produkten- und Viehhandel die Majorität unter den Bopparder Juden.
Geschäftsanzeigen aus den 1870er Jahren
Auch ihre Einbindung in das kleinstädtische Leben hatte große Fortschritte gemacht, so gehörten hier ansässige Juden verschiedenen lokalen Vereinen an.
Antijüdische Aktivitäten im Rahmen des reichsweiten Boykotts fanden auch in Boppard statt: Vor Geschäften postierten SA-Angehörige, die mit Plakaten Kaufwillige vor dem Betreten der Läden warnten. Obwohl sich im zentrumsorientierten Boppard der Aufstieg der NSDAP nur langsam vollzogen hatte, waren die folgenden Jahre von Schikanen und Gewaltakten gegen den jüdischen Bevölkerungsteil gekennzeichnet. Treibende Kraft war hier vor allem der NSDAP-Ortsgruppenleiter Fisy, der mit von ihm selbst gesteuerten „Aktionen“ die Öffentlichkeit gegen die jüdischen Einwohner aufzubringen versuchte.
Vorläufiger Höhepunkt der antijüdischen Gewalt war auch in Boppard der Novemberpogrom 1938: Angehörige der Allgemeinen SS zogen zusammen mit Polizeiangehörigen in Gruppen durch die Straßen der Stadt, durchsuchten jüdische Wohnungen, zertrümmerten Inventar und nahmen die jüdischen Männer fest. Auch die Synagoge in der Binger Gasse wurde „unbrauchbar“ gemacht; Kultgegenstände und ein Teil der Inneneinrichtung wurde auf den Vorhof geschleppt und angezündet. Danach wurden die inhaftierten Juden gezwungen, ihre Synagoge nun vollständig zu zerstören. Ein Teil der Männer wurde anschließend ins KZ Dachau verschleppt.
Bis 1940 war es etwa zwei Drittel der Bopparder Juden gelungen zu emigrieren, vor allem in die USA, nach Südafrika und nach Südamerika.
Aus dem politischen Lagebericht des Bopparder Amtsbürgermeisters vom 3.Jan. 1941:
" .. Einen unangenehmen Eindruck machen die immer noch insbesondere im Gebiet der Stadt Boppard vorhandenen zahlreichen Juden. Es wäre zu begrüßen, wenn die Auswanderung der Juden oder ihre Entfernung aus dem Stadtgebiet und damit aus hiesiger Gegend in irgendeiner Weise möglich gemacht werden könnte. ...”
Im April 1942 wurden dann die meisten, etwa 20 bis 30 jüdischen Bewohner Boppards - eskortiert von der Polizei - in Richtung Bad Salzig geführt, wo man sie bis zu ihrer endgültigen Deportation im Hotel "Zum Schwan“ internierte. Ende April bzw. Ende Juli 1942 erfolgte ihr Abtransport in die Ghettos und Lager im besetzen Polen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 55 aus Boppard stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der „Endlösung“ (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/boppard_synagoge.htm).
In den Jahren 1949 bzw. 1951 mussten sich Hauptbeteiligte des Novemberpogroms in Boppard vor der Strafkammer des Koblenzer Landgerichts verantworten: Ein Teil wurde zu geringen Haftstrafen verurteilt, der andere „mangels Beweisen“ freigesprochen.
Nur ein einziger der verschleppten Bopparder Juden überlebte den Holocaust; er kehrte nach seiner Befreiung hierher zurück.
Die alte Synagoge in Boppard - das Gebäude war jahrzehntelang als Tischlerei genutzt und in ihrem äußeren Erscheinungsbild dabei deutlich verändert worden war - wurde nach 1990 von dem neuen Eigentümer renoviert und behutsam restauriert; das Gebäude rückte nun auf Grund dieser Privatinitiative wieder ins öffentliche Bewusstsein. Seit 2002 ist die ehemalige Synagoge in Boppard Teil des UNESCO-Welterbes Oberes Mittelrheintal.
Ehem. Synagogengebäude und Eingang (Aufn. Robert Holz, 2008, aus: commons.wikimedia.org, CCO)
Das mehr als 4.000 m² große Friedhofsgelände - ältestes und größtes unter den wenigen am Mittelrhein erhaltenen jüdischen Begräbnisarealen – ist von einer Mauer/Zaun umgeben. Während die ältesten Grabsteine im hinteren Bereich stehen, befinden sich die Gräber aus dem 19./20. Jahrhundert im vorderen Teil. Das jüngste Grab stammt von 1961.
Der jüdische Friedhof in Boppard-Buchenau (beide Aufn. R. Hoekstra, 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Der jüdische Friedhof in Boppard-Buchenau ist bereits 1992 in die Liste denkmalsgeschützter „Bauwerke“ aufgenommen. Seit 2002 erinnert - auf dem Vorgelände des Friedhofs in Buchenau - ein Mahnmal an alle während der NS-Diktatur zu Tode gekommenen Einwohner der Stadt.
Nach längeren kontroversen Diskussionen entschied sich 2016 der Stadtrat, sog. "Stolpersteine" zu verlegen; 2017 wurden dann die ersten zwölf Steine an fünf Standorten in die Gehwegpflasterung Bopparder Straßen eingefügt; ein Jahr später folgten weitere fünf in der Pützgasse und vier in der Wasemstraße.
Rheinallee (Aufn. R., 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
in der Wasemstraße (Aufn. A.Tewes, 2023, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im Dorfe Hirzenach, heute ein Ortsteil von Boppard, gab es ebenfalls eine kleine jüdische Gemeinde, die aber nie mehr als 50 Angehörige zählte. Ab Mitte der 1850er Jahre besaß die Hirzenacher Judenschaft eine neue „stattliche“ Synagoge, die ein älteres Gebäude ablöste, das dem Bau der Rheintalbahn hatte weichen müssen. Der an der Hauptstraße gelegene Neubau wurde bis ins Jahr 1908 genutzt. Verstorbene wurden auf dem Friedhof in Holzfeld begraben; dieses Areal war von zwei Hirzenacher Familien erworben und um 1900 als Eigentum der jüdischen Gemeinde übertragen worden. Durch Aus- und Abwanderung verringerte sich die Zahl der Gemeindemitglieder nach 1850 stetig, und um 1930 lebten nur noch zwei jüdische Familien im Dorf.
vgl. Hirzenach (Rheinland-Pfalz)
In Bad Salzig – ebenfalls Ortsteil von Boppard, nur wenige Kilometer stromaufwärts des Kernortes – wurde jüngst vor dem ehemaligen Hotel „Zum Schwan“ eine „Stolperschwelle“ verlegt, die an die 23 Juden/Jüdinnen erinnert, die in diesem Gebäude interniert waren und im April 1942 von hier „in den Osten“ deportiert wurden.
Der Text auf der messingfarbenen Schwelle lautet: „8.April 1942 Hier im Hotel ‚Zum Schwan‘ wurden die Juden des Kreises St. Goar interniert, darunter 23 Bopparder Juden, deportiert in Ghettos oder Vernichtungslager vom Güterbahnhof Koblenz-Lützel 30.April 1942“ (Aufn. A. Tewes, 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0).
Weitere Informationen:
Mordechai Bernstein, Das Märtyrerstädtchen Boppard, in: "Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland" vom 15.6.1951
Ernst Roth, Die Geschichte der jüdischen Gemeinden am Rhein im Mittelalter, in: "Monumenta Judaica", Köln 1963, S. 60 ff.
Friedrich P. Kahlenberg, Jüdische Gemeinden am Mittelrhein, in: F.-J. Heyen (Hrg.), Zwischen Rhein und Mosel. Der Kreis St. Goar, Boppard 1966, S. 360 – 372
Germania Judaica, Band II71, Tübingen 1968, S. 96/97 und Band III/1, Tübingen 1987, S. 139/140
Alexander Stollenwerk, Juden in Boppard, in: "Rund um Boppard" (Juli-Ausgaben 1969)
Geschichtsverein für Mittelrhein u. Vorderhunsrück (Hrg.), Das alte Boppard in Bildern, Koblenz 1983
Karl-Josef Burkard, Juden in Boppard 1925 - 1942. Der Weg einer mittelrheinischen jüdischen Gemeinde in den Holocaust (Vortrag), in: "Rund um Boppard", 45/1988, S. 47 - 51
Karl-Josef Burkard, Geschichte der Bopparder Juden, in: "Beiträge zur jüdischen Geschichte in Rheinland-Pfalz, Ergebnisse landeskundlicher Forschungen", 2.Jg., 1992, Heft 3, S. 53 - 66
Karl-Josef Burkard, Zur Geschichte der Bopparder Judengasse, in: "Rund um Boppard", März 1993
Karl-Josef Burkard, Emil Kaufmann - Schicksal eines jüdischen Mitbürgers, in: "Rund um Boppard", 29/1993
Karl-Josef Burkard/Hildburg-Helene Thill, Bopparder Synagoge - kein Kulturdenkmal ?, in: "SACHOR - Beiträge zur jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz", Heft 8, 3/1994, S. 28 - 34
Karl-Josef Burkard/Hildburg-Helene Thill, Unter den Juden - Achthundert Jahre Juden in Boppard, Hrg. Geschichtsverein für Mittelrhein und Vorderhunsrück, Dausner-Verlag, Boppard 1996
Christof Pies, Jüdisches Leben am Rhein - Hunsrück-Kreis, in: 100 Jahre Hunsrücker Geschichtsverein e.V. 1901 - 2001, No. 116 (Sondernummer), Jahrgang 41/2001, S. 380 – 395
Doris Spormann/Willi Wagner, Zur Geschichte der Juden in St. Goar, Werlau und Hirzenach, in: Jüdisches Leben im Rhein-Hunsrück-Kreis, Hrg. Hunsrücker Geschichtsverein, 2003
Christof Pies, Jüdisches Leben im Rhein-Hunsrück-Kreis, in: "Schriftenreihe des Hunsrücker Geschichtsvereins e.V.", No. 40, 2003, S. 119 f.
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff, „... und dies ist die Pforte des Himmels“.Synagogen. Rheinland-Pfalz und Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 124 - 126
Boppard, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Historie der alten Synagoge Boppard und deren Erscheinungsbild nach der (privaten) Restaurierung, online abrufbar unter: optiker-holz.de/synagoge/historie.htm
Volker Boch (Red.), 16 Stolpersteine erinnern an Schicksale in der Nachbarschaft, in: „Rhein-Zeitung“ vom 19.5.2017
Volker Boch (Red.), Stolpersteine – Boppard erinnert an verfolgte frühere Mitbürger – Zwei Platten gestohlen, in: „Rhein-Zeitung“ vom 19.5.2017
Volker Boch (Red.), In Boppard werden weitere Stolpersteine verlegt: Aktion findet breite Basis, in: "Rhein-Zeitung" vom 8.5.2018
Stadtverband Mittelrhein (Hrg.), Neun weitere Stolpersteine in Boppard, in: grueneboppard.de vom 9.5.2018
Claudia Rometsch (Red.), Das Mahnmal zu unseren Füßen, in: evangelisch.de vom 22.10.2022 (betr: Bad Salzig)