Bovenden (Niedersachsen)
Der Flecken Bovenden ist eine Kommune mit derzeit ca. 14.000 Einwohnern (incl. Ortsteile) im südniedersächsischen Landkreis Göttingen nur wenige Kilometer nördlich der Kreisstadt gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Göttingen', aus: ortsdienst.de/niedersachsen/goettingen).
Zu Beginn des 19.Jahrhunderts war die israelitische Gemeinde Bovenden die größte auf heutigem südniedersächsischen Gebiet und zugleich auch eine der zahlenmäßig stärksten in der damaligen Landgrafschaft Hessen-Kassel.
Früheste urkundliche Belege für die Anwesenheit von Juden im Flecken Bovenden in der Nähe von Göttingen liegen aus der ersten Hälfte des 15.Jahrhunderts vor. Die Erwähnung von Juden in Bovenden zu diesem Zeitpunkt ist für den norddeutschen Bereich der älteste bekannte Beleg für die Anwesenheit von Juden auf dem Lande.
Die Bildung einer Gemeinde im Hauptort der Herrschaft Plesse - von 1571 bis 1816 eine hessisch-kasselsche Exklave - erfolgte aber vermutlich erst in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg.
Bereits um 1680 soll auf dem Kamm des Lohberges (nordöstlich der Ortschaft) ein jüdischer Friedhof angelegt worden sein; allerdings stammt dessen erstmalige urkundliche Erwähnung erst aus den 1780er Jahren.
Ihre erstmals 1711 erwähnte Synagoge besaß die Bovender Judenschaft in einem zuvor als Scheune genutzten Gebäude, das von der Gemeinde zunächst angemietet und 1810 gekauft wurde. In einem Teil des Gebäudes war die jüdische Schule untergebracht.
Außer kurzzeitigen Vakanzen lassen sich die Namen der jüdischen Lehrer bis ca. 1750 zurückverfolgen; wegen der geringen Besoldung war die Lehrerstelle einem häufigen Wechsel (bis auf wenige Ausnahmen) unterworfen. Neben der religiösen Unterweisung der jüdischen Kinder waren die Lehrer auch als Vorbeter und Schächter tätig. Um 1870 wurde die Religionsschule in eine jüdische Elementarschule umgewandelt, die bis 1909 bestand (wegen Schülermangels aufgegeben).
In den benachbarten, heute zum Flecken gehörenden Dörfern ließen sich im 17./18. Jahrhundert ebenfalls vereinzelt jüdische Familien nieder, dauerhaft jedoch erst ca. 1800 im benachbarten Angerstein (Nörten).
Bovenden war seit 1845 dem Bezirksrabbinat Hildesheim angeschlossen.
Juden in Bovenden:
--- um 1625 ................... ca. 50 Juden,
--- um 1660 ....................... 8 jüdische Familien,
--- um 1780 ....................... 15 " " (ca. 80 Pers.),
--- 1809 .......................... 75 Juden,
--- 1833 .......................... 89 “ ,
--- 1858 .......................... 42 “ ,
--- 1885 .......................... 34 “ ,
--- 1901 .......................... 23 “ ,
--- 1910 .......................... 14 “ ,
--- 1925 .......................... 8 “ ,
--- 1933 .......................... 7 “ (in zwei Familien),
--- 1939 .......................... 8 “ .
Angaben aus: Eike Dietert, Die Geschichte der Juden in Bovenden
Mehrheitlich bestritten die Juden Bovendens ihren Lebensunterhalt mit dem Kleinhandel. Sie lebten zumeist in ärmlichen Verhältnissen.
1830/1840 hatte die Zahl der Juden in Bovenden ihren Höchststand erreicht; bis zum Ersten Weltkrieg ging diese Zahl dann stetig zurück. Nach 1918 mussten die Gottesdienste eingestellt werden, und 1922 wurde das Synagogengebäude veräußert. Der Käufer nutzte es zu landwirtschaftlichen Zwecken; in den 1960er Jahren erfolgte der Abriss.
Anfang der 1930er Jahre lebten in Bovenden nur noch zwei jüdische Familien. Ihre Angehörigen wurden 1942 deportiert.
Als einziger der aus Bovenden Deportierten überlebte Max Lilienthal die Shoa. Er kehrte nach Kriegsende hierher zurück und engagierte sich in der wiedererstandenen Synagogengemeinde in Göttingen, deren Vorsteher er in den 1950er Jahren war.
Der jüdische Friedhof in Bovenden - auf dem Kamm des Lohberges gelegen - besitzt heute noch 63 Grabstellen mit 54 Grabsteinen, die teilweise aus dem 18. Jahrhundert stammen. Die Grabmale sind stark von der Verwitterung gezeichnet und von der umgebenden Vegetation eingenommen; auf fast allen ist die Inschrift kaum bzw. nicht mehr lesbar.
Jüdischer Friedhof (Aufn. Dehio, 2011 und B. Arand, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0/4.0) und zwei Grabstelen (Aufn. Dt. Stiftung Denkmalschutz)
Auf Initiative von Schüler/innen der IGS Bovenden wurden 2017 vor dem Haus „Auf dem Thie“ 8 vier sog. „Stolpersteine“ verlegt, die Angehörigen der jüdischen Familie Jacobs gewidmet sind; drei von ihnen kamen im Ghetto Warschau gewaltsam ums Leben.
Aufn. Hypfa, 2020, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0
Weitere Informationen:
Ralf Busch, Die jüdischen Einwohner Bovendens vom 17. bis 19.Jahrhundert, in: "Plesse-Archiv", Heft 6/1971, S. 111 ff.
Brigitte Fährmann, Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Juden in Bovenden im 19.Jahrhundert, in: "Plesse-Archiv", Heft 6/1971, S. 123 - 146
Ralf Busch, Beiträge zur Geschichte der Bovender Judengemeinde, in: "Plesse-Archiv", Heft 18/1972, S. 123 - 146
Flecken Bovenden (Hrg.), Geschichte der jüdischen Gemeinde Bovenden, Göttingen 1972
Brigitte Kern, Der jüdische Friedhof in Bovenden, in: "Plesse-Archiv 1982", S. 123 - 163
Rainer Sabelleck, Chronik der jüdischen Schule in Bovenden, in: "Plesse-Archiv", Heft 27/1991, S. 99 - 143
Eike Dietert, Die Geschichte der Juden in Bovenden, Sonderdruck aus: "Plesse-Archiv", Heft 28/1992, S. 321 - 518, Hrg. Flecken Bovenden, Plesse-Archiv 1992 (oder 1994 ?)
Eike Dietert (Bearb.), Bovenden, in: H. Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 1, S. 244 - 252
Topografie der Erinnerung Südniedersachsen (Hrg.), Bovenden. Jüdisches Leben und Verfolgung, online abrufbar unter: erinnernsuedniedersachsen.de/orte-a-c-bovenden-2.html
Kimberly Fiebig (Red.), Vier Stolpersteine erinnern an jüdische Familien, in: „Göttinger Tageblatt“ vom 4.9.2017
Clemens Herwig (Red.), Jüdisches Leben im Flecken. Nach Recherchen im Unterricht: Schüler sorgen für Gedenksteine in Bovenden, in: "HNA - Hessische Niedersächsische Allgemeine" vom 5.9.2017
Auflistung der in Bovenden verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Bovenden
Flecken Nörten-Hardenberg (Hrg.), Von Angerstein nach Riga, des Sterbens wegen – Versuch einer Spurensuche, online abrufbar unter: noerten-hardenberg.de
N.N. (Red.), Gruppe will den jüdischen Friedhof in Bovenden vor dem Verfall retten – und braucht dringend Geld, in: „Göttinger Tageblatt – Eichsfelder Tageblatt“ vom 1.2.2023